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Das
Lutherdenkmal in Wittenberg |
Protestantisches Selbstverständnis äußert
sich in der Bereitschaft zur Institutionenkritik, auch im kritischen Bedenken
der theologischen und ideologischen Grundlagen der eigenen Kirchen- und
Theologiekonstruktion. Das gilt auch für das Gedenken an die Reformation.
So und so vieles, was heute gerne als positive Folgen der Reformation
gefeiert wird, gegen den Widerstand der christlichen, auch der protestantischen
und gerade der lutherischen Kirchen durchgesetzt werden. Beim Thema „Luther
und die Juden“ haben wir schließlich gar nichts zu feiern.
Dabei geht es nicht nur darum, Luthers unflätige Zornesausbrüche
in seinem Spätwerk als Erguss eines polternden alten Mannes abzutun.
Wir sind vielmehr gefragt, christliche und auch protestantische Theologoumena
so zu bedenken, dass christliche Identität nicht mehr als Identität
gegen Israel gedacht wird.
1. Der Begriff Antijudaismus
Der Begriff Antisemitismus war ursprünglich polemischer
gegen Ernest Renan gerichtet, der in seinen religionsgeschichtlichen Werken
die Leistungen der semitischen, arabischen Völker gegenüber
denen der indogermanischen Völker abgewertet hatte; Renan hatte sich
ausdrücklich nicht auf das gegenwärtige Judentum bezogen. In
seiner heutigen Verwendung ist der Begriff erstmals im Umkreis des Publizisten
und Rassisten Wilhelm Marr 1879 belegt; dieser hat sich den Begriff zur
Kennzeichnung seiner eigenen judengegnerischen Bestrebungen angeeignet.
Bei neuerer Antisemitismusforschung kann man mit Christhard Hoffmann die
politik- und sozialgeschichtliche Betrachtungsweise, die für den
älteren religiösen Antisemitismus kaum Interesse zeigt, unterscheiden
von der ideen-, mentalitäts- und kulturgeschichtlichen Betrachtungsweise,
die den christlichen Antijudaismus auch als konstitutiv für den modernen
Antisemitismus begreift.
Dabei zeigt sich:
1. Auch religiös motivierte Judenfeindschaft ist Transformations-
und Modernisierungsprozessen unterworfen.
2. Dass man auch in christlichen Kreisen des 20. Jahrhunderts Elemente
aus Ideologien aufgriff, die dem Christentum fremd gegenüberstanden,
„war … möglich, weil die Grundstruktur der antijüdischen
Argumentation trotz aller ideologischer Transformationen gleich blieb.
Sie war bestimmt durch einen dualen Schematismus, in dem das Judentum
durchweg als Gegenbild oder Antithese zum eigenen Ideal und zum eigenen
Selbstverständnis figurierte und – ungeachtet der jeweiligen
inhaltlichen ‚Füllung‘ des jüdischen bzw. des eigenen
‚Wesens‘ – immer den negativen Pol bildete.“
3. In der modernen Antisemitismusforschung stehen Periodentheorien neben
Kontinuitätstheorien neben Parallelexistenztheorien. In einer Periodentheorie
wird streng zwischen religiös motivierten vorneuzeitlichen Antijudaismus
und modernem sozial oder biologistisch begründeten Antisemitismus
unterschieden; allerdings sind einerseits auch schon vorneuzeitlich protorassistische
Argumente und Stereotypen zu Sozialkonflikten wirksam , andererseits auch
im modernen Antisemitismus alte, christliche Vorurteile. Eine Theorie
der Kontinuität berücksichtigt dies; allerdings werden oft nur
Analogien aufgewiesen, nicht aber Kausalzusammenhänge sichtbar gemacht.
Der Parallel-existenzthese zufolge befruchten sich religiöser und
moderner Antisemitismus gegenseitig; der Charakter des modernen Antisemitismus
als antimodernistischer Bewegung kommt freilich manchmal zu kurz.
Jedenfalls sollte man mit der Wahl des Begriffes „Antijudaismus“
statt „Antisemitismus“ nicht Luther in irgendeiner Weise in
Schutz nehmen wollen.
2. Martin Luther
2.1. Forschungsgeschichte
Der Beginn moderner Forschungsgeschichte zum Thema „Martin Luther
und die Juden“ ist eigener Erwähnung wert. 1911 promovierte
der jüdische Gelehrte und spätere Rabbiner Reinhold Lewin an
der Philosophischen Fakultät der Universität Breslau über
das Thema „Luthers Stellung zu den Juden“ mit folgender Hauptthese:
Auf eine erste Periode der Gleichgültigkeit folgt eine zweite Phase
der Hoffnung, die sich in der Schrift „Daß Jesus Christus
ein geborner Jude sei“ von 1523 Ausdruck verschafft. Dann aber sei
Luther aufgrund persönlicher Enttäuschungen über die Erfolglosigkeit
seines Werbens in zunehmend maßlose Polemik verfallen. Allerdings
habe nicht nur diese persönliche Enttäuschung, sondern auch
der Konflikt um die richtige Auslegung der Heiligen Schrift den Konflikt
weiter angeheizt.
1928 hat der Württembergische Pfarrer Eduard Lamparter, zeitweise
Vorstand im „Verein zur Abwehr des Antisemitismus“ , bei Luther
den Rückfall in mittelalterlichen Judenhaß konstatiert; nach
Beweisen für die angeblichen Schandtaten der Juden habe Luther gar
nicht mehr gefragt. Papst Pius XI. habe ein scharfes Urteil gegen den
Antisemitismus gefällt – ob dies nicht auch die Aufgabe der
Evangelischen Kirche sei?
1953 sucht Wilhelm Maurer die gleichbleibenden, auch und gerade die Rechtfertigungslehre
einschließenden theologischen Prinzipien und die praktisch-rechtlichen
Folgerungen von 1543 noch zu trennen, indem er die letztgenannten als
Rückfall ins Mittelalter klassifiziert. Martin Stöhr hat hingegen
1960/61 die theologiekritische Diskussion von Luthers Schriften zum Judentum
eröffnet. Luthers Haltung sei einerseits „eher von Emotionen
als von theologischer Reflexion geprägt“ , doch sei der weithin
gegebene Unglaube der Juden für Luther nicht einfach eine praktische,
sondern eine eminent theologische Frage. Die Schrift von 1523 impliziere
eine „gleichberechtigte Anerkennung der jüdischen Gesprächspartner
auf einem gemeinsamen Boden“ der Heiligen Schrift, was jüdische
Zeitgenossen durchaus dankbar vermerkten. 1543 hingegen redet er nicht
mehr zu den Juden, sondern nur noch über sie; Enttäuschung,
Zorn und die düstere Er-wartung des baldigen Weltunterganges führen
die Feder, dazu ein Fatalismus, der keine Möglichkeit mehr sah, etwa
durch Predigen etwas an dem Schicksal der Juden zu ändern.
Der katholische Theologe Johannes Brosseder ist der Auffassung, nicht
der Partikularismus, sondern gerade der Universalismus der Rechtfertigungslehre
Luthers habe ihm zu seiner maliziösen Wertung des Judentums geführt.
Die Schrift von 1523 sei eine Verteidigungsschrift gegen den Vorwurf,
Luther lehre die Herkunft Christi von Abrahams Samen, d.h. unter Verzicht
auf die Jungfrauenschaft Mariens, und sie sei judenfreundlich nur hinsichtlich
der praktischen Konsequenzen, aber nicht hinsichtlich seiner Schriftauslegung,
die völlig im Rahmen traditioneller Polemik verbleibe.
Der reformierte Niederländer Heiko Augustinus Oberman hat Luthers
Polemik in seinem Spätwerk aus seiner Erwartung apokalyptischer Bedrängnisse
vor dem Weltende zu erklären versucht, aber zugleich an die generelle
Relevanz des Themas für Luther erinnert: Die Judenfrage sei „keine
schwarze Sonderseite in Luthers Werk …, sondern zentrales Thema
seiner Theologie“. Die harten Judenschriften am Lebensende seien
„Ausdruck von Luthers Gesamtbetrachtung der dritten und letzten
Phase des reformatorischen Geschehens“ , in der die Päpstlichen,
die Türken, die Juden, die Häretiker, aber auch die Scheinchristen
in den eigenen Reihen letztlich als fünfte Kolonne des Teufels zu
stehen kommen.
Der jüdische Gelehrte Ernst Ludwig Ehrlich sieht den Umschlag zu
Luthers wüster Polemik in dem Umstand begründet, dass sich Luther
im Zuge der Entstehung protestantischer Landeskirchen immer mehr statt
in der Rolle eines Reformators in der Rolle eines Dogmenwächters
gesehen habe.
Peter Von der Osten-Sacken lehnt sich i.W. an Reinhold Lewin an und mahnt
dazu, die Perspektive der von Luthers Polemik Betroffenen nicht aus dem
Auge zu verlieren. Thomas Kaufmann gibt als äußeren Anlass
die Aufhebung des Durchreiseverbotes durch Kurfürst Friedrich an,
als innere Bewegursache die Angst des Reformators vor einem befürchteten
strafenden Eingreifen Gottes gegen sein von allen Seiten bedrohtes Reformationswerk,
wenn er die angeblichen Lügen und Gotteslästerungen der Juden
wissentlich geduldet hätte und so daran mitschuldig geworden sei.
Heinz Schilling zufolge sind ein unbedingtes Bewusstsein, im Besitz der
theologischen Wahrheit zu sein, und ein abgrundtiefer anthropologischer
Pessimismus Charaktereigenschaften, die Luther im schon im Zuge des Neuwerdens
seiner Theologie zugewachsen waren ; für die späten Judenschriften
verweist er auf eschatologisch gestimmten Pessimismus. Johannes Heil verweist
auf das stereotype Feind-Schema, in das Luther in dieser Zeit die päpstliche
Kirche, die Türken, die Juden wie die Andersdenkenden im eigenen
Lager eingeordnet habe; dieses dichotomische und letztlich säkular
werdende Schema erkläre auch, warum Luthers Judenschriften für
den Antisemitismus der Moderne besonders anbindungsfähig waren.
2.2. Voraussetzungen
2.2.1. Altkirchlicher Antijudaismus
Antijudaismus gab es auch schon in der vorchristlichen Antike; in ihr
wird die Abgrenzung der Juden von gemein-antiken Sitten und Vorstellungen
(u.a. ihr Monotheismus sowie die Beachtung der Speise-, Sabbat- und Beschnei-dungsgebote)
gegen sie gekehrt. Doch ist pagan-antike Judenfeindschaft im Gegensatz
zu christlicher Judenfeindschaft kein dominierendes Element.
Paulus bricht in 1 Thess 2,14–16 völlig unvermittelt in wüste
Polemik aus, die auch Standards pagan-antiker Judenfeindschaft aufgreift
(„die Juden sind allen Menschen feind“). Gal 4,21–31
sorgte mit seiner Gegenüber-stellung des unfreien Judentums mit dem
Christentum als dem himmlischen Jerusalem lange für eine Abwertung
des Judentums und, zusammen mit Mt 23, für dessen Bild als Religion
gesetzlicher Kleinlichkeit. Ebenso problematisch ist 2Kor 3,6–18
mit der Hauptthese, dass die nicht an Jesus glaubenden Juden die eigene
Heilige Schrift nicht richtig verstehen. Man hat im Umgang mit den Texten
nicht selbstkritisch bedacht, dass diese Texte aus einer Minderheitenposition
heraus geschrieben waren, während man selbst in der Mehrheitsposition
war.
Die Geschichte des altkirchlichen wie mittelalterlichen
Antijudaismus ist leider reich an Kontinuitäten der verwendeten Motive,
die in allen Literaturgattungen wiederkehren, in Kommentaren und Predigten
genauso wie in der Adversus-Iudaeos-Literatur. An Motiven ist Mehreres
zu nennen:
1. Juden haben Jesus umgebracht und wurden dafür mit der Zerstörung
des Tempels und mit andauernder Diaspora-Existenz bestraft , und sie haben
das noch auf sich selbst herabgewünscht (Mt 27,25). Deshalb sind
sie auf Ewigkeit mit diesem Fluch belastet. Häufig begegnet die Parallelordnung
des Judas Iskariot mit den Juden überhaupt. Das Volk Gottes ist nicht
Israel, das Volk Gottes ist die Kirche.
2. Juden haben den wichtigsten Schritt der Heilsgeschichte, die Offen-barung
der Wahrheit an alle Völker in und mit Jesus Christus, nicht mitvollzogen,
beharren also auf einem längst überwundenen Stand der Dinge,
obwohl das Gesetz selbst das Kommen Christi voraussagt.
3. Juden seien blind für die allegorische Auslegung der Heiligen
Schrift und halten deshalb immer noch an dem Zeremonialgesetz als wörtlich
einzuhaltendem Gesetz fest.
4. Juden seien blind für die christologische Lektüre der Heiligen
Schrift. Bisweilen findet sich sogar der Vorwurf, Juden hätten ihre
eigene Heilige Schrift verfälscht, um Hinweise auf Christus daraus
zu tilgen.
5. Man unterstellt den Juden in ihrem Erwählungsbewusstsein Hochmut
und Selbstgerechtigkeit gegenüber den Heiden.
6. Juden sind selbst Übertreter des Gesetzes und darum dem Fluch
verfallen. Auch der Vergleich von Juden mit Schweinen begegnet in altkirchlicher
Tradition, nämlich bei dem Syrer Ephraem.
Was kennzeichnet den Umgang antijüdischer christlicher Polemik mit
der Heiligen Schrift? Kritische Prophetie gegen Israel wird an die Adresse
des gegenwärtigen, nicht an Jesus glaubenden Judentums gerichtet
verstanden –dabei wird die Tötung Jesu in einer Reihe mit der
Tötung der Propheten durch Israel gesehen –, während Heilsweissagungen
der christlichen Kirche gelten. Wir haben es nicht einfach nur mit einer
Vereinnahmung des Alten Testaments zu tun, sondern mit einer gespaltenen
Nutzanwendung.
Es lassen sich aber auch zum Thema Rechtfertigung schon
in altkirchlicher Paulusauslegung antijüdische Aussagen finden:
1. Gelegentlich wird die rechtfertigende Wirkung des Glaubens gegenüber
dem Judentum als Freiheit von der Knechtschaft des Gesetzes er-fasst.
Wir stehen nicht mehr unter dem Gesetz, sondern unter der Gnade. Diese
offenbarungsgeschichtlich gedachte These wird aber emotional überhöht.
2. Die Situation des nicht an Jesus glaubenden Judentums wird generell
mit Gal 3,10 kommentiert.
Politisch ist eine Verschlechterung für die Sache der Juden seit
Beginn der Bevorzugung der Christen nachzuweisen: Konstantin d. Gr. verbot
315 die Konversion vom Christentum zum Judentum und untersagte 335 die
Beschneidung christlicher Sklaven ; Constantius II. verbot 339 den Ankauf
nichtjüdischer Sklaven durch Juden und die Heirat zwischen Christen
und Juden. Um 380 hatte der Ortsbischof von Callinicum einen Tumult erregt
und die Synagoge in Brand setzen lassen. Theodosius gelobte, den Landfriedensbruch
zu strafen, Ambrosius erhob Einspruch:
Soll dem Unglauben der Juden ein Platz geschaffen werden auf Kosten der
Kirche? ... Soll das dank der Gnade Christi für Christen erworbene
Erbe den Schatz der Ungläubigen vermehren? ... Sollen die Juden diese
Inschrift an der Stirnseite ihrer Synagoge anbringen: Der Tempel der Ungerechtigkeit,
errichtet aus der den Christen abgenommenen Beute?
In der Gesetzgebung des 5. Jhdts. begegnen termini wie taetrum Iudaeorum
nomen und perversitas iudaica, superstitio oder impiissimorum …
dominium, die zeigen, dass an Neutralität dem Judentum gegenüber
nicht mehr zu denken war. 423 wurde der Neubau und die Renovierung von
Synagogen verboten ; dass es in Galiläa gerade in dieser Zeit zu
Synagogenbauten kommen konnte, war lediglich der Schwäche der christlichen
Sache geschuldet.
2.2.2. Der Humanismus und das Judentum
Im Spätmittelalter begann das Gebiet der Hebraistik zunächst
innerhalb des Judentums selbst zu blühen. Aber auch Christen interessierten
sich bald für das Hebräische und gingen dazu bei Rabbinern zur
Schule , standen aber unter dem Verdacht, innerhalb der Kirche das Judentum
verbreiten zu wollen. Das ist auch Johannes Böschenstein widerfahren.
Luther hatte die Errichtung eines Lehrstuhls für Hebräisch an
der Universität Wittenberg gefördert und Böschenstein wegen
seiner philologischen Fähigkeiten geschätzt , ihn aber in einem
Brief an Johann Lang wie folgt charakterisiert: „ille noster Bossenstein,
nomine Christianus, re vera Judaissimus.“ Zwei Momente sind für
diese Diastase verantwortlich zu machen: 1. Christliche Hebraistik zielte
auf Bekehrung der Juden, nicht auf eine interessenfreie Wahrnehmung des
Judentums; 2. Vom Judentum wusste Luther nur, was er wissen wollte, „praktisch
nichts Authentisches. Ihm genügten die Informa-tionen, die ihm die
antijüdische Polemik an die Hand gegeben hatte.“
2.3. Entwicklung bei Luther
Die Unterscheidung des judenfreundlichen jungen und des judenfeindlichen
alten Luther ist zu korrigieren: Luther war von Anfang an der Auffassung,
das Judentum, soweit es sich nicht zu Christus bekehrt, sei verworfen.
In den Dictata super Psalterium von 1513 bis 1516 findet sich die übliche
altkirchliche Polemik gegen die Juden zur Zeit Jesu, aus einer christolo-gischen
Lektüre des Alten Testaments resultierend, bei Luther allerdings
ins erheblicher Verdichtung, bedingt durch seine Konzentration auf den
gekreuzigten Christus. Die Juden sind die Feinde Christi und sind hochmütig
in seiner Ablehnung , wofür sie bis heute gestraft werden ; sie verstehen
die Heilige Schrift nur wörtlich, aber nicht geistlich. Ps 109 [108]
ist aber bereits hier bei Luther, alter Tradition folgend, ein Psalm,
der sich gegen Judas Iskariot wie die Juden gleichermaßen wendet
; Ps 109,6 („ein Satan stehe zu deiner Rechten“) wird denn
auch wie selbstverständlich mit Joh 8,44 (Juden als Vater des Teufels)
kommentiert. Auch in der Römerbriefvorlesung von 1515/16 folgt Luther
teilweise altkirchlichem Denken, wenn er bei dem ohnehin problematischen
Text Röm 2,17 wieder die Unterscheidung zwischen „Dienst im
Buchstaben statt im Geist“ einführt.
Im Galaterkommentar von 1519 ist die Polemik vergleichsweise verhalten.
Dort wird das Stichwort superbus auch gegen die christlichen Verfechter
des freien Willens gerichtet. Gal 1,13f., im Verbund mit Phil 3,7 (stercora,
Kot) ausgelegt, wird nicht zur Polemik gegen die Juden, sondern zur Polemik
gegen die naturae praedicatores et moralium operum laudatores“ verwendet.
In den Operationes in Psalmos von 1519 wird die cathedra pestilentiae
von Ps. 1,1 auf die Häretiker ausgelegt , von den Juden fällt
kein Wort.
1523 rechnet er in seiner immerhin in neun Auflagen erschienenen Schrift
„Dass Jesus Christus ein geborener Jude sei“ noch mit der
Bekehrung von Juden und konnte kritisch die Schuld von Christen an der
jüdischen Ungläu-bigkeit festhalten. Hingegen ist durch sein
eigenes Wirken, das Evangelium von allen menschlichen Zusätzen zu
reinigen, die Bekehrung von Juden nicht nur möglich geworden, sondern
im Sinne einer Forderung auch unausweichlich. Soziale Konsequenzen sind
damit ebenfalls verbunden: Man muss den Juden Gelegenheit geben, dass
ihnen nicht nur das Zinsnehmen als Erwerbsquelle bleibt; man soll keine
Gewalt mehr gegen Juden anwenden und keine Lügen über sie verbreiten.
Man kann mit Ernst Ludwig Ehrlich fragen, ob die Bekehrung eines Juden
unter dem Eindruck der Predigten Luthers erfolgt, dafür Pate stand;
Jakob Giher hatte sich 1519 in Göppingen taufen lassen und lehrte
von 1521 bis 1523 in Wittenberg Hebräisch.
Nach 1523 ändert sich das jedoch. Peter von der Osten-Sacken
verweist auf eine Begegnung Martin Luthers mit drei jüdischen Besuchern
Ende 1525 oder Anfang 1526, die ihn offenbar die Erfolglosigkeit seiner
bisherigen Judenfreundlichkeit hat spüren lassen. Die Historizität
dieser Begegnung ist umstritten. In einer Predigt am 25. November 1526
kommt Luther wie folgt darauf zu sprechen.
Ich habe selbst mit den Juden davon geredet, auch mit den allergelehrtesten
… und habe ihnen diesen Spruch vorgehalten. Aber sie konnten nichts
wider mich aufbringen. Zuletzt gaben sie diese Antwort und sagten, sie
glaubten ihrem Talmud, das ist ihrer Auslegung, die sagte nichts von Christus,
und derselben Auslegung müssten sie folgen. Darum bleiben sie nicht
bei dem Text, suchen Ausflüchte; denn wo sie bei diesem Text allein
blieben, wären sie überwunden. Denn dieser Spruch schließt
[= besagt] zu stark, dass dieser Same Davids sei ein wahrer und natürlicher
Gott; denn er soll mit dem Namen genannt werden, damit [= mit dem] der
wahre, rechte Gott genannt wird.“ (WA 20, 569, 31 – 570, 12).
Soweit man die Vorgänge rekonstruieren kann, hielten
die jüdischen Gesprächspartner an der Ablehnung des gekreuzigten
Jesus fest und wollten, bedingt durch die Traditionstreue, der christologischen
Schriftauslegung Luthers nicht folgen. Im späteren Rückblick
verweist Luther auf die Bezeichnung Christi als eines „Thola“,
eines erhängten Schächers als Grund für seine veränderte
Haltung. In der 1526 verfassten Auslegung von „Vier tröstliche[n]
Psalmen an die Königin zu Ungarn“ behandelt Luther Ps. 37;
62; 94; 109, letzteren unter Einschluss der bereits altkirchlichen Parallelordnung
des Judas Iskariot und der Juden.
1536 werden die Juden von Kurfürst Johann Friedrich aus Sachsen vertrieben.
Josel von Rosheim, der schon öfters als Anwalt der jüdischen
Sache im Reich hervorgetreten war, will zu ihren Gunsten intervenieren
und ersucht, mit Empfehlungsbriefen der Straßburger Reformatoren
Martin Bucer und Wolfgang Capito ausgestattet, Luther um eine Vermittlung.
Luther erteilt ihm eine Absage: Die 1523 geforderten Erleichterungen seien
als Voraussetzung ihrer gnädigen Hinführung zu ihrem Messias
durch Gott selbst gedacht gewesen, hätten jedoch nicht zum Ziel gehabt,
sie in ihrem Irrtum zu bestärken, d.h. in ihrer Weigerung, Christen
zu werden ; sie seien von den Juden missbraucht worden. Nachrichten über
die – wie umfangreich auch immer ausfallende – Missionstätigkeit
von Juden in Mähren haben Luthers „Brief wider die Sabbater
an einen guten Freund“ an Graf Wolfgang Schlick zu Falkenau in Nordböhmen
veranlasst. Dort argu-mentiert Luther mit Stereotypen, die aus der Geschichte
des christlichen Antijudaismus hinreichend bekannt sind (Zerstörung
des Tempels als Strafe für die Ablehnung Jesu).
Eine nicht mehr erhaltene jüdische Gegenschrift veranlasst
Luther 1543 zu der umfangreichen Schrift „Von den Juden und ihren
Lügen“ , der er unter Aufnahme einer jüdischen Legende
über Jesus als Zauberer die Schrift „Vom Schem Hamphoras und
vom Geschlecht Christi“ folgen ließ; diese Schrift ist voll
von unflätig grobem Vokabular mit Einbeziehung des Fäkalbereiches.
Die im selben Jahr 1543 veröffentlichte Schrift „Von den letzten
Worten Davids“ , eine Auslegung von 2Sam 23,1–7, ist nochmals
Beispiel für Luthers trinitätstheologisch und christologisch
motivierte Exegese. Im einzelnen greift Luthers Schrift „Von den
Juden und ihren Lügen“ zunächst den Selbstanspruch der
Juden an, Gottes Volk zu sein, dann ihre Mitte um den Messias, was die
Leugnung der Messianität Jesu und der christologischen Schriftauslegung
in sich schließt, schließlich angebliche Beleidigungen jüdischerseits
gegen Jesus und seine Mutter als eine Hure. Daran schließen sich
die bekannten Forderungen an, die auf völlige religiöse und
soziale Verelendung der Juden zielen : Verbrennung der Synagogen (begründet
mit Dtn 13,13ff.), Zerstörung der Häuser, Unterbringung unter
einem Dach oder Stall, Wegnahme von Gebetbüchern und Talmud, Lehrverbot
für Rabbinen, Aufhebung freien Geleits, Verbot des Geldverleihs mit
Zinsannahme, Wegnahme alles Barvermögens und aller Wertsachen, Beraubung
und Vertreibung. Begründet wird das alles immer wieder damit, dass
die Juden den Glauben an Christus lästern, und dass sich Christen
auch nicht durch Duldung an diesen Sünden beteiligen sollen. Wiederholt
verweist er auf die nunmehr 1500 Jahre Predigt durch Christus, die die
Juden eigentlich zum Glauben bringen müsste , und auf das Schicksal
der Juden um 70. Die Rabbinen entstellen Moses wie bei den Christen der
Papst Christus und sein Wort entstellt. Letztlich sieht er die Verbohrtheit
Israels mit Dtn 28,28 als Ausdruck Göttlichen Strafhandelns („Gott
wird dich schlagen mit Wahnsinn, Blindheit und Rasen des Herzens“),
das Schicksal Israels als Ausdruck göttlichen Zorns nach Jer 4,4;
Lk 3,17. Auch in der Schrift „Vom Schem Hamphoras und vom Geschlecht
Christi“ äußert Luther ähnliche Gedanken: Wenn schon
bei den Christen nur wenige sich bekehren ließen – gemeint
ist: zu dem von ihm wieder entdeckten Evangelium –, sei das im Judentum
noch viel weniger der Fall. Die Juden sind für Luther schlichtweg
„Teuffels Kinder“.
Was Luther hier literarisch äußert, findet man
auch in seinem politischen Handeln in diesen Jahren. Luther hat gegen
eine allzu sehr den Juden gewogene Politik in Brandenburg (1543) wie in
Mansfeld (1546, in der letzten Predigt vor seinem Tod) Stellung bezogen.
Für diese ausufernde Polemik bei Luther sehe ich drei Gründe:
1. Luther hat die genannte Begegnung mit den Juden, die bei ihm nur ein
einziges Mal überhaupt stattgefunden hat, verallgemeinert. 2. Er
hat sich bei der Beschreibung dessen, was Juden gegen Christus lästern,
i.w. von antijüdischer Polemik früherer christlicher Schriftsteller
oder Konvertiten leiten lassen. 3. Er hat zunehmend weniger mit der Möglichkeit
der Bekehrung von Juden gerechnet. Zusätzlich kann man mit Peter
Von der Osten-Sacken die unbewusste Ahnung Luthers erwägen, dass
die jüdische Auslegung des Alten Testaments doch textgemäßer
sei als seine eigene.
Nach Reinhard Schwarz ist „im lutherischen Protestantismus
bis ins 19. Jahrhundert keine nennenswerte Rezeption dieser späten
Schriften Luthers zu verzeichnen.“ Hingegen haben sich im 20. Jhdt.
einige führende Köpfe des Antisemitismus auf Martin Luther und
seinen Antijudaismus berufen, wie Günther Ginzel u.a. an Max Wundt,
Theodor Fritsch und Alfred Falb nachweist. Aber auch christliche Theologen
dieser Zeit knüpften an diese Schriften des späten Luther an!
In Mecklenburg forderte Landesbischof Walter Schultz alle Pastoren in
einem „Mahnwort zur Judenfrage“ am 16. November 1938 auf,
Luthers „Vermächtnis“ zu erfüllen und dafür
zu sorgen, dass die „deutsche Seele“ nun keinen Schaden erleide,
sondern die „deutschen Menschen“ ohne „falsche Gewissensbeschwerung
getrost alles daran setzen, eine Wiederholung der Zersetzung des deutschen
Reiches durch den jüdischen Ungeist von innen her für alle Zeiten
unmöglich zu machen.“ Adolf Hitler, nicht „der Jude“,
habe am deutschen Volk „Barmherzigkeit getan“, so dass ihm
und seinem „dem deutschen Volk aufgetragenen Kampf gegen die Juden“
die Nächstenliebe, Treue und Gefolgschaft der Christen zu gelten
habe. DC-Bischof Martin Sasse veröffentlichte am 23. November 1938
die Schrift „Martin Luther über die Juden: Weg mit ihnen!“
Darin stellte er ausgewählte Lutherzitate unter dem Leitmotto von
Joh 8,44 („Ihr habt den Teufel zum Vater…“) so zusammen,
dass die nationalsozialistische Judenverfolgung als direkte Erfüllung
von Luthers Forderungen erschien. Auf die Existenz des „Instituts
zur Erforschung und Beseitigung des jüdischen Einflusses auf das
deutsche kirchliche Leben“ in Eisenach, gegründet durch Walter
Grundmann auf Wunsch des Kirchenministers Hanns Kerl, muss hier nur verwiesen
werden. Richtig ist zwar, dass Martin Sasse selbst bei den Deutschen Christen
als „Außenseiter“ gegolten hat. Allerdings: Von anderen
Kirchenführern ist mindestens kein deutliches Wort gegen die Judenverfolgung
bekannt geworden.
Nach 1945 haben vor allem lutherische Kirchen in Deutschland
recht spät und anfangs nur zögerlich sich an die Aufarbeitung
des Themas „Luther und die Juden“ gemacht. Noch 1983 konstatiert
Heinz Kremers auf Seiten der EKD eine Beschränkung des Themas „Martin
Luther und die Juden“ auf die Schrift von 1523 und eine verharmlosende
Sicht der polemischen Spätschriften, als ob diese nicht die Frage
nach antijudaistischen Tendenzen in Luthers Theologie insgesamt in sich
schließen. Hingegen hat eine interna-tionale Kommission des Lutherischen
Weltbundes im Juli 1983 in Stockholm nach einem Treffen mit Vertretern
der jüdischen Welt-gemeinschaft formuliert:
„Wir Lutheraner leiten unseren Namen von Martin Luther ab, dessen
Verständnis vom Christentum auch weitgehend unsere Lehrgrundlage
bildet. Die wüsten antijüdischen Schriften des Reformators können
wir jedoch weder billigen noch entschuldigen. Lutheraner und Juden legen
die hebräische Bibel unterschiedlich aus, aber wir glauben, daß
eine christologische Deutung der Schrift nicht zu Anti-Judaismus und schon
gar nicht zu Antisemitismus führen darf… Wir stellen mit tiefem
Bedauern fest, daß Luthers Name zur Zeit des Nationalsozialismus
zur Rechtfertigung des Antisemitismus herhalten mußte und daß
seine Schriften sich für solchen Mißbrauch eignen… Die
Sünden von Luthers antijüdischen Äußerungen und die
Heftigkeit seiner Angriffe auf die Juden müssen mit großem
Bedauern zugegeben werden. Wir müssen sich dafür sorgen, daß
eine solche Sünde heute und in Zukunft in unseren Kirchen nicht mehr
begangen werden kann.“
Die Lutherische Europäische Kommission Kirche und Judentum (LEKKJ)
forderte 1990, dass auch „Grundschemata lutherischer Theologie und
Lehre, wie ‚Glaube und Werke‘, ‚Verheißung und
Erfüllung‘, ‚Zwei Regimente/Zwei Reiche‘ im Blick
auf ihre Auswirkung auf das christlich-jüdische Verhältnis neu
bedacht werden“. 1998 forderte die lutherische Landeskirche Bayern
als erste EKD-Mitgliedskirche: Luthers „Kampfschriften gegen die
Juden“ und alle Stellen, „an denen Luther den Glauben der
Juden pauschalisierend als Religion der Werkgerechtigkeit dem Evangelium
entgegensetzt“, gelte es „wahrzunehmen, ihre theologische
Funktion zu erkennen und ihre Wirkung zu bedenken“. Die Lutherischen
Kirchen müssten sich nicht nur inhaltlich davon distanzieren, sondern
Ursachen, Motive und Wirkungsgeschichte erforschen und kritisieren. 2011
erinnerte die LEKKJ an Reformatoren wie Urbanus Rhegius und Andreas Osiander,
die den Dialog mit Juden gesucht und sich für ihre Rechte eingesetzt
hätten. Diese Vorbilder seien stärker in den Kirchengemeinden
zu beachten.
2.4. Rechtfertigung und antijüdische Polemik
bei Luther
2.4.1. Die Römerbriefvorlesung
von 1515/16
Traditionelle christologische Lektüre des Alten Testaments
und speziell eine von Augustinus herrührende Theologie der humilitas
bedingen, dass die Rechtfertigungslehre Luthers auch antijüdische
Komponenten in sich trägt. Röm 4,1 wird als Textpragmatik die
Confutatio „incredulitatis et superbiae Iudaeorum“ zugesprochen
; zu Röm 8,3 werden die (damaligen) Juden und die „bis heute
Hochmütigen“ parallelisiert, die in ihrem Hochmut die Aussagen
„Sprich zu uns, und wir werden hören“ (Ex 20,19) und
„Alles, was der Herr gesagt hat, wollen wir tun“ (Ex 19,8)
in Anspruch nehmen. Den Begriff promissa in Röm 9,3 glossiert Luther
mit den Worten: de Christo et futura vita. Röm 10,2 wird mit einer
Anspielung an Sokrates kommentiert, der Philosoph gegen die Juden in Anspruch
genommen ; Röm 10,3 ist über diejenigen gesagt, die sich der
geforderten Demut verweigern.
Aus dem Geschick der nicht an Jesus glaubenden Juden wie der Häretiker
erwächst die Mahnung zu Gottesfurcht. Davon, dass am Ende der Tage
die Juden zum Glauben finden (Röm 11,25), würde niemand sich
klar aus dem Text bezwingend überzeugen lassen, wenn er nicht der
Autorität der Väter folgen will, die den Apostel so auslegen.
Luther weiß um die Parallelen in Lk 21,23f.; Dtn 4,20f.; Hos 3,4f.;
5,12; Mt, 23,38f. Trotz dieser Parallelen hat Luther nie ein inneres Verhältnis
zu dieser Verheißung gefunden.
2.4.2. Der Galaterkommentar von 1519
Im Galaterkommentar von 1519 wird das Stichwort superbus gegen die christlichen
Verfechter des freien Willens gerichtet. Gal 1,3f., im Verbund mit Phil
3,7 (stercora, Kot) ausgelegt, wird im Galaterkommentar nicht zur Polemik
gegen die Juden, sondern zur Polemik gegen die naturae praedicatores et
moralium operum laudatores verwendet. Hingegen gelten zu Gal 4,10 die
jüdischen Feste als Ausdruck des Aberglaubens.
2.4.3. Der Galaterkommentar von 1531
Zu Gal 1,13f. stellt Luther eine Analogie her zwischen dem Vergleich des
Paulus zwischen seinem eigenen Eifer für das Gesetz und dem geringeren
Eifer der falschen Apostel in Galatien und dem Kontrast zwischen seinem
eigenen monastischen Eifer und dem Eifer derer, die ihn heute verfolgen.
Die „Papisten“, gegen die sich die Auslegung von Gal 2,16
vornehmlich richtet, werden als die caeci isti et caecorum duces (Mt 23,16)
bezeichnet. Die Theologie des Antichristen, die Lehre vom meritum gratiae
de congruo, macht die Gnade Gottes und die Sündenvergebung, die Verheißung,
den Tod und den Sieg Christi eigentlich überflüssig. Solche
Blasphemie ist etwas für Türken und Juden, aber nicht für
die Kirche Christi; weder hat der Papst mit seinen Bischöfen, Gelehrten,
Mönchen etc. irgendeine Erkenntnis noch ist ihm die Sorge um das
Heil der Gläubigen – Luther vergleicht sie einer verlassenen
Herde – ein Anliegen. Die Vorstellung durch gute Werke könne
der Mensch bewirken, dass die Gnade dann als habitus seinem Willen innewohnt
, ist eine impia et pestilens persuasio est, quia non facit nisi Turcam,
Iudaeum, Anabaptistam aut Phanaticum. Juden sind neben Türken,
Wiedertäufern und Fanatikern das negative Gegenüber. Das Stichwort
superbia fällt nicht; die Lehre der Scholastiker ist aber für
Luther letztlich mit abzulehnenden jüdischen Lehren konform. Zu Gal
3,14 spricht sich wieder eine aus christologischer Lektüre des Alten
Testaments erwachsene Standardpolemik Bahn: die auf die Segnung der Glaubenden
durch den Tod Christi zielende Verheißung kann den verblendeten
und verhärteten Juden kein Genüge tun.
2.4.4. Die fünf Disputationen
zu Röm 3,28 von 1535 – 1537
Die fünf Disputationen über Röm 3,28, zwischen 1535 und
1537 verfasst und 1538 veröffentlicht, sind keineswegs durchgehend
antijüdischer Polemik verpflichtet. Trotzdem sind polemische Muster
auch hier wirksam: Wie der Mensch ohne Christus eine Ziege melken, ein
Pferd füttern oder ein Haus bauen kann, wie es die Heiden getan haben,
so kann er auch ohne Christus Gewänder waschen, das Haar scheren,
an bestimmten Tagen feiern, Opfertiere schlachten oder Leuchten anzünden,
wie es die gottlosen Priester getan haben, die Mörder Christi und
der Propheten.“ Negativ-Klischees über Pharisäer sind
wirksam in folgender Gegenüberstellung: Erkennt man das Gesetz, weiß
aber nichts von der Gnade, treibt das in die Verzweiflung. Erkennt man
das Gesetz nicht und verachtet man Gottes Zorn, so führt das in die
Haltung des selbstsicheren Heuchlers und hochmütigen Pharisäers,
den Luther mit Worten aus Lk 18 charakterisiert: „Ich bin nicht
wie die anderen Leute, die ungerechten…“. Auch die Gegenüberstellung,
dass der faule und geschwätzige Sophist zwar vom Gesetz und von den
Werken viel schwätzen kann, sie aber selbst nicht tut , ist implizit
durch Mt 23 geprägt.
In den antijüdischen Spätschriften von 1543 habe ich keine rechtfertigungstheologischen
Bezüge gefunden, in den Thesen De fide iustificante vom
April 1543 keine antijüdischen Spitzen.
2.5. Auswertung
Antijudaismus ist bei Luther in dreifacher Richtung zu charakterisieren.
Traditionell ist Antijudaismus, aus altkirchlichen wie mittelalterlichen
Traditionen herrührend, da gegeben, wo Luther die Juden anhand ihres
Geschickes nach 70. n. Chr. zu einem Negativbeispiel für die Auswirkungen
göttlichen Zornes erhebt. Strukturell ist Antijudaismus da gegeben,
wo er, was allerdings nicht eben häufig ist, die Juden zur Zeit Jesu
in ihrer Ablehnung der Rechtfertigung allein aus Glauben parallelisiert
mit der Ablehnung der reformatorischen Verkündigung durch die altgläubige
Seite. Aktuell ist Polemik da gegeben, und zwar in schlimmer Diktion,
wo Luther in dem Anliegen, dass staatlicherseits keine Lästerung
Christi geduldet wurde, die bekannten eliminatorischen Ansätze zeigt.
Diese aktuelle Polemik nimmt hauptsächlich traditionelle Motive auf.
Aus dieser Befundbeschreibung bei Luther erwachsen Mahnungen an uns selbst,
an unsere eigene Lehr- und Predigtpraxis:
- Wo werden einzelne Menschen oder Menschengruppen zu Negativtypen? Schaffen
wir es, bei aller notwendigen Kritik auch die Grenzen unserer Kritik nicht
nur im Herzen zu haben, sondern auch inmitten der Kritik zu formulieren?
- Die Konsequenz ist naheliegend, dass man nicht gegen andere polemisiert,
sondern sich selbst kritisch hinterfragt, wie man schon auch drauf insistieren
muss, das bei traditioneller protestantischer Passionsfrömmigkeit
nicht der Antijudaismus, sondern das „Ich bin’s, ich sollte
büßen“ im Vordergrund stand. Doch wie gelingt es, angesichts
neuzeitlicher Einsicht in die negativen Folgerungen von Religion auch
für die menschliche Psyche (Tilman Moser, Gottes-vergiftung) den
Wahrheitsgehalt des „Ich bin’s, ich sollte büßen“
wachzuhalten?
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