Warum musste Jesus sterben?

Ein Beitrag zur aktuellen Debatte zum Kreuz Jesu als Sühnopfer

von Stefan Meißner

 


Karfreitagsprozession in Valencia

Wenn wir hier nach dem Grund des Sterbens Jesu fragen, geht es nicht primär um die historischen Aspekte, die mit dieser Frage verbunden sind (etwa die Frage, welche Gruppierungen ein politisches Interesse am Tod Jesu hatte oder wer ihn letztlich ans Kreuz schlagen ließ), sondern um die verschiedenen theologischen Deutungen, die dieser Tod im Laufe der Geschichte immer wieder erfahren hat. Beide Frageebenen, die historische wie die theologische, besitzen beide ihr Recht, sie dürfen aber keinesfalls vermischt oder gar gegeneinander ausgespielt werden. Letzteres ist dem rheinischen Superintendenten Burkhart Müller passiert, der in einer Radioandacht die These aufgestellt hat: „Jesus ist nicht gestorben, um uns von unseren Sünden zu befreien, sondern weil die Mächtigen ihn nicht leben lassen wollten.“(1)
Diese Verwechslung der Ebenen ist das eigentliche Ärgernis an seinem Beitrag, nicht die Tatsache, dass er es gewagt hat, einen alten christlichen Glaubenssatz auf den Prüfstand zu stellen. Fragen wie die nach der Aktualität des Todes Jesu und seiner Deutungen dürfen und müssen in einer protestantischen Kirche gestellt werden, sie müssen aber in einer hermeneutisch reflektierten und zugleich biblisch verantworten Weise beantwortet werden.

Die Frage nach dem „Warum“ des Leidens und Sterbens Jesu hat etwas mit der uralten, aber immer wieder aktuellen Theodizeefrage zu tun, wie ein guter und zugleich allmächtiger Gott zulassen kann, dass ein unschuldiger Mensch leidet, sie erschöpft sich freilich nicht darin. Neben dem „Warum“ geht es beim Tod Jesu nämlich immer auch um ein „Wozu“: Sehr bald nach dem Tod Jesu wurde von seinen Anhängern behauptet, dieses Opfer (im Sinne des englischen Wortes victim) sei nicht einfach ein Betriebsunfall der Geschichte gewesen, sondern habe (im Sinne von sacrifice) einen tieferen Sinn gehabt, der sich freilich erst dem Glaubenden erschließt. Wiederholt spricht Paulus bzw. die Deuteropaulinen in diesem Zusammenhang von einem „Mysterium“.

Die theologische Diskussion hat sich in letzter Zeit sehr auf die Frage konzentriert, ob das Kreuz Jesu als Opfer- bzw. Sühnetod verstanden werden könne (oder gar müsse). Diese Frage ist sicher ein wichtiger Teilaspekt der Frage nach dem Sinn des Sterbens Jesu, aber eben nur ein Teilaspekt. Eine Verkürzung der Debatte auf die Sühnopfertheologie hat dazu geführt, dass wir die große Bandbreite der Deutungen im Neuen Testament gar nicht mehr hinreichend würdigen und stattdessen so tun, als hänge der christliche Glaube an dieser einzigen Frage. Ich will auf diese Frage gerne zurückkommen, denn es ist – wie gesagt - eine wichtige und berechtigte Frage, aber zunächst soll eine knappe Übersicht über die Deutungen des Todes Jesu im Neuen Testament gegeben im Allgemeinen werden.(2) Dieser Überblick geschieht unter dem Leitbegriff der „Trauerbewältigung“, die, wie wir aus der Seelsorge wissen, bestimmten Gesetzmäßigkeiten folgt. Erst vor diesem Hintergrund, so bin ich überzeugt, lässt sich die Sühnopferproblematik exegetisch richtig verorten, theologisch angemessen bewerten und für die praktische Theologie die richtigen Schlüsse aus ihr ziehen.

 

1. Deutungen des Todes Jesu im Neuen Testament
1.1 Das Kreuz als Ärgernis

Jesus selbst hat entgegen der Darstellung der Evangelien seinen Tod wohl nicht willentlich herbeigeführt.(3) Wohl aber wird er ihn, das Schicksal des Täufers vor Augen, vorausgeahnt und als Konsequenz seines bisherigen Lebensweges in Kauf genommen haben.(4) Ob er selbst sein Schicksal in der Tradition der „leidenden Gerechten“ des Alten Bundes gesehen hat, lässt sich nicht mehr mit Sicherheit feststellen.
Auch wenn das Kreuz Jesu als Heilsereignis heute unumstritten ist, darf man nicht übersehen, dass das nicht von Anfang an so war. Unter seinen Jüngern machte sich nach seinem Tod zunächst Resignation breit. Nach dem ältesten kanonischen Evangelium reagierten die ersten Zeugen des leeren Grabes mit „Zittern und Entsetzen ... Und sie sagten niemandem etwas; denn sie fürchteten sich (Mk 16,8). Im wahrscheinlich ursprünglichem Markusschluss findet sich noch keine Rede von Auferstehung. Verstört und desillusioniert kehrten die Anhänger nach Galiläa zurück und gingen zunächst wieder ihren alten Berufen nach. Auf ein solches Schicksal ihres Herrn waren sie nicht vorbereitet. Die Tradition von einem leidenden oder gar sterbenden Messias waren im Judentum damals noch nicht ausgebildet. So ist es nicht einmal allzu verwunderlich, dass auch die Logienquelle Q(5) keine Passionsgeschichte enthielt, auch keine positive Deutung des Kreuzes Jesu. Selbst für das späte Johannes-Evangelium ist der Tod am Kreuz „nur“ Abschluss und Vollendung des irdischen Wirkens Jesu, die letzte Steigerung des Kampfes zwischen Jesus und dem gottfeindlichen Kosmos. In einer für ihn typischen Dialektik spricht Johannes doppeldeutig von der Kreuzigung als „Erhöhung“. In Weiterführung des johanneischen Ansatzes kam es in der Alten Kirche sogar zu einer Leugnung der Kreuzigung. Gekreuzigt wurde nur ein Scheinleib (Doketismus), der wahre Erlöser wurde unversehrt in den Himmel aufgenommen. Das war nur logisch, wenn man das in der antiken Religionsphilosophie weit verbreitete Apathieaxiom, wonach Gott in seiner Allmacht unfähig sei zu leiden, auf den eigenen Erlöser anwandte. Der Preis war freilich hoch: Der Weg Mensch Jesus von Nazareth wurde so zu einem gottgleichen Erlöser, der sich auf diese Welt nur ganz flüchtig einlässt. Wie sollte er auch, war sie doch das Machwerk eines widergöttlichen Demiurgen. Die Mehrzahl der frühen Christen war freilich nicht bereit, diesen Preis zu tragen. Sie wollte, auch wenn es weh tat, sich dem „Ärgernis des Kreuzes“ (1 Kor 1,23) stellen. Aber wie?

 

1.2. Tastende Versuche, Sprache zu gewinnen
Erst langsam nach dem Tod Jesu(6) setzte sich die Überzeugung durch: Seine „Sache“ geht weiter (W. Marxsen) - und zwar (wie man zunächst sagte) trotz des Kreuzes! Die Petrusreden in der Apostelgeschichte etwa zeigen die frühe Sicht der Dinge noch ganz ungeschminkt: „Jesus Christus, den Nazoräer, den Ihr gekreuzigt habt, hat Gott von den Toten auferweckt“ (4,10 u.ö.). Hier wird ein „Kontrastschema“ erkennbar, das besagt:Menschen (hier direkt angesprochen: die Juden Jerusalems) haben ihn gekreuzigt, Gott hat ihn auferweckt und so posthum wieder ins Recht gesetzt. Noch ist das Kreuz ein Unglücksfall ohne eigene Heilsbedeutung. Noch muss es durch die Auferstehung korrigiert oder zumindest zu einem positiven Ende geführt werden. Doch die Frage drängte sich auf: Wie konnte so etwas passieren, wenn Jesus, wie alle glaubten, doch der verheißene Bote Gottes war? War die vermeintliche Katastrophe vielleicht doch kein Zufall, sondern folgte sie einer inneren Notwendigkeit? Das wäre für die verängstigten Anhänger gewiss ein Trost gewesen.

Nun setzte ein Prozess der Trauerbewältigung ein, der mit einem fortschreitenden „Sprachgewinn“ (D. Ritschl) verbunden war, der im Grund bis heute andauert. Von außen betrachtet könnte man sagen: Man hat damals aus der Not (dem gewaltsamen Tod des Erlösers) eine Tugend (sein Kreuz als Heilsweg) gemacht. Für die unmittelbar Betroffenen aber war dieser Sprachgewinn eine Form der Verarbeitung ihrer unerhörten Enttäuschung. Es gelang ihnen erst in einem langen, kreativen und sicher nicht immer schmerzfreien Prozess („Trauerarbeit“), der Katastrophe einen Sinn abzuringen.

1.2.1 Das Kreuz Jesu als notwendiges Übel
In allen Schichten des Neuen Testaments(7) findet sich ein heilsgeschichtlich-kausales Schema, wonach der Tod die notwendige (griechisch: „dei“) Durchgangsstation zum Heil war. Das Kreuz Jesu wird in die Drangsale der Endzeit eingereiht. Dieses Schema verdankt sich der jüdischen Apokalyptik mit ihrer geschichtstheologischen Logik: Erst wenn das Böse seinen Kulminationspunkt erreicht hat, kommt die Rettung. Seine klassische Ausprägung fand diese Auffassung in den Leidensankündigungen Jesu, die nach allgemeiner Sicht der Forschung keine „echten“ Ankündigungen des historischen Jesus sind, sondern ein vaticinium ex eventu, also eine Deutung der Gemeinde aus dem Rückblick des bereits erfolgten Todes. Das Tröstliche an dieser Deutung war die Gewissheit: Jesu Tod folgt einem geheimen Heilsplan, einer inneren Logik, die sich freilich erst „von hinten“ erschließt.

1.2.2 Jesus als einer der Gerechten Israels
Ein weiterer Versuch, Leiden und Sterben Jesu einen Sinn abzuringen, war es, es in eine Reihe mit dem Leiden der Gerechten des Alten Bundes zu stellen. Jesus musste leiden, - so der Gedanke - weil alle Gerechten leiden müssen.(8) Dieses Deutungsschema liegt der markinischen Passionsgeschichte zugrunde, die stark nach dem Vorbild der Klagepsalmen (bes. Ps 22) modelliert ist, es findet sich aber z.B. auch in 1 Petr 2,21-25. Quasi ein Spezialfall von leidenden Gerechten stellen die alttestamentlichen Propheten dar, die einem auch im NT wiederkehrenden Topos aus dem Deuteronomistischen Geschichtswerk (DtrG) zufolge stets ein „gewaltsames Geschick“ (O.H. Steck) erleiden. Wie diese, so suggeriert etwa das Gleichnis von den Bösen Winzern (Mk 12,1-9 par.), wurde auch Jesus von seinem Volk verstoßen und umgebracht.(9) Die „frohe Botschaft“ lautet hier: Jesus stirbt zwar schimpflich und von der Welt verspottet wie ein Verbrecher am Kreuz, aber der Blick zurück weist nach: Das spricht nicht gegen Jesus, sondern vielmehr gegen die Welt (die antijudaistische Variante dieser Deutung sagt: gegen die Juden), die schon immer gewalttätig reagiert hat, wenn einer kam, der nicht in die üblichen Schubladen passte. Es weist letztlich sogar Jesu Überlegenheit nach, wenn man ihn in die stolze Ahnengalerie der alttestamentlischen Gerechten und Propheten einreihen kann. Und schließlich darf man gewiss sein, dass Gott ihn, wie alle Gerechte vor ihm, wieder rehabilitieren wird – ja es schon getan hat: durch seine Auferstehung von den Toten.

Wahrscheinlich gleichzeitig entsteht in den paulinischen, überwiegend heidenchristlich geprägten Gemeinden ein Strang von Deutungen des Todes Jesu, die ohne den Rekurs auf die Auferstehung auskommen. Hier ist bereits der Tod selbst ein Heilsereignis. Der Sieg folgt nicht erst der Niederlage, sondern er ist in ihr bereits in paradoxerweise Weise („sub spezie contraria“) geheimnisvoll eingeschlossen.


1.2.3 Der Tod Jesu als „Loskauf“
Ein Teilaspekt der paulinischen Rechtfertigungslehre stellt die forensisch-juridische Deutung dar:Jesus nimmt in seinem Tod den auf allen liegenden „Fluch des Gesetzes“ auf sich, so dass die anderen davon befreit werden (Gal 3,10-14; ähnlich auch Gal 4,5; Röm 7,1-6). Zuweilen ist vom Tod Jesu als „Loskauf“ die Rede (Mk 10,45), eine Metapher, die an den Loskauf von Sklaven oder Kriegsgefangenen erinnert.(10) Der Tod Jesu dient hier der Befreiung von den Mächten der Sünde und des Todes. Ob diese mit dem Zorn Gottes zusammenhängen oder ob eher an widergöttliche, dämonische Mächte zu denken ist, ist nicht immer klar. Eindeutig ist die Metapher aber in anderer Hinsicht: Das Heil liegt extra nos, niemand kann sich selbst loskaufen.
Während hier der Gläubige nichts zu seinem Heil beitragen kann, gibt es Aussagen bei Paulus, die von einer sakramentalen Partizipation am Tod Jesu durch die Taufe sprechen (Röm 6: Auferstehung dort futurisch!). In dieser auf Konformität mit Christus abzielenden Variante ist der einzelne Christ in das Heilsgeschehen eingebunden durch den kultischen Nachvollzug des Sterbens Jesu. Ist diese Mystik des „Sterbens mit (griech.: syn) Christus“ für moderne Menschen schon schwer nachzuvollziehen, so entzündet sich heute der Widerspruch der Kritiker noch viel mehr an solchen Aussagen, die den Tod Jesu selbst als Akt kultischer Sühne, als ein Sterben „für“ (hypér), verstehen. Es macht deshalb Sinn, sich ihnen etwas ausführlicher zu widmen.



1.3. Jesus als (Sühn-)Opfer: Kultische Deutungen
Auch wenn sie vielleicht nicht Anhalt am historischen Jesus selbst haben, so stehen die kultischen Deutungen des Todes Jesu doch in einem recht breiten biblischen Traditionskontinuum und lassen sich nicht einfach wegzuleugnen. Man findet sie bereits in vorpaulinischen Formeln, weshalb sie sich auch keinesfalls als spätes Dekadenzphänomen deuten lassen. Peter Stuhlmacher hat völlig Recht: „Sündenvergebung und Rechtfertigung kraft des stellvertretenden Opfertodes und der Auferweckung Jesu sind nicht erst von Paulus entwickelte Theologoumena, sondern bereits vorpaulinische Grunderfahrungen und Bekenntnisinhalte“.(11)

Interessant ist, dass diese Glaubenssätze bis auf wenige Ausnahmen alle einen alttestamentlich-jüdischen Hintergrund haben. Es zeigt sich hier, dass es nicht nur „der Jude Jesus“ ist, der uns mit unserer jüdischen Mutterreligion verbindet, sondern auch die posthume Deutung seines Leidens und Sterbens. Insofern sehe ich anders als Helmut Foth(12) in der Wahrnehmung dieser kultischen Kategorien keine Gefahr für den christlich-jüdischen Dialog, sondern vielmehr eine Chance. Allerdings muss man sich vor Augen halten, dass die Aussagen über den Tod Jesu als Opfer in sich alles andere als homogen sind. Kein Wunder, gibt es doch schon im AT eine ganze Reihe von Opfertheologien und eine Vielzahl von Begriffen für das, was wir im Deutschen als „Opfer“ bezeichnen.(13) So versteht sich von selbst, dass sich auch im NT verschiedene Motive voneinander abheben lassen, die für die kultische Deutung des Kreuzes Jesu bedeutsam wurden.


1.3.1 Der Tod Jesu als ein „Sterben für“
Da ist einmal ein Komplex von Aussagen, die im Blick auf das Kreuz von einem Sterben „für uns“ bzw. „für viele“ sprechen. Zu diesem „soteriologischen Schema“ gehören etwa die vorpaulinischen Pistis-Formeln 1 Kor 15,3b und Röm 4,25. Vorbild für diese Formulierungen, die den Gedanken einer stellverstretenden Lebenshingabe umkreisen, könnten die deuterojesajanischen Gottesknechtslieder (bes. Jes 53, sog. 4. Gottesknechtslied) gewesen sein. Auch in der johanneischen Literatur (Joh 10,15, 1 Joh 4,10 u.ö.) und im Hebräerbrief (9,14-16) findet sich dieses Denkschema. Man darf freilich nicht übersehen: Im Judentum wird der Gottesknecht erst später, nämlich im rabbinischen Judentum, mit dem leidenden Messias in Zusammenhang gebracht.

1.3.2. Jesus als Passalamm
Da sind zum anderen Aussagen, die von Jesus als „Lamm Gottes“ sprechen. In 1 Kor 5,7 ist ganz explizit von Jesus als unserem Passalamm die Rede. Auch datiert das Johannes-Evangelium, das Jesus schon im Prolog als „Lamm Gottes“ bezeichnet (1,29), den Tod Jesu nicht ohne Hintergedanken (und anders als die Synoptiker!) auf dem 14. Nissan(14), den Tag, an der die Passalämmer im Tempel geschlachtet wurden. Zur Zeit Jesu, aber auch noch des Apostels Paulus, wurde die Schlachtung der Passalämmer am Tempel vollzogen, weshalb sie den Charakter des Opfers gewannen. Otto Betz lässt am kultischen Hintergrund der neutestamentlichen Vorstellung keinen Zweifel: „Das Blut der Lämmer wurde an den Altar gesprengt und so Gott dargebracht. Das hat den Vergleich mit Christus ermöglicht: ‚Er wurde als unser Passa geschlachtet’, d.h. er starb für uns. Sein Blut rettete uns vor dem Verderben.“(15)


1.3.3 Der Karfreitag als „eschatologischer Jom Kippur“

An vielen Stellen im NT wird auf das zur Zeit Jesu noch praktizierte Ritual des Großen Versöhnungstages („Jom Kippur“) angespielt. In diesem Ritual, das in Lev 16 ausführlich beschrieben wird und das F. Crüsemann „das Zentrum der priesterlichen Sühnetheologie“(16) genannt hat, geschieht Sündenvergebung durch den Tod eines an und für sich unschuldigen Opfertieres („Sündenbock“). Auf ihn werden die Sünden der Gemeinschaft symbolisch übertragen, bevor er dann „in die Wüste geschickt“ wird. Zuvor wird ein anderer Bock geschlachtet und sein Blut an den „Sühnedeckel“ der Bundeslade gespritzt, um so das Heiligtum zu reinigen. Mit diesem „Sühnedeckel“, hebr. kapporet, identifiziert Paulus in Röm 3,25f. und macht so den Karfreitag „zum eschatologischen Versöhnungstag“(17). Jesu Person ist wie einst der Deckel der Bundeslade der heilmachende Ort der Gottesbegegnung. In ihm, so will Paulus wohl zum Ausdruck bringen, haben auch die eigentlich kultunfähigen Heidenchristen Zugang zum Gott Israels. Nun hat auch H. Foth keine Zweifel an der Verbindung zum Jom-Kippur-Ritus, er stellt lediglich in Frage, dass es dort um „Sühne“ geht – ein Einwand, den ich angesichts der Fülle der Hinweise in diese Richtung nicht nachvollziehen kann. Das Blut Jesu, das in Röm 3,25 ausdrücklich erwähnt wird, hat doch wohl genau den Sinn, der in Lev 16,30 dem Ritus des Versöhnungstages zugesprochen wird: „Denn an diesem Tag entsühnt (lekaper) man euch, um euch zu reinigen. Vor dem Herrn werdet ihr von allen euren Sünden (mi-chol-chatotechäm) wieder rein“.(18)
Das hebr. Verb kpr, von dem sich das Nomen kapporet ableitet, bedeutet eigentlich „bedecken“. Im übertragenen Sinn meint es eben auch das Bedecken von Schuld, also: „sühnen“. Es beschränkt sich nicht, wie man zuweilen einschränken wollte, auf eine rein kultische Reinigung des Heiligtums, auch nicht auf die nur unabsichtlich begangenen Sünden, sondern schließt – zumindest im Kontext des Jom Kippur-Ritus - die Sühne ethischer Verfehlungen ausdrücklich mit ein.(19) Das hilasterion ist hier also so etwas wie die „Stätte der Sühne gewährenden Gegenwart Gottes“.(20)
Selbst wenn man, wie der katholische Exeget Stefan Schreiber,(21) die Identifizierung Jesu mit dem Kapporetdeckel in Frage stellt und lexikografische Erklärungen aus der Profangräzität bevorzugt, kann am kultischen Hintergrund dieser Stelle kein Zweifel bestehen. Schreiber will das substantivierte Adjektiv hilasterion als „Weihegabe“ wiedergeben. Er bezieht sich in seiner Untersuchung auf A. Deissmanns Untersuchungen,(22) lehnt aber ohne guten Grund dessen Übersetzung mit „zur Sühne/Begütigung gehörig“ ab.(23)

Anders als bei Anselms Satisfaktionstheorie liegt der Akzent bei Paulus darauf, dass nicht Menschen einen a priori zürnenden oder blutrünstigen Gott beschwichtigen müssen, sondern dass Gott selbst Subjekt der Versöhnung ist. Er ist es, der den Tod seines Sohnes (oder „sein Blut“, wie es in dem Vers verkürzt heißt) den Menschen paradoxerweise a posteriori (d.h. nachdem er nun einmal geschehen ist) als Möglichkeit der Versöhnung anbietet. Dass Gott Subjekt der Versöhnung ist, gilt freilich schon für das alttestamentliche Vorbild dieser Denkfigur: „Es ist Gott selbst, der vergibt und sich an diese von ihm eröffnete Möglichkeit bindet. Menschliche Selbsterlösung ist das, was hier geschieht, in keinem anderen Sinn, als es auch der Vergebungszuspruch im christlichen Gottesdienst ist“.(24) Es besteht also kein Grund, in dieser Hinsicht das NT von seinen atl.-jüdischen Wurzel abheben zu wollen. Das Opfer als „jüdische Werkgerechtigkeit“ zu diffamieren und dem Christusereignis als Erlösung sola gratia gegenüberzustellen, das wäre allzu billig. Hier liegt der Unterschied nicht.


1.3.4 Das Kreuz Jesu als Selbsthingabe Gottes

In Eph 5,2 heißt es: „Lebt in der Liebe, wie auch Christus uns geliebt hat und hat sich selbst für uns gegeben als Gabe und Opfer, Gott zu einem lieblichen Geruch..“ Hier ist es ein Selbstopfer Jesu, durch das Jesus den Vater versöhnt hat. Der „liebliche Geruch“ erinnert an den Wohlgeruch, der vom Brandopfer des Noah ausgeht und der Gott davon abbringt, die sündige Menschheit zu vernichten.(25) Stattdessen ermöglicht Gott den Menschen einen Neuanfang – obwohl er weiß, dass das „Dichten des menschlichen Herzens böse ist von Jugend auf“ (1 Mos 8,21f.). Diese Struktur ist eine Grundkonstante alttestamentlicher Opfertheologie: Der Mensch gibt etwas, was ihm wertvoll ist (ein Opfertier oder andere, etwa vegetabiblische Opfer), weg an Gott. Entweder um diesem zu danken für diese Gaben, oder eben – und darauf scheint mir der Akzent bei Deutungen des Kreuzestodes Jesu zu liegen – um ihn gnädig zu stimmen und ihn von einer Vernichtungsabsicht abzubringen. Hier nun wird der alttestamentliche Kontext insofern überschritten, als Gabe und Geber identisch sind. Es handelt sich bei Jesu Tod eben um eine Selbsthingabe. Das kann man von den Opfern des Alten Bundes nicht sagen.

Auch der Hebräerbrief bedient sich extensiv der Opfermetaphorik. Wie schon im Eph wird betont, Jesus habe „sich selbst als makelloses Opfer dargebracht“ (9,14). Diese aktive Rolle Jesu wird zugespitzt durch die Aussage, Jesus sei Opfer und (Hohe-)Priester in einer Person. Auch hier ist wieder der Zusammenhang zum Sühneritual des Jom Kippur herauszuhören, freilich mit der klaren Tendenz, die Opfer des Alten Bundes gegenüber der Selbsthingabe Jesu abzuwerten. Eine ebenfalls nicht unproblematische Tendenz, auf die ich noch zurückkommen werde.


1.3.5 Das Kreuz Jesu als Märtyrertod

E. Lohse hat vermutet, dass das sühnende Leiden der Märtyrer bei manchen Glaubens­aussagen (etwa Mk 10,45) der Urgemeinde Pate gestanden haben könnte. Besonders in der Zeit der Makkabäerkriege sei die Überzeugung entstanden, dass der Tod der Juden, die ihr Leben „für“ die gerechte Sache geopfert haben, nicht umsonst gewesen ist. Tatsächlich gibt es in der zwischentestamentarischen Literatur die Vorstellung, dass das Leiden des Gerechten im Blick auf Gottes Heilsplan notwendig sein und für andere Menschen Sündenvergebung erwirken kann.(26) Man darf allerdings nicht übersehen, dass einige der von Lohse dafür angeführten Belege erst nach der Entstehung der Evangelien zu datieren sind und insofern als Erklärung der neutestamentlichen Stellen nicht in Frage kommen.
Diese und andere Belege, etwa im rabbinischen Schrifttum, zeigen aber, wie Juden versuchten Verlusterfahrungen wie Krieg, Vertreibung oder der Zerstörung des Tempels nachträglich einen Sinn abzuringen. Diese Versuche von „Trauerbewältigung“ stellen eine bemerkenswerte Parallele zum frühen Christentum dar, wo es auch galt, mit der Enttäuschung des Todes Jesu konstruktiv umgehen zu lernen. Dass auch im jüdischen Kontext oft von einem „Schlachten“ und vom „Blut“ die Rede ist, kann man als Anleihe an die Terminologie der Tieropfer sehen – auch wenn diese nach der Tempelzerstörung faktisch nicht mehr vollzogen wurden. Bemerkenswert, dass im Falle der jüdischen Märtyrertheologie sogar die biblische Sprachfigur des Opfers auf zu Tode gekommene Menschen übertragen wird. Das ist gegenüber der hebräischen Bibel neu, aber wie auch bei den etwa zeitgleich entstandenen frühchristlichen Deutungen des Opfertodes Jesu geht man so mit der Schrift über die Schrift hinaus.

Gleich welche dieser Motivkomplexe man in den Vordergrund stellt, immer geht es darum, dass der Tod eines Tieres oder eines Menschen ermöglicht, dass ein Schaden wieder gut gemacht, eine zerbrochene oder zumindest gestörte Gottesbeziehung wieder hergestellt wird. In diesem Sinne wird man im NT mit gutem Recht von einer Sühnopfertheologie sprechen dürfen. Sühne verstanden freilich als eine von Gott gnädig angebotene neue Chance, nicht als Forderung eines zürnenden Tyrannen. Sonst wird in der Tat das daraus, was Helmut Foth so fürchtet: ein antijüdisches Stereotyp in alttestamentlich-jüdischer Verkleidung.

 

2. Die Kritik an den kultischen Deutungsmustern auf dem Prüfstand
2.1. Kritik am Bild eines bestechlichen Gottes

Wenn Jesu Tod als kultisches Sühnopfer gedeutet wird, so finden viele Kritiker, fällt ein dunkler Schatten das Gottesbild.(27) Was ist das für ein Gott, so fragt man, der sich auf ein solches Tauschgeschäft („do-ut-des“) einlässt. Freilich träfe ein solcher Vorwurf nicht nur die Sühnetodvorstellung im NT, sondern jede Kulttheologie, egal ob heidnischer oder jüdischer Provenienz – sofern die Logik des kompensatorischen Tauschgeschäftes im Hintergrund steht. Genau das allerdings scheint mir im Falle des Opfertodes Jesu fraglich. Hier ist es nämlich nicht der Mensch, der Gott einen Deal anbietet, sondern Gott ist es, wie wir gesehen haben, der in seiner Gnade ein Außer-Kraft-Setzen des Tun-Ergehen-Zusammenhangs konzediert. Nach alttestamentlich-jüdischem Denken besteht nämlich ein unlösbarer Zusammenhang zwischen dem Tun und dem Ergehen einer Person. Durch die Sünde wird die Schöpfungsordnung aus dem Gleichgewicht gebracht. Diese wird erst wieder hergestellt, wenn sich das Unheil ausgewirkt hat. Es gibt aber eine von Gott eingeräumte Möglichkeit, die unheilvollen Folgen des eigenen Handelns abzuwenden und trotzdem der Gerechtigkeit Genüge zu tun: Sühne. Sie ist keine Forderung eines rächenden, sondern eine Konzession eines gnädigen, aber gleichwohl gerechten Gottes.(28)


2.2. Kritik an der grausamen Vorstellung eines Menschenopfers

Schlimmer aber als der Verdacht der Bestechlichkeit wiegt die Abscheu vor einem Menschenopfer, das im Falle Jesu sogar noch ein Sohnopfer darstellt. So fragt Burkhard Müller im WDR-Hörfunk fast empört: „Was wäre das für ein grausamer Gott, der ein Menschenopfer braucht, um damit seinen Zorn zu stillen! Und die Sache wird noch unappetitlicher, wenn dieser Mensch sein einziger Sohn ist!“(29) „Religiöse Legitimation von Gewalt“ wittern auch manche Vertreterinnen der feministischen Theologie hinter der Sühnopfertheologie, die sie als Spielart einer maskulin geprägten Denkart darstellen.(30) Ein solches Gottesbild würde nun in der Tat einen Bruch mit dem Judentum bedeuten, denn darin hat H. Foth Recht: „Die gesamte Ethik der Thora und der Propheten lehnen Menschenopfer in einer Radikalität ab, die in der antiken Welt einmalig ist.“(31) So zielt die jüdische Tradition von der Bindung Isaaks (‚Aqedat Jitzchaq’), auf die auch im NT teilweise angespielt wird, genau darauf ab, dass der Sohn nicht geopfert wird. Viele Alttestamentler sehen hier die Erinnerung an einen archaischen Brauch, der aber eben im biblischen Kontext – und das ist die Pointe - als überwunden gilt.(32) Nun darf man nicht übersehen, dass kein neutestamentlicher Autor annimmt, dass Jesus selbst als Opfer kultisch geschlachtet worden sei. Die Opferterminologie wird in diesem Kontext immer metaphorisch gebraucht. Die entscheidende Übereinstimmung zwischen Sache und Bild besteht darin, dass beides, das Tieropfer wie der Tod Jesu, uns von den Unheilsfolgen der Sünde befreien.(33)

Gefährlich an der Sohnopfermetaphorik ist aber nicht nur, dass sie dazu neigt, Gewalt­phantasien Raum zu geben, sondern dass ihr auch eine geheime Substitutionstheologie innewohnt, nach dem Motto: Das alttestamentliche Tieropfer ist durch das einmalige Menschenopfer „aufgehoben“ worden – im doppelten Hegel´schen Sinn: auf eine neue, höhere Ebene gehoben, aber auch zugleich überwunden und abgeschafft. Dieses Motiv kann antijüdisch gewendet werden - dann nämlich, wenn das Judentum für das Überwundene („Alter Bund“), das Christentum aber für das Kommende („Neuer Bund“) steht. So aber sind alt und neu in der Heilsökonomie Gottes ganz sicher nicht aufeinander zu beziehen: im Sinne einer schlichten Ablösung der einen durch die andere Größe. Denn es darf ja nicht übersehen werden, dass ja auch das Judentum - fast zeitgleich mit dem entstehenden Christentum übrigens - unblutige Formen entwickelt hat, das gestörte Gottesverhältnis wieder zu „reparieren“. Man hat insofern nicht ganz zu Unrecht beide Religionen als „Geschwister-“ oder „Zwillingsreligionen“ bezeichnet.(34)


2.3 Kritik am Gedanken der Stellvertretung

Ein dritter Zweifel, der den neuzeitlich-aufgeklärten Bibelleser immer wieder beschlichen hat ist die Frage, ob eine Sündenschuld überhaupt von einem anderen als dem Täter selbst getilgt werden kann. Schon Kant hatte eingewendet, eine moralische Schuld sei „keine transmissible Verbindlichkeit, die etwa, wie eine Geldschuld (..), auf einen anderen übertragen werden kann, sondern die allerpersönlichste, nämlich eine Sündenschuld, die nur der Strafbare, nicht der Unschuldige (..) tragen kann.“(35) Es ist also die Kategorie der Stellvertretung, die hier kritisch hinterfragt wird.
Zunächst einmal wird man zurückfragen dürfen: Entspringt nicht der moderne Widerwille gegen den Stellvertretungsgedanken dem an und für sich legitimen Interesse, nicht nur passives Objekt, sondern auch aktives Subjekt der Erlösung zu sein, selbst am eigenen Heil mitwirken zu können. Die Reformatoren haben dieses Interesse freilich als Ursünde entlarvt, weil sie erkannt haben: Wo der Mensch sich allein auf seine eigenen Fähigkeiten und Stärken zu gründen versucht, überfordert er sich permanent. Man kann sich eben nicht an den eigenen Haaren aus dem Sumpf ziehen.
Außerdem wäre kritisch zu entgegnen, dass Sühne biblisch verstanden immer inklusive Stellvertretung beinhaltet. Jesus stirbt also nicht ersatzweise für den Sünder, sein Tod hebt unseren auch nicht einfach auf, sondern Jesus tritt an die Stelle, wo der andere lebt, in die Gottferne der Sünde, in das Getrennt-Sein von seinem schöpferischen Grund, um ihn von dort zu befreien zu einem neuen Leben mit Gott.

 

3. Das Kreuz Jesu - ein Sühnopfer? - Zusammenfassende Thesen
1. Zögerlicher Sprachgewinn am Anfang: Der Weg vom Ärgernis zum Heilsereignis
Das Kreuz Jesu ist für die ersten Christen zunächst ein schwerwiegendes Problem („Ärgernis“). Erst aus dem Rückblick wurde allmählich der Sinn dieses Todes erkennbar. Tastend und unsicher vollzog sich der soteriologische „Sprachgewinn“ (D. Ritschl) am Anfang, an deren Ende das Kreuz als Heilereignis stand.

Diese Erkenntnis widerspricht den leider immer wieder anzutreffenden Versuchen sich selbst als bibeltreu ausgebender Christen, eine bestimmte Deutung des Todes Jesu anderen Christen, quasi als Ausweis ihrer Rechtgläubigkeit, regelrecht abzuverlangen.

Sie verträgt sich auch nicht mit einem Verständnis des Todes Jesu, wonach dieser Tod von Gott schon lange vorher bei Gott „beschlossene Sache“ gewesen sei. Ein solches Verständnis von Prädestination wirft mehr Fragen auf, als es zu lösen vermag.

2. Kultische Sühne, recht verstanden: Eine von vielen Deutungsmustern im NT
Die kultische Deutung des Todes Jesu als Sühne ist nur eine von vielen im NT angebotene Denkmöglichkeit. Sie spielt allerdings an zentralen Stellen des Neuen Testaments eine wichtige Rolle. Sie abzuleugnen oder wegzuinterpretieren, macht deshalb keinen Sinn.
Wichtig ist freilich, sie richtig zu interpretieren. Sowohl für die kultische Sühne im AT als auch für den Sühnetod Jesu gilt: Gott verlangt keine Opfer (a priori), aber er akzeptiert sie (a posteriori) (siehe These 5!)

Diese Erkenntnis widerspricht einer Satisfaktionslehre, wie sie beispielsweise Anselm von Canterbury entwickelt hat.

Es ist aber gleichermaßen problematisch, wenn Anselm ins NT zurückprojiziert und damit die ganze biblische Sühnetheologie desavouiert werden soll.

3. Das Selbstopfer Jesu als Metapher: Die Neuakzentuierung wird zum christlichen Proprium
Die Opferterminologie wird im Neuen Testament nur als Metapher gebraucht. In ihrem Zentrum (als tertium comparationis von Zeichen und Bezeichnetem) steht die sündenvergebende Kraft des Opfers, die neue Gottesgemeinschaft ermöglicht.
Freilich wird im Kontext des Kreuzes Jesu das Bild gesprengt: Indem das NT das Sterben Jesu als Selbstopfer bzw. Selbsthingabe thematisiert, fallen Opfer und Opfernder zusammen.

Diese Erkenntnis widerspricht einem naiven Wörtlich-Nehmen der Redeweise vom sühnenden Opfer Jesu, wie es eigenartigerweise oft auch bei liberalen bzw. progressiven Theologinnen und Theologen anzutreffen ist.

Man muss freilich auch sehen, dass die biblische Metapher des Opfers im NT neu akzentuiert wird, sodass sie schließlich zum Proprium des Christlichen - auch gegenüber dem Jüdischen - geworden ist.

4. Die Rede vom Sühnetod als gesamtbiblische Kategorie
Die Rede vom Sühnopfer Jesu stellt für den christlich-jüdischen Dialog keine Gefahr, sondern eher eine Chance dar, stellt sie doch eine gesamtbiblische und damit auch eine alttestamentlich-jüdische Kategorie zur Verfügung, um den Tod Jesu zu verstehen.

Diese Erkenntnis widerspricht der These, dass es nur der historische Jesus ist, der das Christentum mit seiner jüdischen Mutterreligion verbindet, es ist auch die posthume Deutung seines Geschicks (also das frühchristliche Kerygma) ein innerjüdisches Phänomen.

Die kultischen Deutungsmuster können freilich in einem antijüdischem Sinn zugespitzt werden, etwa wenn der Hebräer-Brief den Alten Bund (Tieropfer) gegenüber dem Neuen Bund (Selbstopfer Jesu) abwertet.

5. Von Ostern her wird deutlich: Gott will keine Menschenopfer
Vor dem Hintergrund des biblischen Zeugnisses muss klar gestellt werden: Gott will keine Menschenopfer, aber er ist bereit - wenn es gegen seinen Willen und sein Zutun doch dazu kommt, dass Menschen andere Menschen in den Tod treiben - einen solchen Tod zum Anlass eines Neuanfangs zu nehmen.
Das Kreuz Jesu ist wider Erwarten zum Ort einer neuen Begegnung mit Gott(36) geworden - über den Graben der Sünde hinweg. Das ist deutlich geworden durch das österliche Licht, das die Auferweckung Jesu durch Gott auf das Kreuz geworfen hat.

Diese Erkenntnis widerspricht einer einseitigen Überhöhung des Kreuzes und einer Isolierung von seinem Kontext: Zum Heilsereignis wird es erst zusammen mit dem, was davor war: dem Leben Jesu, und dem, was auf das Kreuz folgte: Jesu Auferstehung.(37)

Sie ist aber gleichermaßen unvereinbar mit dem (menschlich verständlichen, aber eben unchristlichen) Wunsch, das Leid als Ort der Begegnung mit Gott auszuklammern. Gerade im Leid kann der Mensch dem mitleidenden Gott nahe kommen.

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Stefan Meißner: Wer war schuld am Tod Jesu?
Gabriele Gierlich: „Gelitten unter Pontius Pilatus“. Die Gestalt des Pilatus in Geschichte und Legende


Fußnoten

(1) Kirche im WDR 3-5, Sendedatum: Mittwoch, den 11.2.2009, Titel: Anselm von Canterbury

(2) Dies kurze Darstellung unter Punkt 1 verdankt sich wesentlich dem Artikel von J. Roloff: Der Tod Jesu und seine Deutungen, in: ders.: Neues Testament, Neukirchener Arbeitsbücher, §13., Wichtig für das Thema insgesamt sind ferner: G. Barth, Der Tod Jesu Christi im Verständnis des Neuen Testaments, Neukirchen/Vluyn 1992, N. Janowski, Sühne als Heilsgeschehen, WMANT 55, Neukirchen/Vluyn 1982, Das Kreuz Jesu, Hrsg. von Rudolf Weth, Neukirchen, 2001.

(3) So auch G. Theißen: Die Religion der ersten Christen, S.200.

(4) Vgl. G. Theißen, a.A.O, S.202.

(5) Entstanden wohl in den späten 50er oder frühen 60er Jahren des 1. Jh. n. Chr.

(6) Man muss sich klar machen, dass die Zeitangabe der Auferstehung „drei Tage“ einem alttest.-jüd. Deutungsmuster (katà tás graphás, 1 Kor 15,3) entspringt, also keinesfalls historisch zutreffen muss.

(7) Mk 8,31; 14,21; Lk 24,26 u.ö.

(8) Vgl. dazu schon: L.Ruppert: Jesus als der leidende Gerechte? SBS 59, Stuttgart 1972. Karl Theodor Kleinknecht: Der leidende Gerechtfertigte, Die alttestamentlich-jüdische Tradition vom leidenden Gerechten und ihre Rezeption bei Paulus, WUNT 13, Tübingen 1988

(9) Vgl. auch noch: Mt 23,37; Lk 11,47 [beide Q], Apg 7,52

(10) C. Breytenbach: Versöhnung, WMANT 60, Neukirchen/Vluyn 1989

(11) Bibl. Theologie des NT, Bd.1. Göttingen 1992, S.191.

(12) H. Foth, Christi Opfertod und der chr.-jüd. Dialog, PfPfbl 4/2009, S.206-213.

(13) Dem Deutschen Wort „Sühnopfer“ kommen im Hebräischen am nächsten die Begriffe: asam und chatat. Einen guten Überblick gibt R. Rendtorff, Theologie des AT, Bd.2, Neukirchen 2001, S.104ff.

(14) Vgl. 13,1.27-29, 18,28 und 19,14.31.36.42

(15) O. Betz: Jesus. Der Herr der Kirche, WUNT 52, Tübingen 1990. Auch S.P.h. de Vries: Jüdische Riten und Sympole, S.117: „...war das Passalamm zum Teil Bestandteil des Opferdienstes.“

(16) F. Crüsemann: Die Tora. Theologie und Sozialgeschichte des atl. Gesetzes, Gütersloh 3. Aufl. 2005, S.364

(17) J. Roloff, EWNT II, 456f.

(18) Die Betonung, dass „alle“ Sünden gesühnt werden an diesem Tag findet sich auch in 16,16 und 16,34.

(19) F. Crüsemann, a.a.O., S.365.

(20) U. Wilckens: Der Brief an die Römer EKK VI/I, S. 192; auch G. Theißen, a.aO., S.204 spricht im Blick auf Röm 3,25 von einer Sühneaussage. Paulus meine hier „das stellvertretende Erleiden des vorher beschworenen Zornes Gottes über alle Sünder“.

(21) Stefan Schreiber: Das Weihegeschenk Gottes. Eine Deutung des Todes Jesu in Röm 3,25, ZNTW 97, Heft 1-2, S. 88–110 (im Internet: http://egora.uni-muenster.de/fb2/zrnt/
Text_6_(Schreiber).pdf)

(22) A. Deißmann, ???S?????S und ???S??????. Eine lexikalische Studie, ZNW 4 1903, 193-212.

(23) Ähnlich auch B. Janowski: „Sühnmal“, Sühne als Heilsgeschehen. Traditions- und religionsgeschichtliche Studien zur priesterschriftlichen Sühnetheologie, hg. Von C. Breytenbach u.a., Neukirchen 2. Aufl. 2000, S.272 und Utzschneider: „Sühneapparat“, Das Heiligtum und das Gesetz, Studien zur Bedeutung der sinaitischen Heiligtumstexte (Ex 25 - 40; Lev 8-9), Orbis Biblicus et Orientalis 77, Freiburg (Schweiz), Göttingen 1988, S. 121

(24) F. Crüsemann, a.a.O., S. 363.

(25) Ironisierend, wie H. Foth, kann ich diesen Terminus gar nicht finden, der im AT ein terminus technicus für die Wirkung des Opfers auf Gott.

(26) Vgl. 4 Makk 6,27ff. und 4Makk 17,21f., wo auch von einem hilasterios thanatos die Rede ist.

(27) So etwa K.P. Jörns: Notwendige Abschiede, Gütersloh 2004, der in fast marcionitischer Weise dem angeblich atl-jüd.. „Gott des Gehorsams“ den „Gott der Liebe“ gegenüberstellt, wie ihn Jesus gepredigt habe.

(28) Anders etwa U. Grümbel in der 2. Auflage des Wörterbuchs der Feministischen Theologie: „Gott ist nicht Subjekt der Opferung Jesu (weder als victim noch als sacrifice). Gott fordert das Opfer Jesu nicht. Mit der Auferweckung Jesu widerspricht Gott dem gewaltsamen Opfertod, nimmt das Todesopfer nicht an, gibt dem
Leben Jesu ein für alle Mal Recht.“ (Opfer, Systematisch praktisch, in: Wörterbuch der Feministischen Theologie. Hg. von E. Gössmann, Helga Kuhlmann et al., 2. vollständig überarbeitete und grundlegend erweiterte Auflage, Gütersloh: Gütersloher Verlagshaus 2002, 432-434, 433.

(29) B. Müller, ebd.

(30) C. Jansen, Wörterbuch der Feministischen Theologie, a.a.O., S. 430.

(31) H. Foth, a.a.O., S.209.

(32) Es hat übrigens in nachneutestamentlicher Zeit Strömungen im Judentum gegeben hat, die durch die Betonung des stellvertretenden Selbstopfers Isaaks zugunsten anderer Juden durchaus eine gewisse Parallele zum Sühnetod Jesu darstellten. Vgl. dazu Stefan Meißner: Paulinische Soteriologie und die Aqedat Jizchaq, Judaica (Basel), Heft 1, März 1995

(33) M. Wolter seinem Vortrag „Neutestamentliche Deutungen des Todes Jesu“ für die Kirchenleitung der Evangelischen Kirche im Rheinland am 15.5.2009 in Düsseldorf, S.3.; vgl. auch ders.: Der Heilstod Jesu als theol. Argument, in: Deutungen des Todes Jesu im Neuen Testament. Hrsg. v. Jörg Frey u. Jens Schröter, Tübingen 2005.

(34) A.F. Segal: Rebeccas Children, Judaism and Christianity in the Roman World, Harvard 1986.

(35) Die Religion innerhalb der Grenzen der bloßen Vernunft, Zweites Stück, B 94/95.

(36) In diesem Sinn verstehe ich auch die bibl. Begriffe „hilasterion“ = Kapporetdeckel und „qorban“ = „Dar-Nahung“ (M.Buber).

(37) Sehr schön formuliert bei Regine Munz, die ebenfalls „für eine integrierende, umfassende Sichtweise
seines Lebens Sterbens, und Auferstehens“ plädiert (http://zh.ref.ch/content/e3/e9924/e10089/munz.pdf).

Dieser Aufsatz ist erstmals erschienen in: Blickpunkte 3/2012

Bild:

Stefan Meißner (Copyrights)

 

 

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