Rechtfertigung - ein jüdischer Glaubenssatz

von Stefan Meißner

Kritische Anmerkungen zur gemeinsamen Erklärung von Katholiken und Protestanten zur Rechtfertigung

Der Jude hinter uns
"Stets Theologie zu treiben, als ob uns ein Jude über die Schulter schaute", das gab Dietrich Ritschl in Heidelberg uns Studierenden mit auf den Weg. Nicht aus schlechtem Gewissen wegen der Millionen von Leichen im Keller der Kirchengeschichte, sondern um unserer eigenen "Sache" willen - der Sache Jesu, jenes Rabbi aus Nazareth, der vor rund 2000 Jahren als Jude lebte und starb. Besser noch wäre freilich ein "echter" Gesprächspartner aus Fleisch und Blut, doch bei den Diskussionsforen, die die "Gemeinsame Erklärung" vorbereiteten, waren wohl die "Fachleute" aus beiden Kirchen unter sich. So müssen wir mit einem imaginären Juden (es darf auch eine Jüdin sein!) vorlieb nehmen, wenn wir nun die Frage erörtern, ob dieses Papier denn "koscher" sei. Oder genauer: Ob es mit der unheilvollen Geschichte christlicher Judenfeindschaft wirklich bricht oder hier nur neuer Wein in alten Schläuchen verkauft wird. Ich befürchte, - um das Ergebnis meiner Überlegungen schon vorwegzunehmen - an der ein oder anderen Stelle müsste ein Jude beim Lesen tief durchatmen. Der erreichte Konsens ist zwar nirgends explizit antijüdisch, aber doch stellenweise arg "israelvergessen". Wo offene Fragen zwischen den beiden Großkirchen angesprochen werden, dürfte sich der jüdische Leser gedanklich zumeist auf die katholische Seite schlagen. An einigen Beispielen möchte ich das exemplarisch aufzeigen.

Nur ein Nebenkrater?
Auch wenn das in einer Kirche der Reformation vielleicht nicht so gern gehört wird: Der unvoreingenommene Beobachter wird, nimmt er das Ganze der Heiligen Schrift zum Maßstab, sich fragen müssen, ob der hohe Stellenwert der Rechtfertigungslehre in der theologischen Auseinandersetzung zwischen den Konfessionen überhaupt angemessen ist. Auf protestantischer Seite wird sie ja gerne geradezu als "Kanon im Kanon" betrachtet. Doch findet sich bei genauerem Hinsehen das betreffende Wortfeld fast nur in den Paulusbriefen, selbst dort in abgestufter Häufigkeit. Auch wenn die Rechtertigungslehre mehr als nur ein "Nebenkrater" (Albert Schweitzer) paulinischer Theologie ist, und die Sache, um die es hier geht, weiter verbreitet ist als die entsprechenden Begriffe, wird man vor einer reduktionistischen Sichtweise warnen müssen.

Recht und Gerechtigkeit in der hebräischen Bibel
Eine solche scheint mir vorzuliegen, wenn die Fülle alttestamentlichen Redens über Recht und Gerechtigkeit auf den hölzernen Satz reduziert wird: "Im AT hören wir das Wort Gottes von der menschlichen Sündigkeit und vom menschlichen Ungehorsam sowie von der Gerechtigkeit und vom Gericht Gottes." Unser jüdischer Gesprächspartner, der hier ja beileibe mitreden kann, wird sich fragen: Ist das wirklich alles, was die hebräische Bibel zum Thema zedaka zu sagen hat? Ihm wird einfallen, daß dort eben nicht nur von der Gerechtigkeit Gottes (schon gar nicht ausschließlich von einer richtenden!), sondern auch von der des Menschen die Rede ist: "Der Herr kennt den Weg der Gerechten" (Ps 1,6). Es gibt ihn also, den gerechten Menschen, wenn auch nicht aus eigener Kraft und Herrlichkeit.

Pessimistische Anthropologie
Überhaupt wird dem Juden hinter uns auffallen, daß in der Erklärung viel zu oft vom "Unvermögen und der Sünde des Menschen" die Rede ist. Natürlich gibt es das - wer wollte es leugnen? - , aber es gibt auch das andere: die Umkehr (teshuva) zu Gott, die Chance, das gestörte Gottesverhältnis wieder ins Reine zu bringen. Schon immer haben Menschen Schuld auf sich geladen, aber ebenso hat Gott schon immer Sühnemöglichkeiten angeboten, um zu vermeiden, daß der Sünder an den Folgen seines Tuns zugrunde geht. Und das, jedenfalls aus der Perspektive des Judentums, auch ohne Christus (im AT durch Opfer, im Judentum bis heute durch den Versöhnungstag). Ich höre schon den Einwand christlicher Theologen, die Sünde sei doch wohl mehr als nur ein Tun oder Lassen, sondern ein Grundübel unserer "fleischlichen" Verfassung, eine "Verderbtheit" unserer Natur. Doch unseren jüdischen Gesprächspartner, wenn er eine humanistische Bildung genossen hat, wird sich bei diesen Sätzen eher an den platonischen Dualismus mit seiner Leibfeindlichkeit erinnert fühlen als an die Bibel. Mit seinem Unbehagen gegenüber diesem pessimistischen Menschenbild steht er dem neuzeitlichen Denken und Fühlen allemal näher als einer Kirche, die es sich noch immer nicht ganz abgewöhnt hat, Menschen zuerst so richtig in den Staub zu treten (Gesetz), um ihnen dann anschließend wieder auf die Beine helfen zu können (Evangelium).

Dichotomisches Gottesbild
Dieser anthropologische Dualismus, der am natürlichen Menschen gar nichts mehr Gutes findet, schlägt im Christentum (im Protestantismus mehr als im Katholizismus) durch auf das Gottesbild. Dem strengen Richter im Himmel, mit dem die mittelalterliche Kirche die Gläubigen ängstigte und so unter Kontrolle hielt, wurde durch die Reformation der leidende Christus hinzugesellt, der dessen Zorn besänftigt. Dem Gott des Gesetzes wurde der Gott der Gnade gegenübergestellt. Dieser diente jenem oft nur als der dunkle Hintergrund, vor dem er sich um so heller abheben kann (opus proprium/opus alienum). Diese Dichotomie, die gerade das lutherische Denken bis in unser Jahrhundert (R. Bultmann!) hinein pflegte, steht in gefährlicher Nähe zur marcionitischen Häresie. Zwar kennt auch das klassische Judentum die Gegenüberstellung der beiden Aspekte Gottes: Recht (midat ha-din) und Gnade (midat ha-rachamim), nie aber fallen diese so auseinander wie im Protestantismus, oder sagen wir es präziser: wie im Luthertum, denn die reformierte Kirche setzt hier gewiß noch einmal andere Akzente (K. Barth!).

Das Gesetz als Heilsweg?
Der Jude, der in der Erklärung liest, das Gesetz sei "als Weg zum Heil überwunden", fragt sich unwillkürlich, wer denn das Gesetz zum Heilsweg erklärt habe. Das Judentum war jedenfalls nie dem Wahn verfallen, man könne sich mit guten Werken den Himmel verdienen. Das Gesetz ist und war für Juden Gottes gute Weisung, für die man dankbar ist, an der man gewiß auch punktuell scheitert, die man deshalb aber noch lange nicht abschüttelt wie eine lästige Fliege. Wer jemals Simchat-Tora, das jüdische Fest der Gesetzesfreude, miterlebt hat, dem wird die Warnung der beiden Kirchen vor "jüdischer Gesetzlichkeit" (Malta-Bericht, 1972) wie Hohn in der Ohren klingen. Immerhin kennt die gemeinsame Erklärung das Gesetz nicht nur als "Forderung" und "Anklage", sondern hebt (wohl auf kathol. Drängen) hervor: Die Gebote bleiben auch für den Christen in Geltung "als Richtschnur seines Handelns". Hier schimmert neben dem überführenden Gebrauch (usus elenchticus) des Gesetzes, so etwas wie ein dritter Gebrauch durch (tertius usus legis), von dem das Luthertum lange Zeit nichts wissen wollte. Wie aber paßt das zu der sonst üblichen Sprachregelung, daß Christus "des Gesetzes Ende" (nach einer problematischen Übersetzung von Röm 10,4) sei? Wenn die atl. Gebote nichts weiter sind als "der Juden Sachsenspiegel" (Luther), dann fragt man sich, woher eine biblisch begründete Ethik ihre Normen bezieht. Etwa nur aus dem NT, vielleicht noch garniert mit dem Dekalog (um den es doch wirklich zu schade wäre...)?

Zwischen Biblizismus und Libertinismus
Doch wird gleich eingeschränkt: Die Bergpredigt taugt angeblich nur für den privaten Bereich (verhängnisvolle Spätfolge der oben beschriebenen Dichotomie!!). Auch manches, was Paulus in den paränetischen Schlußteilen seiner Briefe zum Besten gibt, finden wir eher peinlich: Verbot der Wiederverheiratung Geschiedener, Verurteilung von Homosexualität, "Das Weib schweige in der Gemeinde!" und...und...und. Da sucht sich jeder eben nach seinem Gusto heraus, was ihm gefällt. Eine hermeneutische Reflexion dessen, was in der Kirche gilt – Fehlanzeige! Die einen kleben biblizistisch am Wortlaut der Schrift (bzw. einer Hälfte davon!) und tappen so in die Falle des Fundamentalismus, die anderen halten´s mit Augustin: "Liebe und tue (sonst) was du willst!" Die Folge: Anarchie im Ethos! Keiner weiß, wo es lang geht. Jüngstes Beispiel: Der Kosovo-Krieg, wo die Kirche in peinlicher Geschlossenheit die öffentliche Meinung widerspiegelte, statt sie zu beeinflussen.

Schrift und/oder Tradition?
Interessiert dürfte unser jüdischer Freund auch verfolgt haben, wie weit sich die katholische Seite dem protestantischen Schriftprinzip angenähert hat. Dabei dürfte ihm der katholische Standpunkt "Schrift und Tradition" aufgrund seines eigenen religiösen Hintergrundes sympathischer sein. Abgesehen von der Sekte der Karäern hat es bis heute keine jüdische Strömung gegeben, die die Schrift ohne die Kommentare der Rabbinen rezipierte. Schon Luther regte sich in seinem Pamphlet "Wider die Sabbather" (1538) auf, daß die Juden, wo immer er sie mit der Schrift "überführen" wollte, ihm entgegneten: Was euch Christen Papst und Decrete sind, ist uns die Auslegung der Rabbinen (WA, 323). So wird die mündliche Tora (der Überlieferung nach dem Mose am Sinai zusammen mit der schriftlichen Tora übergeben und damit gleich autoritativ wie diese!) bis heute in einem Generationen übergreifenden Diskussionsprozeß weiterentwickelt. Selbst für Gegenwartsfragen wie die Gentechnik, die weit jenseits des Problemhorizonts der biblischen Schriftsteller liegen, lassen sich so methodisch nachvollziehbar Kriterien gewinnen, die jedem einzelnen eine Orientierung ermöglichen.

Solus Christus?
Was wird der Jude hinter meinem Rücken wohl denken, wenn er hört: "Alle Menschen sind zum Heil in Christus berufen"? Wirklich alle? Auch die Juden? Die Exklusivität des Solus Christus könnte ihn an die Zwangstaufen erinnern, die viele Juden im Laufe der Jahrhunderte über sich ergehen lassen mußten, um ihr Leben zu retten. "Niemand kommt zum Vater denn durch mich", spricht der johanneische Christus. Doch unser Jude mag mit Franz Rosenzweig entgegnen: "Wir sind schon da, beim Vater. Wir waren schon da, lange bevor ihr Heidenchristen hinzugekommen seid!" Und damit dürfte er Recht haben: "Rechtfertigung der Sünder" hatte bei Paulus noch den konkreten Sinn: Rechtfertigung der Heiden, die Christen werden wollten, ohne vorher Juden zu werden (vgl. Gal 2,15!). Doch schon bald nach seinem Tod hat sich die Situation grundlegend geändert: Nun sind es die Juden, die sich rechtfertigen müssen für ihr Jude-Sein. Und so blieb es durch die Jahrhunderte, bis heute.

Verlust der sozialen Dimension
Beim Thema Rechtfertigung ging es Paulus also nicht um die abstrakte Frage "Wie kriege ich einen gnädigen Gott?", sondern um das ganz konkrete Problem einer Kirche aus Juden und Heiden, in der keiner auf den anderen herabsieht. Durch die Rezeption seiner Lehre durch Luther (vermittelt durch Augustin u.a.) ging diese soziale Dimension verloren. Während im atl.-jüdischen Kontext zedaka immer als Gemeinschaftsgerechtigkeit aufgefaßt wurde (so auch noch bei Paulus!), drehte sich fortan in der abendländischen Kirche alles um das eigene Seelenheil. Daß dieses aber nur in einem intakten Sozialgefüge möglich ist, ist eine schmerzhafte Lektion, die wir heute (wieder) langsam zu lernen beginnen!

Verlust der kosmischen Weite
Neben dieser individualistischen Engführung der paulinischen Rechtfertigungslehre ist eine weitere Verkürzung des ursprünglich Intendierten zu beklagen, die ich eine anthropologische Engführung nennen möchte. Die Rechtfertigung des Sünders, wie sie uns die gemeinsame Erklärung verkaufen will, wird völlig losgelöst von der endzeitlichen Erlösung, die alle Kreatur betrifft. Doch die Neuerschaffung des Menschen durch den Hl. Geist muß im Kontext einer universalen Erneuerung der Schöpfung gesehen werden – ein Wissen, das in den Ostkirchen übrigens noch wesentlich weiter verbreitet ist als bei uns hier im Westen. Woher dieser Verlust der kosmischen Weite in unserem theologischen Denken rührt - ob sie eine "Last des augustinischen Erbes" ist, wie D. Ritschl meint – will ich dahingestellt sein lassen. Klar dürfte sein, daß unsere Verantwortung als Christen für die (übrige) Schöpfung infolge dieser Sichtverengung chronisch unterentwickelt war. Hätten wir das Seufzen der nicht-erlösten Kreatur (Röm 8,18ff.) lauter gehört, vielleicht wäre unser Umgang mit der Natur solidarischer gewesen. Hier wie bei all den anderen Themen, die ich in diesem Aufsatz angesprochen habe, hätte ein genaueres Hinhören auf das atl.-jüdische Erbe eine Bereicherung unserer Glaubensüberlieferung bedeuten können. Bis heute gilt, daß die Wurzel uns trägt uns nicht umgekehrt. Es wäre deshalb unklug, die Stimme des Juden hinter unserem Rücken zu ignorieren, seine Bedenken gering zu achten. Weil wir uns der Möglichkeit eines lebendigen Dialogs mit den Juden durch den Völkermord im Dritten Reich fast gänzlich selbst beraubt haben, müssen wir die Aufgabe der kritischen Reflexion künftig selbst übernehmen: "Theologie treiben, als ob uns ein Jude über die Schulter schaute" – auch und gerade beim Thema "Rechtfertigung"!

 

Der Autor: Studium in Heidelberg und New York, ntl. Promotion bei Prof. Burchard zum Thema: "Die Heimholung des Ketzers. Studien zur jüdischen Auseinandersetzung mit Paulus" (Mohr/Tübingen, 1996), Mitglied des Arbeitskreises "Kirche und Judentum" der Pfälz. Landeskirche, derzeit Pfarrer im Schuldienst in Bad Bergzabern.

Aufsatz aus dem Pfälzischen Pfarrerblatt, Nr. 2, Februar 2000, 90. Jahrgang, S. 36-39

 

 

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