Wer war schuld am Tod Jesu?

von Stefan Meißner

 


Kruzifixe im Zisterzienserkloster im elsässischen Molsheim

1. Die Juden als Christusmörder?

Am Freitag, dem 14. Nissan, irgendwann um das Jahr 30 - so genau läßt sich das nicht mehr feststellen - starb in Jerusalem ein galiläischer Jude Namens Jeschua ha-Nosri, zu deutsch: Jesus von Nazareth. Als Pilger war er gekommen, um wie jedes Jahr zum Passafest am Tempel das gebotene Opfer darzubringen. Doch dieses mal ging es um mehr als nur um Opfer: Es ging um das Reich Gottes, dessen Anbruch unmittelbar bevorstehen mußte. Hier im geistigen und politischen Zentrum des Judentums mußte die Entscheidung fallen. Wenn es jetzt nicht kam, wann dann? Hier konnte er auf ein großes Publikum hoffen: Zehntausende hielten sich während des Festes in der Stadt auf, mehr als die Stadt Einwohner hatte.

Vielleicht war seine Mission in Galiläa in eine Krise geraten. Manches deutet darauf hin, daß er in seiner Heimat mehr und mehr auf Ablehnung stieß. So sieht es aus, als habe Jesus seinen Jerusalemaufenthalt als Abschluß seiner Wirksamkeit gesehen. Als er sich auf den Weg machte, stand ihm die Möglichkeit seines gewaltsamen Endes wohl schon vor Augen. Auch wenn er nicht bewußt den Tod suchte, damit rechnen mußte er jedenfalls.

Warum mußte dieser Mann sterben? Was warf man ihm vor? Und: Wer war schuld an seinem Tod? Oder besser: Wer war dafür verantwortlich? Denn Schuldzuweisungen hat es in der Geschichte schon zu viele gegeben - meist mit blutigen Konsequenzen für die Beschuldigten. Jahrhunderte lang hat man die Juden als Christusmörder aus ihren Häusern gejagt, sie totgeschlagen in der Meinung, so den Tod Jesu an ihnen zu rächen. Die Bibel ist nicht ganz unschuldig an dieser fatalen Geschichte. Das Neue Testament entsteht in einer Phase der Abnabelung des Christentums von seiner jüdischen Mutterreligion. Und wer die Abnabelung seiner eigenen Kinder in der Pubertät schon mitgemacht hat, weiß etwas von den schmerzhaften Konflikten und gegenseitigen Kränkungen, die damit verbunden sein können.

Stets werden in den Evangelien die Juden be- und die Römer entlastet, wenn es um den Tod Jesu geht: Der römische Statthalter Pilatus, sonst als skrupelloser Machtpolitiker bekannt, der mit Unruhestiftern kurzen Prozeß zu machen pflegte, bekommt plötzlich Bedenken: Er kann gegen den Mann aus Nazareth angeblich nichts Belastendes finden. Als er schließlich dem Druck der johlenden Menge nachgibt, wäscht er sich demonstrativ die Hände in Unschuld: "Ich bin unschuldig an seinem Blut!" (Mt 27,24b). Die Tendenz der Passionsberichte ist auffällig: Die Römer haben mit der Kreuzigung Jesu nichts zu tun. Die Juden waren es, die sie betrieben. Doch die geschichtlichen Tatsachen sprechen eine andere Sprache. Um ihnen das zu zeigen, kehren wir einen Moment dorthin zurück, wo alles begann: nach Galiläa.


2. Streit um das Gesetz?

Im Unterschied zu Jerusalem stand Galiläa noch nicht unmittelbar unter römischer Verwaltung, sondern wurde von Herodes Antipas, einem jüdischen Klientelfürsten mit bestimmten, von den Römern eng abgesteckten Befugnissen regiert. Glaubt man den Evangelien, dann ist der Konflikt, der Jesus schließlich das Leben kostete, schon hier in der Gegend um den See Genezareth ausgebrochen. Als Jesus in der Synagoge von Kapernaum einen Mann mit einer "verdorrten Hand" geheilt hatte, so berichtet das Markus-Evangelium, da gingen die Pharisäer hinaus "und hielten alsbald Rat über ihn mit den Anhängern des Herodes, wie sie ihn umbrächten." (Mk 3,6).

Worum ging es da? Offensichtlich um einen Verstoß gegen das Sabbatgebot. Zwar durfte man nach jüdischem Brauch auch am Sabbat heilen, wenn Gefahr für Leib und Leben bestand. Aber darauf fehlt in dieser Geschichte eben jeder Hinweis. Warum hat er es aber doch getan - gegen jedes Recht? Offenbar wollte er den Leuten verdeutlichen, wie er sich das "Reich Gottes" vorstellte: Heil - ganz konkret, bis in die körperliche Dimension hinein! Die dabei waren, verstanden sofort, was er meinte: Der Sabbat als ein Stück vorweggenommenes Gottesreich. So wird es bald alle Tage sein! Sicher eine frohe Botschaft für all die Zerschundenen, die Krüppel und Außenseiter, die ihm in Scharen folgten und deren Hoffnung er verkörperte. Die Vertreter des religiösen und politischen Establishments hingegen hatten wenig Sinn für solche Aktionen. Auch sie konnten sich gewiß Besseres vorstellen als die oft triste Gegenwart, aber wenn es eine bessere Zukunft gab, dann käme sie nur durch mehr, nicht durch weniger Achtung vor dem Gesetz.

Szenen wie diese könnten den Eindruck erwecken, als habe Jesus bewußt und systematisch gegen das Gesetz verstoßen und so den Zorn der Mächtigen auf sich gezogen. Tatsächlich ist solches in der Vergangenheit oft behauptet worden. Doch um ein todeswürdiges Verbrechen handelte es sich bei einer solchen Übertretung kaum. Schon gar nicht läßt sich daraus eine grundsätzliche Gesetzeskritik Jesu ableiten. An vielen Stellen in den Evangelien begegnen wir Jesus als einem frommen Juden, der die Tora, die Weisungen Gottes vom Sinai, wie selbstverständlich befolgt. An einigen Punkten scheint er sie gegenüber der Tradition sogar noch verschärft zu haben. Denken sie nur an die strengen Maßstäbe, die er in der Bergpredigt an seine Jünger anlegt! Mit seinem "Ich aber sage euch...", stellt er kein neues Gesetz auf, sondern bringt es im Gegenteil erst richtig zur Geltung.

So wird man alles in allem nicht behaupten können, daß es das Gesetz war, um dessen willen man Jesus kreuzigte. Kontroverse Ansichten über seine richtige Auslegung waren im Judentum jener Zeit ohnehin Gang und Gäbe. Aber Ketzerhüte wurden deshalb noch lange nicht verteilt. Überhaupt wird man damit rechnen müssen, daß ein Teil der Streitgespräche in den Evangelien erst lange nach dem Tod Jesu durch die christlichen Gemeinden gebildet worden sind. Diese projizierten ihre eigenen, oft immer noch innerjüdischen Konflikte in die Zeit Jesu zurück. Und schließlich: Selbst wenn man die Streitgespräche für historisch hält - mit seiner Hinrichtung dürften die Pharisäer kaum etwas zu tun gehabt haben. Es sind andere Gruppierungen, die in der Passionsgeschichte die Drähte ziehen. Die Antwort auf unsere Frage wird also doch in Jerusalem zu suchen sein.


3. Der Messiasanspruch?

Wenn sich Jesu Einzug in Jerusalem wirklich so abspielte, wie Markus es berichtet, dann drückt sich hier möglicherweise ein massiver Messiasanspruch aus: Jesus betritt auf einem Esel reitend die Stadt, ganz wie es der Prophet Sacharia vom kommenden Gesalbten vorhergesagt hatte. Auch der Empfang der Leute ist wahrhaft königlich: "Hosianna! Gelobt sei, der da kommt im Namen des Herrn!", rufen sie. "Gelobt sei das Reich unseres Vaters David, das da kommt. Hosianna in der Höhe!" (Mk 11,9). Hat Jesus diesen Einzug bewußt inszeniert, um es auch dem Letzten klar zu machen: "Ich bin der Messias"?

Auch hier sind Zweifel angebracht: Ist es denkbar, daß ihm die gleichen Menschen, die ihn wenige Tage später ans Kreuz lieferten, einen solch triumphalen Empfang bereiteten? Hatte man in der Hauptstadt überhaupt schon Kunde erhalten von diesem galiläischen Wanderprediger oder ist es nicht viel wahrscheinlicher, daß er dort noch ein unbeschriebenes Blatt war. In Zeiten ohne Massenmedien flossen die Informationen noch langsamer als heute, wo wir jeden abend Nachrichten aus aller Welt serviert bekommen. Aber was mich noch weniger überzeugt ist die theatralische Aufmachung dieses Einzugs. Ich finde das paßt einfach nicht zu diesem einfachen Mann vom Land, der immer hinter seiner Botschaft zurücktrat, die hieß: "Das Reich Gottes ist nahe!"

Ob Jesus sich selbst als Messias ausgegeben hat, ist eine schwierige, kontrovers diskutierte Frage der neutestamentlichen Forschung. Die neutestamentlichen Schriften verkündigen ihn jedenfalls als solchen. "Christus", die griechische Übersetzung für "Messias", wird schon bald nach Jesu Tod zu seinem wichtigsten Hoheitstitel. Jesus Christus - das klingt wie Vor- und Zuname, ist aber in Wirklichkeit eine Bekenntnisformel, die besagt: Jesus ist der Messias.

Um so überraschender, daß bis auf wenige Ausnahmen Jesus selbst sich nirgends als Messias bezeichnet. Im Gegenteil: Als Petrus den Christustitel an ihn heranträgt, gebietet er ihm zu schweigen. Was paßte ihm nicht an dieser Bezeichnung? Vielleicht die allzu weltlichen Hoffnungen, die sich mit ihm verbanden? Die Römer aus dem Land zu werfen und das Reich Davids zu erneuern - dazu war er nicht gekommen. Gerade das aber verband sich mit der jüdischen Messiaserwartung: ein massiver politischer Herrschaftsanspruch. Sein Reich hingegen, das betonte er immer wieder, war nicht von dieser Welt.

Zu dieser Reserviertheit Jesu gegenüber dem Messiastitel will nun gerade das Verhör vor dem Hohen Rat (Mk 14,53-65) so gar nicht passen: Da wird Jesus vom Hohepriester, in dessen Palast die Szene spielt, gefragt: "Bist du der Christus, der Sohn des Hochgelobten?" und Jesus antwortet scheinbar eindeutig: "Ich bin´s." Doch worauf bezog sich seine Zustimmung: auf den Christus- oder Sohn-Gottes-Titel? Das muß offen bleiben! Als wollte Jesus die Verwirrung komplett machen, fährt er fort, indem er einen dritten Titel in die Diskussion einführt: "Ihr werdet sehen den Menschensohn sitzen zur Rechten der Kraft und kommen mit den Wolken des Himmels" (14,62).

Fast noch wichtiger eine weitere offene Frage: Warum reagiert der Hohepriester nun so heftig, daß er sein Kleid zerreißt und Jesus der Gotteslästerung bezichtigt. Meine Vermutung: Es ist keiner der drei in Frage kommenden Titel, der ihn zur Weißglut treibt, sondern vielmehr Jesu Anspruch, er werde zusammen mit Gott zum Endgericht erscheinen. Nichts anderes dürfte Jesus nämlich mit seiner etwas verklausulierten Formulierung gemeint haben. Damit kehrt Jesus die aktuelle Verhörsituation um: Der sich jetzt vor den jüdischen Machthabern rechtfertigen muß, wird dereinst über sie zu Gericht sitzen. Und ebenfalls anstößig für jüdische Ohren: Daß ein Normalsterblicher von sich behauptet, "zur Rechten Gottes" sitzen zu dürfen. Solches traute man vielleicht einem Abraham, einem Mose oder sonst einem der Väter Israels zu, aber so etwas aus dem Mund eines dahergelaufenen Galiläers!

Sie sehen: Man muß den Grund für das Todesurteil des Hohen Rates nicht unbedingt darin suchen, daß Jesus von sich als dem Messias gesprochen hat. Ich bin eher skeptisch, ob er solches je getan hat. Selbst wenn er es getan haben sollte, wäre fraglich, ob das allein den Straftatbestand der Gotteslästerung erfüllte. Man hätte Jesus wohl als einen der vielen harmlosen Spinner angesehen, die sich in diesen Tagen dem jüdischen Volk als der erwartete Heilskönig anboten. Es muß also doch noch etwas anderes als ein möglicher Messiasanspruch gewesen sein, der zu Jesu Kreuzigung führte. Einen Hinweis darauf finden wir in eben dem selben Text vom Verhör vor dem Hohen Rat: Es ging um Jesu Infragestellung des Tempels.


4. Ein neuer Tempel?

"Und einige standen auf und gaben falsches Zeugnis ab gegen ihn und sprachen: Wir haben gehört, daß er gesagt hat: Ich will diesen Tempel, der mit Händen gemacht ist, abbrechen und in drei Tagen einen anderen bauen, der nicht mit Händen gemacht ist" (Mk14,57+58). Der Evangelist Markus, der diesen Bericht geschrieben hat, spricht zwar von falschen Zeugen, die den Vorwurf vorbrachten. Die Parallelüberlieferung bei Johannes bestätigt ihn aber indirekt (2,19) und auch das, was wir sonst über Jesu Haltung zum Tempel wissen, bietet Anlaß genug, um ihm dafür den Prozeß zu machen.

Diese Haltung zum Tempel ist nicht einfach als Ablehnung zu charakterisieren. Im Gegenteil: Schon als Junge kommt er offenbar regelmäßig zu den Wallfahrtsfesten dort hin, um das gebotene Opfer zu bringen und mit den Schriftgelehrten zu diskutieren. Auch der erwachsene Jesus scheint dem Tempel durchaus positiv gegenüber zu stehen, aber ihn stört, je länger desto mehr, daß man aus diesem Bethaus eine Räuberhöhle gemacht hat. Geldwechsler hatten hier ihre Stände aufgestellt, wo die Pilger ihre mitgebrachten Drachmen gegen tyrische Schekel eintauschen konnten - die einzige Münze, die im Tempelbezirk akzeptiert wurde, weil sie keine Darstellung des Kaisers enthielt. Daneben gab es Händler, die Opfertiere anboten. An und für sich eine sinnvolle Einrichtung: So mußte etwa ein galiläischer Wallfahrer nicht den ganzen beschwerlichen Weg bis zur Hauptstadt ein Tier vor sich her treiben, sondern er kaufte einfach eines an Ort und Stelle.

Man kann dieses chaotische Treiben vielleicht vergleichen mit dem Dom von Florenz oder der Kathedrale von Chartres, wo unzählige Fremdenführer aus aller Welt gleichzeitig ihre kunsthistorischen Weisheiten absondern, wo lautstark Postkarten und Dias angeboten werden, so daß die Kirche ihre Funktion als Sakralraum fast einbüßt. Es ist Jesu erste "Amtshandlung" in Jerusalem nach seinem Einzug in die Stadt, den Tempel von all diesem Plunder zu befreien. Er wirft die Tische der Wechsler um und treibt die Händler davon - nicht, weil er den Tempel verabscheute, sondern gerade weil er ihm wichtig war als Ort der Anbetung und des Opfers.

Wenn die Vorwürfe der Zeugen vor dem Hohen Rat stimmen, dann hat er nicht einfach den Abriß des alten, sondern die Errichtung eines neuen Tempels angekündigt, der nicht wie der alte von Menschenhand, sondern von Gott gemacht ist. Diese Erwartung eines neuen Tempels ist aber im Rahmen der jüdischen Endzeiterwartung ein durchaus geläufiges Motiv. Sie ist Ausdruck seiner intensiven Naherwartung: Jetzt wird Gott in den Gang der Geschichte eingreifen und alles neu machen. Die aber am alten System gut verdienten, waren alles andere als begeistert, daß da einer ihr Geschäft vermasseln wollte.

Vielleicht hatte Jesus die immense wirtschaftliche Bedeutung des Tempels unterschätzt. All diese Pilgergäste kamen nur um seinetwillen. Hier fühlten sie sich Gott so nahe wie sonst nirgends. Nicht nur Geldwechsler und Viehhändler, sondern auch Gasthäuser und Schenken, die die Pilger bewirtetet, lebten von ihm. Priester, Tempelsänger und Bauhandwerker ebenso. Es gab also kaum jemanden in Jerusalem, der ein Ende des Tempels herbeigesehnt hätte - selbst wenn man ihnen einen neuen in Aussicht gestellt hätte. Zu viele verdankten ihm ihr Auskommen.

Vor allem die Hohepriester und Schriftgelehrten fürchteten um ihre Pfründe und "trachteten danach, wie sie ihn umbrächten; sie fürchteten sich nämlich vor ihm; alles Volk verwunderte sich über seine Lehre" (Mk 11,18). Es wird also ein unmittelbarer Zusammenhang hergestellt zwischen der sog. Tempelreinigung und der Verurteilung. Warum es nicht gleich zur Verhaftung durch die stets gegenwärtige Tempelpolizei kommt, hat der Evangelist zutreffend festgehalten: Die Verantwortlichen fürchteten einen Aufruhr unter den Tausenden von Festgästen (Mk 14,2). Man wartete einen günstigeren Augenblick ab, um Jesus zu verhaften. Und der kam dank der Unterstützung eines abtrünnigen Jüngers: Judas Iskariot. Vielleicht einer, der aus enttäuschter Hoffnung die Seiten wechselte und zum Gegner überlief.


5. Politischer Aufruhr?

Wir haben bisher nur religiöse Motive ins Auge gefaßt als mögliche Gründe für die Hinrichtung Jesu: der Streit um das Gesetz und die Messiasfrage. Beides hat - so habe ich ausgeführt - wohl kaum eine Rolle gespielt. Wichtiger war schon der Vorwurf, den Tempel in Frage gestellt zu haben. Das mußte Juden verunsichert haben - vor allem solche, die von ihm lebten. Was aber war mit den Römern? Hielten sie sich wirklich so bedeckt, wie das die Evangelien glauben machen wollen? Wohl kaum! Die letzte Verantwortung für den Tod Jesu - so wird man heute urteilen müssen - lag bei den Römern. Dafür spricht zunächst die Hinrichtungsart: Kreuzigung war eine typisch römische Strafe, bei den Juden waren Steinigung oder Enthauptung "beliebter". Außerdem stand Judäa seit dem Jahr 6 n.Chr. unmittelbar unter röm. Verwaltung. Die Juden besaßen hier wahrscheinlich keine Hinrichtungskompetenz (Joh 18,31; Talmud), mit Ausnahme vielleicht des Tempelareals (aber das ist unsicher).

Doch was hatten die Römer Jesus vorzuwerfen? Warum gaben sie dem Drängen der Tempelaristokratie nach? Wir wissen von anderen Hinrichtungen, daß man den Verurteilungsgrund auf einer Tafel festhielt, die man über das Kreuz hängte: In der Tat berichten die Evangelien von einer solchen. Der lateinische (!) Text, den sie enthielt, lautete: "Jesus von Nazareth, König der Juden". Das weist eindeutig auf ein politisches Motiv hin. Dazu paßt die Frage, die Jesus von Pilatus gestellt bekam: "Bis du der König der Juden?" Das war das einzige Interesse, das die Römer an dieser Affäre hatten: Daß es ruhig blieb im Volk, daß es nicht wieder zu Ausschreitungen kam wie schon öfters in diesem widerspenstigen Teil des Reiches.

Es war noch gar nicht so lange her, da hatte ein gewisser Judas die Juden gegen die von den Römern durchgeführte Steuererhebung aufgebracht. Dabei spielte neben sozialen Motiven sicher auch eine ganz ausgeprägte Reich-Gottes-Erwartung eine Rolle. Die Fremdherrschaft von Heiden im Heiligen Land widersprach in den Augen der Aufrührer der Königsherrschaft Gottes, der sie (notfalls mit Gewalt) zum Durchbruch verhelfen wollten. Wie Jesus kam dieser Rebell aus Galiläa, wie er zog er predigend durch das Land, gefolgt von einer beachtlichen Anhängerschaft. Wenn man diesen Judas beseitigte, lag es da nicht auch nahe, mit Jesus kurzen Prozeß zu machen?

"Wie nun", werden sie sich fragen, "paßt das zu der Auskunft, Jesus habe gar keine politischen Ambitionen gehabt." Ganz recht! Jesus selbst war wohl kein Rebell, verstand das Reich Gottes eher in einem überweltlichen Sinn. Daß er zum bewaffneten Aufstand aufrief, halte ich für undenkbar, hat er doch an anderer Stelle Feindesliebe und Gewaltverzicht gepredigt. Doch schließt das eben noch lange nicht aus, daß andere, darunter auch einige seiner Jünger, politische Erwartungen an ihn herantrugen.

Es gibt Hinweise, daß sich unter seinen Anhängern auch einige antirömische Widerstandskämpfer befanden. So klingt möglicherweise in dem Namen Judas Iskariot das lateinische Wort sikarii an, was man mit Dolchträger übersetzen kann. Diese Dolchträger bildeten die Kerntruppe der Aufständischen von Massada im jüdisch-römischen Krieg. Gehörte Judas auch zu diesen Leuten? Verriet er deshalb seinen Herrn, weil er sich seinem revolutionären Ansinnen entzog? Ein weiterer Jünger Jesu nennt sich Simon Zelotes. Auch die Zeloten, wörtlich "Eiferer", gehören zum bewaffneten antirömischen Widerstand im ersten Jahrhundert. War jener Simon einer von ihnen?

Wenn an diesen Vermutungen etwas dran ist, dann wird ein Stück weit plausibel, warum man diesen Jesus von Nazareth als Königsanwärter zum Tod am Kreuz verurteilte, ohne daß dieser selbst je einen unmittelbar politischen Anspruch erhoben hätte.


6. Alles meine Schuld?

Der Rest ist schnell erzählt. Nach seiner Verurteilung durch Pilatus wurde Jesus von römischen Soldaten zu einem stillgelegten Steinbruch geführt, den die Bibel "Golgatha", zu deutsch "Schädelstätte" nennt. Er trug auf dem Weg wahrscheinlich nicht das ganze Kreuz, sondern nur den Querbalken, den man am Ende des Kreuzweges nur noch auf den vorbereiteten Pfahl hochziehen mußte. Damit die Nägel nicht ausrissen, die man ihm durch Unterarme und Knöchel schlug, befestigte man noch einen Sitzpflock und wohl kaum ein Fußbrett wie das in der christlischen Kunst oft zu sehen ist.

Nach alten Brauch konnten die Henker unter sich aufteilen, was der Verurteilte am Leib trug - im Falle Jesu warfen sie das Los um sein Gewand. Die Todesursache dürfte Kreislaufversagen oder Ersticken gewesen sein. Mit zunehmender Erschöpfung sank der Delinquent nämlich so in sich zusammen, daß das Atmen immer schwerer wurde. Oft zerschlug man dem Todeskandidaten die Unterschenkel, um so seine Qualen zu verkürzen. Bei Jesus wurde das möglicherweise unterlassen (vgl. Joh 19,33). Immerhin reichte man ihm einen mit Essig getränkten Schwamm, der ein leichtes Betäubungsmittel enthielt. Von anderen Opfern ist bekannt, daß sie teilweise noch tagelang in der Hitze schmachteten, gepeinigt von Hunger, Durst und wilden Tieren. Das wenigstens ist Jesus erspart geblieben.

Wer war schuld am Tod Jesu, haben wir gefragt. Haben wir eine Antwort gefunden? Keine eindeutige, befürchte ich. Klar ist: Wenn man einen bestimmten Verantwortlichen sucht, dann war es Pilatus. Er zog es vor, Jesus sterben zu lassen, um selbst politisch zu überleben. Ähnliches könnte man aber auch für die Jerusalemer Tempelaristorkratie sagen, die mit den Römern zusammenarbeitete und ein Interesse an der Erhaltung des Status quo hatte. Einen Prozeß von jüdischer Seite gab es nicht, auch wenn es die Evangelien (v.a. Mt und Mk) teilweise so darstellen (differenzierter Lk und Joh!). Ein solcher Prozeß hätte nämlich an wesentlichen Punkten dem jüdischen Prozeßrecht (Mischna) widersprochen (Nächtliches Verhör, Urteil am ersten Tag, Prozeß an Festtagen, Prozeßort normalerweise Tempel, zwei übereinstimmende Zeugenaussagen). So kann man heute kaum mehr von einer Schuld der Juden sprechen. Das einfache Volk wird mit seiner Hinrichtung kaum etwas zu tun gehabt haben.

Der Tod Jesu hatte viele Ursachen. Vielleicht ist es falsch, überhaupt nach einem Schuldigen zu suchen. Es waren letztlich Spannungen und Konflikte, die Jesus ans Kreuz brachten, unter denen das gesamte jüdische Volk damals litt: den Antisemitismus der römischen Truppen, der vom einfachen Soldaten bis zum Statthalter ging. Spannungen auch zwischen Zentrum und Peripherie, zwischen dem ländlichen Galiläa und der stolzen Metropole Jerusalem. Und Spannungen schließlich zwischen Arm und Reich, den einfachen Fischern, Handwerkern und Tagelöhnern, die in Jesus ihre Hoffnungen setzte und denen, die ihren Besitzstand wahren wollten.

Gibt es ähnliche Konflikte nicht auch heute? Und wie gehen wir mit ihnen um? Sind wir besser als die an der Hinrichtung Jesu unmittelbar beteiligten Juden und Römer? Wohl kaum! Auch wir sind immer wieder bereit, einen Sündenbock zu opfern, um von unserer eigenen Unzulänglichkeit abzulenken. Damit aber haben wir Teil an der Kreuzigung Jesu, die täglich neu stattfindet - überall auf der Welt. So macht auch die präsentische Formulierung einen guten theologischen Sinn: "Wer ist schuld am Tod Jesu?" Die Antwort möchte ich geben mit den Worten Paul Gerhards: "Nun, was du, Herr erduldet, ist alles meine Last. Ich hab es selbst verschuldet, was du getragen hast."

 

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Witerführende Links:

Stefan Meißner: Warum musste Jesus sterben?

Gabriele Gierlich: „Gelitten unter Pontius Pilatus“. Die Gestalt des Pilatus in Geschichte und Legende

 

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