„Gelitten unter Pontius Pilatus“
Die Gestalt des Pilatus in Geschichte und Legende

von Gabriele Gierlich


Pilatus und Christus: Detail aus dem Calvaire von Plougastel-Daoulas

„Was ist Wahrheit?“ lässt der Evangelist Johannes (18,38) Pilatus fragen, als dieser Jesus verhört, und dieselbe Frage könnten wir auch an Pilatus richten. Was ist Wahrheit an der Schilderung seiner Person und seines Handelns in der Passionserzählung? Wer war der Mann, von dem berichtet wird, dass er seine Hände in Unschuld wusch, als es darum ging, Jesus zum Tode zu verurteilen? Wissen wir über ihn nur das, was in den Evangelien steht, oder gibt es über sein Leben außerhalb der Bibel Nachrichten und Zeugnisse?

Außerbiblische Zeugnisse zu Pilatus

In der Tat existiert ein archäologischer Nachweis, der die Existenz des Pontius Pilatus belegt und auch sein Amt als Verwalter der römischen Provinz Judäa bestätigt, das er von 26-36/7 n.Chr. unter Kaiser Tiberius innehatte. Es handelt sich bei diesem Zeugnis um eine Inschrift, die 1961 von einem italienischen Archäologenteam in der Hafenstadt Caesarea entdeckt wurde, in der zur Römerzeit der Gouverneur von Judäa seinen Amtssitz hatte. Obwohl die Inschrift teilweise zerstört ist, kann man den Namen PONTIUS PILATUS und seine offizielle Amtsbezeichnung, die PRAEFECTUS IUDAEAE lautete, eindeutig entziffern.

Über dieses archäologische Zeugnis hinaus existieren neben der Passionserzählung noch außerbiblische, literarische Quellen über die Amtszeit des Pilatus, so dass Pilatus der Praefekt ist, von dem wir die meisten Nachrichten haben, wobei allerdings die außerevangelischen Quellen von Pilatus kein gutes Bild zeichnen. Doch meldet sich hier mit den Juden ausschließlich die Gegenseite zu Wort, so dass man den Wert dieser Aussagen abwägen muss. Sicherlich folgen die beiden jüdischen Autoren Philo von Alexandria und Josephus Flavius, denen wir Nachrichten über Pilatus verdanken, in ihrer Berichterstattung einer bestimmten Tendenz, wenn ihre Zielsetzung auch unterschiedlicher Art ist: Der jüdische Philosoph Philo von Alexandria, ein Zeitgenosse des Pilatus, setzt sich für die Wahrung der jüdischen Rechte im Imperium Romanum ein. Er tut dies dadurch, dass er die römischen Kaiser für die Juden zu gewinnen sucht, indem er ihnen grundsätzliche Judenfreundlichkeit bescheinigt. Den römischen Statthaltern dagegen spricht er eine judenfreundliche Haltung ab. Der zweite Gewährsmann für das Wirken des Pilatus in Judäa, der jüdische Historiker Josephus Flavius, schreibt im 1. Jh. n. Chr. aus der Erfahrung des jüdischen Krieges heraus, der die Zerstörung des Jerusalemer Tempels durch die Römer zur Folge hatte und dadurch die einst freundschaftlich begonnenen Beziehungen zwischen Römern und Juden unwiderruflich beendete.

Doch wird man bei dem fast übereinstimmenden negativen Tenor des Urteils über die Person des Pilatus die Kritik an ihm nicht ausschließlich einem einseitigen Feindbild zuschreiben dürfen. Denn über seine Vorgänger im Amt liegen solche Beschwerden nicht vor. Daraus wird man schließen können, dass an den Klagen über Pilatus zumindest ein wahrer Kern ist, auch wenn wir mit gewissen Übertreibungen und Verzerrungen rechnen müssen. So zitiert Philo von Alexandria einen Brief des Herodes Agrippa an Kaiser Caligula (um 40 n. Chr.), in dem die Gesinnung des Pilatus als „unbeugsam und rücksichtslos hart“ gebrandmarkt wird. In diesem Brief wird darüber hinaus die Situation in Judäa z.Zt. des Pilatus als ein Jahrzehnt beschrieben, in dem Korruption, Übergriffe, Raub, Ausplünderung des Volkes, Mord an Unschuldigen und erschreckende Grausamkeiten an der Tagesordnung waren (Philo, Legatio 299ff.).
Jüdische Quellenzeugnisse erhärten diese allgemeine Charakteristik, indem sie konkrete Beispiele dafür liefern, dass Pilatus auf die religiösen Gefühle der Juden wenig Rücksicht nahm. Bisher hatten die Römer sich eigentlich bemüht, religiöse Provokationen, die politische Konflikte mit den Juden hätten heraufbeschwören können, zu unterlassen, wofür auch die fehlenden Beschwerden über Pilatus´ Vorgänger im Amt ein Indiz sind.

Da es die Religion den Juden verbot, Gott bildlich darzustellen oder auch nur einen Menschen abzubilden, um dem Verdacht der Götzenanbetung zu vermeiden, verzichteten die Römer eingedenk dieser Problematik auf den Münzen, die sie in Judäa prägen ließen, auf figürliche Abbildung. Auch Pilatus hielt sich an diese Vorgabe. Aber er führte zwei neue Motive ein. Er ließ nämlich auf Münzen das simpulum und den lituus prägen. Das simpulum ist im römischen Kult eine Art Schöpfgefäß, mit dem man Wein in eine Opferschale geben konnte, und der lituus ist der Stab der Auguren, einer römischen Priesterschaft, denen die Prophezeiung aus dem Vogelflug oblag. Seit Augustus wird der Augurenstab besonders mit der kaiserlichen Macht und damit auch mit dem Kaiserkult verknüpft, und auf Augustusmünzen im Westen und im Osten spielt der lituus eine große Rolle. Den Namen Augustus, übersetzt: „der Erhabene“, den Octavian seit 27 v. Chr. trug, konnte man auch als Anspielung auf Augur und Augurium deuten.

Die beiden Symbole, die Pilatus für die Münzen wählte, hatten also sowohl einen Bezug zur römischen Religion als auch zum Kaiserkult. Ob die Einführung dieser Symbolik auf den Münzen durch Pilatus als Provokation der Juden gedacht und als Zeichen einer anti-jüdischen Politik anzusehen ist, ist in der Forschung umstritten. Letztendlich kann man nur als Faktum konstatieren: Die Symbole hätten einerseits in der Tat jüdisches Empfinden verletzen können, sie waren aber andererseits so dezent - es waren ja keine figürlichen Darstellungen -, dass es nicht zu jüdischen Protesten gegen diese Münzprägung kam, zumindest ist nichts dergleichen überliefert. Bereits der Vorgänger des Pilatus im Amt des Praefekten hatte den Heroldsstab des Merkur mit gekreuzten Füllhörnern auf Münzen prägen lassen, insofern waren heidnisch-sakrale Symbole nichts generell Neues. Für andere Maßnahmen des Pilatus haben wir allerdings den überlieferten Nachweis, dass sie heftigen Unmut bei den Juden hervorriefen.

Bei einem Zwischenfall ging es um die in Judäa stationierten römischen Truppen. Die Soldaten, die vor allem in Caesarea konzentriert waren, verlegte man üblicherweise zum Überwintern nach Jerusalem. Bei dieser Gelegenheit ließ Pilatus auf den Standarten das Bildnis des Kaisers in die Stadt tragen und dort aufstellen. Bisher hatten die Römer darauf verzichtet, Kaiserbildnisse in Jerusalem aufzustellen. Denn die Religion verbot es den Juden, irgendeinen anderen Gott als Jahwe anzubeten und das Aufstellen von Kaiserbildnissen konnte den Verdacht hervorrufen, der Kaiser werde als Gott verehrt. Auf diese Aktion des Pilatus erfolgte ein Aufstand der Juden. Sie zogen nach Caesarea vor den Amtssitz des Pilatus und forderten ihn auf, die Kaiserbildnisse aus Jerusalem zu entfernen. Nach 7-tägiger Belagerung seiner Residenz durch die Juden, drohte er, jeden zu töten, der nicht friedlich abzöge. Doch als die Juden Mut zeigten und erklärten, sie würden lieber sterben, als die Bildnisse des Kaisers in Jerusalem zu dulden, ließ Pilatus schließlich die Bilder aus Jerusalem entfernen (Ios. Flav. Antiquitates XVIII,3,1; Bellum II,9,2f.).

Ein anderer Verstoß gegen die bisherigen Gepflogenheiten bestand darin, dass Pilatus beim Bau einer Wasserleitung, die über eine Strecke von 36 km Wasser aus einer Quelle nach Jerusalem bringen sollte, Geld zur Finanzierung des Projektes aus dem Tempelschatz abzweigte. Dies verstieß gegen die gesetzliche Zusage Roms, dass die Tempelsteuern unantastbar seien. Pilatus hätte sich aber nur gewaltsamen Zugang zum Tempelschatz verschaffen können, da ihm als Nichtjuden das Betreten des Tempelbezirks verboten war. Die andere Möglichkeit wäre gewesen, sich mit dem Einverständnis des Hohen Rates das Geld des hl. Schatzes anzueignen. Da der jüdische Historiker Josephus, der uns auch von diesem Ereignis berichtet, nichts von einem gewaltsamen Zugriff auf die Tempelgelder durch Pilatus weiß, kann dies nur im Einverständnis mit der hohen jüdischen Geistlichkeit geschehen sein. Dass uns Josephus dies aber verschweigt, mag daran liegen, dass er entweder Pilatus zum Alleinschuldigen machen will oder er sich über die Beteiligung der Hohenpriester im Unklaren war. Nachdem Pilatus auf den Tempelschatz zugegriffen hatte, erhob sich noch eine größere Menge der Juden gegen den Praefekten. Nun wollte dieser den Aufständischen aber nicht mehr nachgeben, mischte römische Soldaten in jüdischer Tracht unter die Menge und ließ sie niederknüppeln, so dass eine große Zahl wehrloser Aufständischer getötet wurde (Ios. Flav. Antiquitates XVIII,3,2; Bellum II,9,4).
Einen weiteren Beleg, dass Pilatus kein Judenfreund war, liefert folgende Episode, die nur bei Philo von Alexandria überliefert ist. Der sonst so mitteilungsfreudige Josephus Flavius erwähnt sie nicht. So soll Pilatus im Herodespalast in Jerusalem vergoldete Schilde angebracht haben, die das Gebäude als dem römischen Kaiser geweiht ausgaben. Wie Philo berichtet, zeigten diese Schilde nichts Figürliches noch sonst etwas Verbotenes, trotzdem kam es zwischen den Juden und Pilatus darüber zum Konflikt. Die Juden mieden allerdings jetzt jede handgreifliche Auseinandersetzung, da sie bisher schlechte Erfahrungen damit gemacht hatten. Sie baten Pilatus, die Schilde wieder zu entfernen oder aber, falls eine Genehmigung des Kaisers für sein Tun vorliege, diese ihnen zu zeigen. Täte er dies nicht, müsse man sich direkt nach Rom wenden. Nach dem Bericht Philos schickten die jüdischen Behörden einen Beschwerdebrief nach Rom an den damals regierenden Kaiser Tiberius. Dieser erteilte dem Pilatus einen Verweis und brandmarkte damit das Vorgehen des Praefekten als Fehlverhalten. Der Kaiser befahl ihm, die Schilde nach Caesarea zu bringen und dort an einem römischen Tempel aufzustellen, der eigens für den Kaiserkult errichtet worden war (Philo, Legatio 299ff.).

Da diese Geschichte doch sehr dem Zwischenfall mit den Kaiserbildnissen auf den Standarten ähnelt, führte dies bereits in der Antike dazu, dass der griechische Kirchenhistoriker Euseb aus beiden Geschehnissen ein Ereignis machte. Auffällig ist auch, dass Josephus Flavius uns diese Episode verschweigt, so dass man in der Tat annehmen kann, hier wird ein und dasselbe Ereignis in verschiedenen Traditionen wiedergegeben. Ob Tiberius überhaupt bei diesem Konflikt für die Juden Partei ergriffen hat, ist fraglich, da seine Intervention nur durch diese Stelle belegt ist. Das persönliche Eingreifen des Kaisers zu betonen, entspräche zumindest Philos Absicht, Tiberius als Judenfreund zu präsentieren und ihn für alle nachfolgenden Kaiser als Vorbild hinzustellen.

Ein letzter Vorfall, von dem uns Josephus Flavius erzählt (Antiquitates XVIII,85), brachte das Fass zum Überlaufen und beendete die Amtszeit des Pilatus. Ein Angehöriger des Volkes der Samaritaner - das Gebiet von Samaria gehörte zur Provinz Judäa - hatte zu einer Prozession auf den hl. Berg Garizim aufgerufen. Diese Prozession zog riesige Menschenmassen an, und Pilatus befürchtete, dass man sich erneut gegen die Römer zusammenrotten werde. Deshalb mobilisierte er das Heer und ließ die Pilger niedermetzeln. Daraufhin wurde Pilatus vom Hohen Rat der Samaritaner beim Statthalter von Syrien angeklagt, der die Oberhoheit über Judäa ausübte und damit der Vorgesetzte des Pilatus war. Der Statthalter glaubte der Argumentation der Samaritaner, dass sie nur einen Pilgerzug veranstalten und keinen Aufstand gegen Rom anzetteln wollten, und berief Pilatus ab. Er sollte nach Rom kommen, um sich vor dem Kaiser zu rechtfertigen. Als Pilatus in Rom ankam, war Kaiser Tiberius bereits tot. Das weitere Schicksal des Pilatus ist unklar und in den Quellen nicht dokumentiert.

Angesichts des unklugen Verhaltens des Pilatus muss sich die Frage stellen, warum die römische Staatsmacht Pilatus so lange hat gewähren lassen, ohne einzuschreiten. Für die Absetzung des Pilatus zeichnete letztendlich auch der Statthalter von Syrien verantwortlich und nicht Kaiser Tiberius. Nur bei der Begebenheit mit den vergoldeten Schilden soll der Kaiser nach dem Bericht des Philo persönlich eingegriffen haben. Dass man Pilatus gewähren ließ, mag nicht zuletzt mit der Politik des Tiberius zusammenhängen. Dieser wollte die Provinzverwalter so lange wie möglich auf ihrem Posten belassen, da er der Überzeugung war, eine zu kurze Amtszeit könnte die Begierde der Statthalter nach persönlicher Bereicherung anstacheln, um in ihrer knapp bemessenen Amtszeit das Optimale aus ihren Provinzen herauszuholen. Doch muss man in Pilatus auch einen äußerst romtreuen und loyalen Praefekten sehen, der zwar nicht sehr klug handelte, aber durchaus im Sinne der Staatsmacht agierte. Was den Juden an der Amtsführung des Pilatus missfiel, das erregte nämlich nicht zwangsläufig bei den Römern Anstoß. Der römische Historiker Tacitus beurteilt in seinem Geschichtswerk die allgemeine Lage in Judäa unter Tiberius als ruhig (Historien V,9). Die Juden galten den Römern offenbar als keine sehr geschätzten und beliebten Untertanen, und der jüdischen Religion brachte man wenig Verständnis entgegen. So haben wir auch Nachricht, dass Tiberius zu antijüdischen Maßnahmen gegriffen hat. Im Jahre 19 wurden die Juden, die in Rom lebten, nämlich wegen umfangreicher Missionstätigkeit aus der Hauptstadt vertrieben. Diese Tatsache korrigiert das Bild des judenfreundlichen Tiberius, wie es uns Philo zeichnet. Philo macht im Gegenzug für die antijüdische Politik des römischen Staates den Praetorianerpraefekten des Kaisers, Seian, verantwortlich, der die Amtsgeschäfte in Rom übernommen hatte, nachdem sich Tiberius einige Zeit von den Regierungsaufgaben zurückgezogen hatte. Doch im Jahre 19, als die Juden aus Rom vertrieben wurden, hatte noch Tiberius das Sagen, eine Tatsache, die Philo ignoriert. In seinem Bestreben, die Kaiser zu Judenfreunden zu erklären, macht er Seian, der auch später bei Tiberius in Ungnade fiel und hingerichtet wurde, zum Alleinschuldigen.

Pilatus in der Bibel

Die außerbiblischen Zeugnisse, die uns über Pilatus und seine Amtszeit unterrichten, hätten ihm sicher keinen Platz in der Nachwelt beschert und ihm einen solch hohen Bekanntheitsgrad verschafft, wenn nicht unter seiner Amtstätigkeit Jesus zum Tode verurteilt worden wäre. Die Frage ist also: Welche Rolle spielte Pilatus bei der Verurteilung Jesu? Wer trug letztlich die Verantwortung am Tode Jesu: Die Juden oder die Römer? Nachdem Jesus festgenommen und offiziell vor den Hohen Rat gebracht worden war, berichten die Evangelisten Matthäus und Markus, dass der Hohe Rat nach der Befragung Jesu ein einstimmiges Urteil fällte, das ihn eindeutig für schuldig befand und ihn zum Tode verurteilte (Mt.26,66; Mk.14,64). Dies hört sich so an, als hätten die Juden tatsächlich über die Kapitalgerichtsbarkeit verfügt. Doch lesen wir bei Johannes etwas anderes. Nachdem der Hohe Rat Jesus an Pilatus überstellt hat, will Pilatus nach dem Evangelienbericht, Jesus nicht hinrichten lassen, weil er keine Schuld an ihm findet. Er wendet sich deshalb an die Juden, die Jesus zu ihm gebracht haben, und fordert sie auf, Jesus nach ihrem Gesetz zu richten. Doch die Juden erwidern darauf, dass es ihnen nicht gestattet sei, jemanden hinzurichten (Ioh. 18,31).
Und diese Antwort scheint die wirkliche Situation widerzuspiegeln. Denn die Römer haben in ihrem Machtbereich die Kapitalgerichtsbarkeit nicht aus der Hand gegeben. Beispiele aus anderen Provinzen belegen dies, und gerade auch im Hinblick auf die Neuschaffung der Provinz Judäa im Jahre 6 n. Chr. hören wir explizit, dass der Praefekt das ius gladii, die Kapitalgerichtsbarkeit, besaß. Hinrichtungen durch die Juden, von denen wir auch Kunde haben, waren damit rechtswidrige Strafen. Doch wenn keine Klage dagegen geführt wurde oder in Zeiten, in denen es keinen römischen Amtsträger in Judäa gab, blieb manche diesbezügliche Rechtsübertretung ungeahndet.

Gerade die Kreuzigung war eine im römischen Recht für Rebellen vorgesehene Todesstrafe, bei denen Gefahr bestand, dass sie einen Aufstand der Massen initiierten. Dies war gleichbedeutend mit Hochverrat. Rebellion und damit Hochverrat muss deshalb letztlich als rechtliche Begründung für Jesu Hinrichtung angenommen werden. Ganz deutlich geht dies aus dem Johannesevangelium hervor. In dem Verhör vor Pilatus dreht sich alles um die Frage, ob Jesus der König der Juden sei. Dies ist übrigens nach allen Evangelisten der Gegenstand der Verhandlung vor dem Praefekten. Aber bei Johannes weigert sich Pilatus am hartnäckigsten, Jesus zur Hinrichtung freizugeben. Er tut dies erst, als die Juden ihn entschieden darauf hinweisen, dass er kein Freund des Kaisers sei, wenn er Jesus nicht kreuzigen ließe. Denn sie hätten keinen anderen König als den Kaiser (Ioh. 19,15).

Während es nach dem Bericht der Bibel bei der Verhandlung vor Pilatus um die politische Dimension des Anspruchs Jesu geht, ob er der König der Juden sei, dreht sich das Verhör vor dem Hohen Rat der Juden dagegen um religiöse Belange, um die Tempelweissagung und seinen Messiasanspruch. Vor Pilatus war aber vor allem die Anmaßung des Königtums durch Jesus von Belang und Interesse, nicht die religiösen Gründe. Wenn wir die historische Überlieferung zur Person des Pilatus außerhalb der Evangelien mit den Nachrichten über Pilatus im Neuen Testament vergleichen, stehen wir vor dem Problem, ob das lange Zögern des Pilatus in den Passionsberichten - vor allem bei Johannes -, bis er Jesus den Juden zur Kreuzigung übergibt, mit seinem Charakter, der aus den sonstigen Quellen aufscheint, vereinbar ist. Die außerbiblischen Quellen beschreiben ihn als einen Mann, der in seinen Amtshandlungen überhaupt nicht zögerlich agierte, sondern der ziemlich schnell bereit war, mit Gewalt für Ruhe und Ordnung zu sorgen. Wenn die Juden ihm nun Jesus überstellen, von dem sie behaupten, er wolle die politische Macht über Judäa an sich reißen, ist es unwahrscheinlich, dass Pilatus nicht sofort durchgegriffen hätte. Die Hartnäckigkeit, mit der Pilatus die Hinrichtung Jesu verhindern will, schiebt aber die Hauptschuld den Juden zu. Diese haben zwar die Auslieferung Jesu betrieben, aber die Beteiligung des jüdischen Hohen Rates an der Urteilsfindung ist nicht klar. Denn da Jesus eindeutig nach römischem Recht zum Tode verurteilt wurde, war eine offizielle Beteiligung des Hohen Rates überhaupt nicht geboten.

Nach übereinstimmendem Bericht der Synoptiker fiel Jesu Kreuzigung auf den ersten Tag des Pessachfestes, da sie das letzte Abendmahl zum Pessachmahl erklären, das am Vorabend des Festes eingenommen wurde. Doch müsste man bei einer Vollstreckung des Todesurteils an einem hohen Festtag wie Pessach nicht annehmen, dass es die Römer darauf anlegten, die Juden zu provozieren, indem sie ihren Feiertag nicht achteten und dadurch die religiösen Gefühle der Juden verletzten? Nun wäre eine solche Provokation Pilatus durchaus zuzutrauen, doch von einer solchen kann man in diesem Falle nicht ausgehen. Denn es gibt Zeugnisse, dass die Juden auch am Sabbat und an den Feiertagen in Ausnahmefällen Hinrichtungen erlaubten, wenn Gefahr im Verzug oder die Umstände außergewöhnlich waren. Diese Bedingungen wird man für Jesus geltend gemacht haben. Dafür spricht auch, dass in den Evangelien, die von einem Entschluss der Hohenpriester sprechen, Jesus zu beseitigen, die Hinrichtung am Fest nur deshalb vermieden werden soll, um einen Aufruhr unter dem Volk zu verhindern, das an Pessach, einem Wallfahrtsfest, in großer Zahl nach Jerusalem zum Tempel strömte. Es ist nicht die Rede davon, dass Jesus nicht am Pessachfest hingerichtet werden dürfe, weil dies verboten sei.
Die Ausschmückung des Verhörs vor dem Hohen Rat und die Behauptung, die wir bei Matthäus und Markus wiedergegeben finden, dass ein Todesurteil von den jüdischen Autoritäten gefällt wurde, scheint mir doch letztlich zur Entlastung der Römer und zur Schuldzuweisung an die Juden eingefügt worden zu sein. Dieser Eindruck wird noch dadurch verstärkt, dass es bei Matthäus (27,17), Markus (15,11), Lukas (23,25) und Johannes (18,40) heißt, es sei üblich gewesen, zum Pessachfest einen Gefangenen freizulassen. Die Juden fordern daraufhin bei Pilatus die Freilassung eines Verbrechers namens Barabbas und verlangen Jesus hinzurichten. Außer diesen biblischen Stellen gibt es keinerlei Hinweise, dass eine solche Amnestie Brauch gewesen ist. Die Verantwortung für die Kreuzigung Jesu wird also auch dadurch den Juden zugeschoben. Diese Tendenz, die in den Evangelien bereits aufscheint, findet sich in zahlreichen späteren christlichen Quellen in noch ausgeprägterer Form.

Legendenbildung um Pilatus: Pilatus in der späteren christlichen Literatur und Kunst

Das früheste Zeugnis einer pilatusentlastenden Literatur außerhalb der kanonischen Evangelien, d.h. der kirchlich anerkannten Schriften, haben wir im apokryphen Petrusevangelium vor uns, das etwa 150 n. Chr. entstanden ist. Im Petrusevangelium wird Jesus auf Befehl des Herodes, nicht des Pilatus, gekreuzigt. Pilatus lässt das Grab durch einen römischen Hauptmann bewachen, der schließlich die Auferstehung Jesu bezeugt. Als dies Pilatus zu Ohren kommt, beteuert er seine Unschuld am Blute des Gottessohnes.

Einen weiteren Beleg für eine pilatusfreundliche Tendenz finden wir bei dem christlichen Autor Tertullian ( Ende des 2. Jh.). Er behauptet sogar, dass Pilatus in seinem Herzen heimlich ein Christ gewesen sei (Apol.21,24ff.). Als Beweis führt er ein Schreiben des Pilatus an den Kaiser Tiberius an. Ein solches Schreiben ist uns tatsächlich überliefert. Zwar ist dieses an Kaiser Claudius adressiert, doch war der ursprüngliche Adressat wohl doch Tiberius. Die Verwechslung der beiden Herrscher rührte wahrscheinlich daher, dass sie beide mit vollem Namen Tiberius Claudius Nero hießen. Dieser Brief wurde zum Anlass genommen, das Ende des Pilatus, über das wir ja nichts wissen, auszuschmücken. In einer in das 7. Jh. zu datierenden Schrift mit dem Titel „Die Auslieferung des Pilatus“ ist der Kaiser, als ihn dieser Brief des Pilatus erreicht, entsetzt über das Handeln seines Praefekten und lässt diesen in Fesseln legen und nach Rom bringen. Tiberius sitzt über Pilatus zu Gericht, und im Verhör schiebt Pilatus die Schuld an der Kreuzigung eindeutig den Juden zu. Obwohl auch Tiberius die Juden als Hauptschuldige ausmacht, lässt er den Pilatus doch zum Tode durch Enthauptung verurteilen, weil er sich dem Drängen der Juden nicht widersetzt habe. Nach der Hinrichtung des Pilatus erscheint ein Engel und trägt dessen Haupt in den Himmel, wobei eine Stimme aus den Wolken ertönt, die Pilatus selig preist, weil unter seiner Praefektur, die Weissagung der Propheten in Erfüllung ging. Pontius Pilatus wird also zugestanden, dass er nicht anders handeln konnte, weil nach den Weissagungen des Alten Testamentes der Tod Jesu prophezeit war. Dass die Schrift erfüllt werden müsse, davon ist auch verschiedentlich in den Passionserzählungen die Rede.

Bemerkenswert ist allerdings, dass die Erfüllung der Schrift nur Pilatus zugestanden wird, nicht aber den Juden. Denn man hätte ja auch sagen können, dass das Handeln der Juden schon vorherbestimmt war. Die Rolle des Erfüllungsgehilfen alttestamentlicher Prophezeiungen aber hat man ausschließlich Pilatus zugewiesen. So weiß der Kirchenvater Origines (um die Mitte des 3. Jh.) auch nichts von einer Bestrafung des Pilatus und nimmt dies als Beweis für seine Unschuld an Jesu Tod, die Alleinschuldigen macht er in den Juden aus (Gegen Kelsos II,34).
Folglich könnte man meinen, dass die Christen, die ja von der römischen Staatsmacht im 2. und 3. Jh. verfolgt wurden, die Juden deshalb als Gottesmörder ins Zentrum der Aufmerksamkeit rückten, um Rom nicht als verantwortliche Instanz anzuprangern und damit zu weiteren Christenverfolgungen anzustacheln. Aber die Entlastung des Pilatus und die Belastung der Juden geht weiter in einer Zeit, als das Christentum schon als Staatsreligion etabliert ist. Auch ins Nicäno-konstantinopolitanische Glaubensbekenntnis fand Pontius Pilatus Eingang. Als im Jahre 325 auf dem Konzil von Nicäa um ein einheitliches christliches Credo gerungen wurde, einigte man sich auf folgende Version zum Leiden Jesu: „er hat gelitten, ist am dritten Tage auferstanden und fuhr in den Himmel auf.“ Pilatus wird hier mit keinem Wort erwähnt. Auf dem 381 einberufenen Konzil von Konstantinopel taucht zum ersten Mal der Name des Pilatus auf. „Gekreuzigt unter Pontius Pilatus“ heißt es dort. Aber in welcher Form wird Pilatus hier erwähnt? Die Formulierung „unter Pontius Pilatus“ ist im Grunde nur eine Zeitangabe, d.h. das Ereignis der Kreuzigung fand unter, also z.Zt. der Regierung des Pilatus, statt. Die Verantwortung wird dem Pilatus dadurch nicht klar und deutlich aufgebürdet. Dass die Nennung des Pilatus im Credo nur der zeitlichen Einordnung des Kreuzestodes Jesu dienen soll, dies stellt auch der lateinische Kirchenvater Augustinus nachdrücklich fest, wenn er sagt, dass der Name des Pilatus nur zur Bezeichnung des Zeitpunktes der Kreuzigung hinzugefügt wurde (z.B. De fide et symbolo 5,11).

Wesentlich deutlicher drückt sich in diesem Punkt der heidnische römische Historiker Tacitus aus, der nämlich in seinem Geschichtswerk, den Annalen, ausführt (Ann. XV,44), dass Jesus unter der Herrschaft des Tiberius durch Pilatus hingerichtet worden ist. Hier ist die Verantwortung eindeutig dem Pilatus zugewiesen.
Das Christentum jedoch entschuldigt Pilatus, ja mehr noch, macht ihn sogar zu einem Märtyrer und Heiligen. In der koptischen Kirche Ägyptens und Äthiopiens wird seit dem 6. Jh. sein Festtag gefeiert. Als sein Todestag gilt dort entweder der 19. oder der 25. Juni, die Angaben dazu sind nicht einheitlich. Nach einem koptischen Text, dem sog. Martyrium Pilati, wird Pilatus, weil er Jesu zum Tode verurteilt hat, in Rom gekreuzigt und enthauptet. In dieser koptischen Schrift bekehrt sich auch die Frau des Pilatus zum Christentum. Die Frau des Pilatus, die nur in der Passionserzählung bei Matthäus auftritt und versucht, ihren Mann vor der Verurteilung Jesu zu warnen, weil er unschuldig sei, bleibt im Evangelium anonym. Jetzt erhält sie einen Namen. Sie wird Claudia Procula genannt und wird in der griechisch-orthodoxen Kirche zur Heiligen erhoben, deren Fest am 27. Okt. gefeiert wird.

So weit wie die koptische Kirche geht die westliche Kirche allerdings nicht, dass sie Pilatus zu einem Heiligen und Märtyrer erhoben hätte. Doch auch hier ist die Tendenz eindeutig dahingehend, dass die Juden die Hauptverantwortlichen an Christi Tod sind, sie sind die Gottesmörder, Pilatus dagegen war nur der Vollstrecker der Weissagung der Propheten. Obwohl die westliche Pilatustradition auch spätere Überlieferungen kennt, die Pilatus verdammen, so z. B. die Ende des 13. Jh. entstandene Legenda aurea, werden doch in den im Mittelalter so beliebten Passionsspielen, die ebenfalls im 13. Jh. entstanden sind und dann im 15/16. Jh. ihre Blütezeit erlebten, die Juden als Schuldige an Jesu Tod angeprangert. Bis ins Mittelalter maßgebend für das christlich-jüdische Verhältnis waren die Ausführungen des Kirchenvaters Augustinus. Er wirft im 5. Jh. in seiner Schrift, dem „Gottesstaat“ (18,46), den Juden Gottesmord vor. Dieser Vorwurf ist schon in der Bibel bei Paulus (1. Thess. 2,14ff.) vorgegeben. Als Strafe für ihre Untat sieht Augustinus die Vertreibung der Juden aus dem Hl. Land an. Denn durch die Zerstörung des Tempels im jüdischen Krieg durch die Römer im Jahre 70 hatten sie ihren religiösen Mittelpunkt und ihre Heimat verloren und wurden in alle Winde zerstreut. Augustinus aber warnt davor, die Juden zu töten und auszurotten, obwohl sie Hand an Christus gelegt haben. Denn anzustreben war ihre Bekehrung zum christlichen Glauben. Deshalb wurde Augustinus als Autorität für die Durchführung von Zwangstaufen bei den Juden bemüht. Doch gelang es immer nur einen kleinen Teil der Juden zum Christentum zu bekehren, die Mehrheit blieb ihrem Glauben treu. Das unterschied sie von Pilatus. Denn der hatte sich letztlich doch zu Jesus bekannt, ihn als Gottessohn bezeichnet und die Kreuzigung bereut. Das ist zwar der Pilatus der Legende, doch grundgelegt sind dessen Zweifel an der Schuld Jesu bereits im Neuen Testament. Während Pilatus im Mittelalter ja auch schon lange tot war, war das Judentum immer noch aktuell und seine Anhänger der lebende Beweis für die Leugnung des Messias. Die Juden galten als Stachel im Fleisch der Christen, und als Symboltier wurde ihnen der Skorpion zugeordnet.

Auch die bildende Kunst trug das Ihrige dazu bei, Pilatus von der Schuld an Christi Tod freizusprechen. In der frühchristlichen Kunst ab dem 4. Jh. ist ausschließlich die Szene, in der Pilatus sich die Hände in Unschuld wäscht, Thema der Darstellung. Seit dem 13. Jh. ist es immerhin noch das häufigste Pilatusbild, selbst wenn nun auch andere Verhörsituationen vor Pilatus wiedergegeben werden. Besonders beliebt wird das Ecce-homo-Motiv, das der Schilderung des Johannesevangeliums entspringt (Ioh.19). Pilatus lässt nach dem Verhör in der Gerichtshalle und der Geißelung Jesus hinaus zu den wartenden Juden führen. Während Pilatus mit der Vorführung Jesu das Mitleid der Juden erwecken und die Hinrichtung abwenden will, schreien die Juden unerbittlich nach der Kreuzigung. Die Botschaft der Bilder ist eindeutig: Pilatus ist nicht der Verantwortliche für Jesu Tod, es war die Verstocktheit und Verblendung der Juden, die es ihnen verbietet, Jesus als Messias anzuerkennen. Den Juden wird eine kollektive Schuld am Tode Jesu zugesprochen und eine vorsätzliche Ablehnung der neuen Botschaft vorgeworfen. Dieser Vorwurf der Kollektivschuld war im Mittelalter Ursache für grausame Pogrome an den Juden, aber die Judenfeindlichkeit der Kirche lebte weiter über das Mittelalter hinaus. Offiziell war es erst das 2. Vatikanum (1962-65), das die Juden von der Kollektivschuld am Tode Jesu befreite. In der Folge dieser Revision kirchlicher Anschuldigung wurden auch im Jahre 1970 in den Oberammergauer Passionsspielen, die bis in unsere heutige Zeit überlebt haben und deren heutiger Text aus dem Jahre 1860 stammt, die judenfeindlichen Passagen endlich getilgt.

Literaturauswahl

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K. Jaroš, In Sachen Pontius Pilatus (Kulturgesch. d. ant. Welt 93), Mainz 2002
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E.M. Smallwood, Some Notes on the Jews under Tiberius, Latomus XV, 1956, S.314-329
E. Stauffer, Zur Münzprägung und Judenpolitik des Pontius Pilatus, La Nouvelle Clio I und II, 1949-50, S.495-514
H.L. Strack/P. Billerbeck, Kommentar zum Neuen Testament, 2.Bd.:Das Evangelium nach Markus, Lukas und Johannes und die Apostelgeschichte erläutert aus Talmud und Midrasch, München 2.unv. Aufl. 1956
G. Theißen/A. Merz, Der historische Jesus: ein Lehrbuch, Göttingen 1996

 

 

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