„Wenn die Jüden wieder in ihr Land kämen, wollt´ ich…“Martin Luthers negative Geschichtstheologievon Stefan Meißner |
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Kaum ein Thema ist in den christlichen Kirchen derzeit so umstritten wie die theologische Bedeutung der Rückkehr der Juden ins Gelobte Land oder der Staatsgründung Israels. Wenn man heute zurückhaltend ist, historischen Fakten wie diesen eine religiöse Dignität zuzuschreiben, dann hat das ganz sicher auch mit unserer jüngeren Geschichte zu tun. Nicht wenige Kirchenführer verliehen nämlich nach der Machtergreifung Hitlers dem ‚Führer‘ eine zusätzliche Legitimation, indem sie ihn als Werkzeug Gottes apostrophierten. Die Zurückhaltung gegenüber geschichtstheologischem Denken ist insofern durchaus nachvollziehbar, freilich war christliche Theologie in dieser Hinsicht nicht immer so abstinent. Jahrhunderte lang betrieb man Geschichtstheologie unter negativen Vorzeichen. Dann nämlich, wenn es darum ging, das Leiden von Jüdinnen und Juden als Teil des göttlichen Heilsplanes darzustellen. Einer, der sich dieses Denkmusters in extenso bediente, war der Wittenberger Reformator Martin Luther. Immer wieder in seiner Laufbahn, in ganz unterschiedlichen Kontexten, führte er den Geschichtsverlauf gegen die Juden ins Feld. Ein kleiner Rundgang durch Luthers Schriften soll das nun verdeutlichen. 1. Kleiner Rundgang durch Luthers Schriften 1.1. „Dass Jesus Christus ein geborner Jude sei“
(1523) Betrachtet man den Kontext dieser Passage, so geht es Luther hier darum, mit Hilfe alttestamentlicher Texte die Juden von der Messianität Jesu zu überzeugen. Er war nämlich in diesen Jahren durchaus noch von der Hoffnung beseelt, man könne bei ordentlicher Unterweisung in der Schrift etliche von ihnen für den christlichen Glauben gewinnen. Einerseits war das Judentum für Luther „prinzipiell keine legitime religiöse Möglichkeit mehr“, weshalb es eine Duldung für ihn nur auf Zeit geben konnte. Andererseits lehnte der frühe Luther, anders als viele seiner Zeitgenossen, Zwangsmaßnahmen gegen die Juden eindeutig ab: „Man sage ihnen gütlich die Wahrheit, wollen sie nicht, lass sie fahren!” In Glaubensfragen - das ist zumindest hier noch Luthers Standpunkt - gilt der Grundsatz: „Non vim, sed verbo“. Folgerichtig empfiehlt er, die Juden „freundlich“, „brüderlich“ und „nicht wie Hunde“ zu behandeln. Diese moderaten Ratschläge mögen zum Teil strategisch begründet gewesen sein. Dennoch kann man hier auch so etwas wie eine Solidarität der Sünder heraushören. Die Juden, die Christus kreuzigten, seien nicht schlimmer als andere Gottlose auf der Welt. Vielleicht spielt bei Luthers missionarischem Eifer tatsächlich ein „vitales apokalyptisches Endzeitbewusstsein“ eine Rolle, wie es Th. Kaufmann für die frühen 20er-Jahre bei ihm diagnostiziert hat. Messianisch inspiriert war jedenfalls die fast zeitgleich kursierende anonyme Flugschrift: „Von einer großen Menge und Gewalt der Juden“ (1523). Diese träumt von einer staatlichen Restitution Israels durch ein großes jüdisches Heer. Dass Luther dieses „Wunschbild einer bedrängten Judenheit“, sofern er überhaupt Kenntnis davon hatte, nicht billigen konnte, davon können wir ausgehen. Er ließ jedenfalls keinen Zweifel daran, dass das ewige Reich des Messias sich nicht auf vergängliche Machtmittel gründen könne. Während die Hoffnungen der Juden auf das kommende Reich als „leiblich“ abgetan werden, preist er das christliche Regiment als „geistlich“. Wiewohl er die fleischliche Herkunft Jesu aus dem Samen Davids in dieser Schrift durchaus positiv zu würdigen weiß, klingen hier bereits die vom Apostel Paulus übernommenen Dichotomien an, die der späte Luther dann zu unversöhnlichen Gegensätzen hochstilisiert. 1.2. „Vier tröstliche Psalmen an die Königin
von Ungarn“ (1526) All dieses Unheil sei über die Juden gekommen wegen des Fluches, der durch ihre Verwerfung Christi auf ihnen lastet. Der Verrat des Judas endete mit dessen Tod, er erhängte sich. Die Juden seien zwar nicht „äußerlich ausgerottet“, aber doch geistlich (d.h. als Volk Gottes) gestorben. Man hat Luthers Entgleisungen zu verharmlosen versucht, indem man behauptete, sie seien eher deskriptiver als polemischer Art. Doch hat er das Elend der Juden tatsächlich nur beschrieben, ohne es herbei zu wünschen? Es lässt sich kaum leugnen, dass der Wittenberger Reformator vollmundig einstimmt in die „Glaubensflüche“ Christi, die darauf abzielen, dass die Juden „untergehen und kein Glück mit ihrem Judentum haben sollen“. Nichts ist hier mehr zu spüren von einer Solidarität der Sünder, nur noch „lauter Eifer, Zorn, Rache und Fluch“. Luther scheint die Spannung deutlich zu spüren, in der diese Äußerungen zur Nächsten- und Feindesliebe stehen, die Jesus in der Bergpredigt einfordert. Doch rechtfertigt er seine Wutausbrüche mit Hilfe eines Gedankenkonstrukts, das an die Zwei-Reiche-Lehre erinnert: „Fluchen um Gottes Wort willen ist recht und billig, aber (fluchen) um deinetwillen oder, um dich selbst zu rächen (..), ist Unrecht.“ Da Luther sich also in seiner Predigt zum Sachwalter Gottes gegen die Juden macht, ist ihm alles erlaubt. Noch hält er sich zurück, was eine aktive Beteiligung der Christen am Strafgericht gegen die Juden angeht. Noch stellt er dieses Gericht dem Wirken Gottes anheim, aber auch diese Hemmung wird er in seinen Spätschriften noch ablegen. Was sich in dieser Psalmenauslegung bereits anbahnt, ist die Tendenz, die Bosheit der Juden mit deren Physis in Verbindung zu bringen: „So ist der Fluch und die Verstockung der Juden so ganz durch Herz, Mut und Sinn gegangen und durch Mark und Bein getrieben, daß da keine Hilfe noch Rat ist, sondern sie in der Hölle zerschmelzen werden müssen und davon doch nicht reingefegt werden.“ Wo Sünde wie hier vom Glauben entkoppelt und stattdessen an „Fleisch und Blut“ festgemacht wird, da hat ein Denken Einzug gehalten, das man aus dem Rückblick als protorassistisch bezeichnen muss. Es wäre eine Verharmlosung hier ‚nur‘ von Antijudaismus sprechen zu wollen. 1.3. „Brief wider die Sabbather an einen guten Freund“
(1538) Wie in den schon angeführten Schriften argumentiert der Reformator auch hier gegen die Juden mit der historischen Evidenz ihres Scheiterns: „Ist nun ihr Messias gekommen und Gottes Verheißung ist gehalten und erfüllet. Sie aber haben solches weder angenommen noch geglaubet, sondern Gott immerfort mit ihrem Unglauben Lügen gestraft. Ist es daher ein Wunder, dass Gottes Zorn sie zerstört hat, Jerusalem, den Tempel, das Gesetz, das Fürstentum, das Priestertum in Asche verwandelt, sie unter alle Völker zerstreut hat und dass er nicht aufhört, sie zu plagen, solange sie die göttliche Verheißung und Erfüllung in ihrem Unglauben und Ungehorsam Lügen strafen und lästern?“ Die Messianität Jesu ist für Luther nicht nur durch einschlägige Bibelstellen, sondern auch durch den klaren Augenschein erwiesen. Seit dem Kommen des Messias leben die Juden in einem Elend, das an Länge und Hoffnungslosigkeit alle anderen Erfahrungen in der Geschichte in den Schatten stellt. Dann aber, so folgert Luther, gelten auch die jüdischen Gesetze nichts mehr, denn der Messias ist „des Gesetzes Ende“, wie er mit Röm 10,4 sagt. Die Juden hielten das Gesetz ohnehin nur noch partiell, so wendet der Wittenberger Theologe ein, da viele Gebote an ein Wohnen im Land gekoppelt seien. Letztere Feststellung ist zwar prinzipiell richtig, aber nur noch von „Schlacken“ oder „Scherben“ jüdischer Gesetzesobservanz zu sprechen, ist doch wohl stark übertrieben. Das rabbinische Judentum hat sich in halachischer Hinsicht jedenfalls von Beginn an auf ein Leben in der Diaspora eingestellt. In seiner Abhandlung wiederholt Luther sein „polemisches Mantra“ von den fünfzehnhundert Jahren insgesamt sechsundzwanzig Mal. Und obschon die Juden angeblich „nichts Beständiges dawider aufbringen“ können, „bewegt oder stößet sie es nicht.“ Für Luther flattern sie immer nur zur Seite und „nehmen zu anderem Kokolores Zuflucht“. Aber immerhin: Auch wenn der Traum jüdischer Einsicht oder gar Konversion für den Kirchenmann ausgeträumt scheint, so haben die Christen dennoch ihren „Glauben damit bestätigt, dass uns ihre faulen, unnützen Lügen und ihr falsches Geschwätz nicht schaden können.“ Das geschichtstheologische Argument vom jüdischen Elend dient, wie es scheint, nicht zuletzt auch der Selbstvergewisserung des christlichen Glaubens. Doch man mag sich (mit T. Kaufmann) als Protestant selbstkritisch fragen: „Was war das für ein ‚Glaube‘, der aus (..) dem Geschichtsverlauf, aus der Faktizität des jüdischen Elends, ‚bewiesen‘ wurde? Wo bleibt das Moment des wagenden Vertrauens des einzelnen Glaubenden, wenn die demonstrierbare heilsgeschichtliche Notwendigkeit (..) so stark betont wird?“ 1.4. „Zweite Vorrede auf den Propheten Hesekiel“
(1541) Das „zweite Stück“ der Landverheißung betrifft nach Luther die Zusage Gottes, „er wolle ein Neues schaffen im Lande und einen neuen Bund machen“ (Jer 31,31). Diesen Bund sieht Luther erfüllt durch das Kommen Christi, der doch Herr und König sei in Jerusalem „wie in aller Welt“. Dass Jerusalem seit dem Abzug der Kreuzfahrer (Ende 12. Jhd.) tatsächlich gar nicht mehr unter christlicher Hoheit stand, scheint ihn nicht im geringsten anzufechten: „Lasst dieweil den Mahometh mit seiner Tyrannei und den Papst mit seiner Gaukelei machen, was sie machen. Er [gemeint: Christus; S.M.] ist und bleibt HErr über alles.“ Diese Passage ist ein schönes Beispiel dafür, wie leicht man historische Fakten, die einem nicht in den Kram passen, zurecht spiritualisieren kann. Hier springt Luther völlig unvermittelt von der konkreten physischen Anwesenheit im Land zur geistlichen Königsherrschaft Christi über alle Welt. Den Juden nun bleibe aber weder der alte noch der neue Bund: „Den neuen wollen sie nicht, den alten können sie nicht haben. (..) Und sitzen so ohn´ Regiment, beide leiblich und geistlich.“ Dass sie festhalten am „vorige(n) alte(n), vergängliche(n) Reich, darin Silber, Gold, Güter, Gewalt, Ehre, Lust und Freud nach dem sterblichen Fleisch besessen wird, welche für Gott gar gering, ja gar nichts geschätzt sind“, ist für Luther Ausdruck der fleischlichen Art der Juden. Sie verstehen nicht, worauf es ankommt: Allein auf „die geistlichen, ewigen, seligen Güter im Himmel, da kein Böses noch Übel (dar)unter sein kann.“ Erneut greift der Kirchenlehrer hier auf ein paulinisch-augustinisches Denkschema zurück, dessen Dichotomien keinen Zweifel daran lassen, wer in der göttlichen Heilsökonomie die „good guys“ und wer die „bad guys“ sind. 1.5. „Von den Juden und ihren Lügen“ (1543) Dass Jerusalem und die Herrschaft der Juden, mitsamt dem Tempel und Priestertum seit Jahrhunderten zerstört sind, bezeichnet Luther hier als ein „Nüsslein“, an dem sich die Juden beißen sollen. „Denn solcher grausame Zorn GOttes zeigt allzu genug an, dass sie gewisslich müssen irren und unrecht fahren, solches mag ein Kind wohl greifen.“ Aus der historischen Evidenz schließt Luther erneut, dass die Juden „gewisslich von GOtt verworfen, nicht mehr sein Volk sind“, sondern vielmehr das Volk des Teufels. Dieser habe ihnen nämlich eingegeben, „dass sie immer die äußerlichen Dinge, ihre Gaben, ihr Tun und Werk für Gott rühmen. (..) Können die doch jetzt noch nicht ihren unsinnigen, rasenden Ruhm lassen, dass sie Gottes Volk seien, so sie nun seit 1500 Jahren vertrieben, zerstört und zu Grund verworfen sind. Noch hoffen sie wieder dahin zu kommen, um ihrer eigenen Verdienste willen.“ 1.6 Ein Gedankenexperiment
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Gustav Dores Karrikatur vom wandernden Juden (1852) |
3.2. Sozialgeschichtliche Aspekte
Stattdessen will ich ein kurzes Schlaglicht auf die sozialgeschichtliche
Stellung der Juden im Deutschen Reich zu Beginn der Neuzeit werfen. Schon
seit den Pestpogromen (Mitte 14. Jhd.) wurden die kaiserlichen Schutzrechte
sukzessive an territoriale Herrschaftsträger verliehen. Das führte
zu einer Fragmentierung der Judenheit, die fortan nicht mehr als geschlossene
Sozialgruppe wahrnehmbar war. Juden begegneten fast nur noch als Durchwanderer,
die nirgends mehr bleibendes Heimatrecht besaßen. Dieser Wandlungsprozess,
der durch ökonomische Umwälzungen noch beschleunigt wurde, führte
zu dem Klischee des wandernden Juden Ahasver, der - auch das sicher kein
Zufall - erstmals auf protestantischem Boden nachweisbar ist. „Die
der christlichen Bevölkerung real gegenübertretenden Juden wurden
zu Inkarnationen dieses Ewigen Juden“, so Battenberg. „Wirklichkeit
und Stereotyp wurden einander angenähert, indem die Migration der
Juden als Charakteristikum jüdischer Existenz gewertet wurden.“
Es ist eben dieses negative Leitbild, das sich in Luthers Darstellung vom Elend der Juden widerspiegelt. Der Reformator selbst kannte Juden fast ausschließlich als durchwandernde Individuen, die nur selten längeres Bleiberecht besaßen. Die wenigen persönlichen Begegnungen, die man eher als ‚Vergegnungen‘ (M. Buber) bezeichnen müsste, erklären aber noch nicht zur Gänze Luthers negatives Bild der Juden.
3.3. Psychologische Aspekte
Was noch kann eine Rolle gespielt haben, dass der Reformator einen solchen
blinden Hass gegen die Juden entwickelte? Hier ist ein wenig Psychologie
vielleicht hilfreich: Der leider zu früh verstorbene amerikanische
Judaist A.F. Segal hat in Blick auf den Apostel Paulus auf die Theorie
L. Festingers hingewiesen, wonach Menschen dazu neigen, einmal getroffene
Entscheidungen im Nachhinein um jeden Preis zu rechtfertigen. Deshalb
werden neue Informationen, die im Widerspruch zu der getroffenen Entscheidung
stehen, prinzipiell abgewertet, während Informationen, die diese
stützen, aufgewertet werden. Diese Theorie von der Vermeidung kognitiver
Dissonanz lässt sich ohne weiteres auch auf Martin Luther übertragen:
Nach seinem ‚Turmerlebnis‘ distanziert er sich von seiner
Vergangenheit als Mönch, die geprägt war von einer ichbezogenen
Selbstgerechtigkeit. Nach der einmal vollzogenen Wende projiziert er nun
diesen Makel auf andere. Eine willkommene Projektionsfläche bieten
ihm dabei die von Paulus, dem Kronzeugen seines Turmerlebnisses, der Selbstgerechtigkeit
bezichtigten Juden.
Mit dem Wort ‚Projektion‘ fällt ein Begriff, der seit
Horkheimers und Adornos „Dialektik der Aufklärung“ immer
wieder Anwendung findet, wenn es um die Erklärung antisemitischer
Einstellungen geht. „Unter dem Druck des Über-Ichs“,
so fassen die beiden Autoren die potentiell gewalttätige Dynamik
dieses Vorgangs zusammen, „projiziert das Ich die vom Es ausgehenden
(..) gefährlichen Aggressionsgelüste (..) in die Außenwelt
und erreicht es dadurch, sie als Reaktion auf solches Äußere
loszuwerden.“ Luther entlastet also seine Psyche durch diesen Abwehrmechanismus
von unerträglich gewordenen Spannungen - auf Kosten der Juden. Diese
werden nun zum Inbegriff der Selbstgerechtigkeit, von der er sich selbst
unter großen inneren Kämpfen losgesagt hat. K. Wengst hat diese
psychische Dynamik bei Luther schön zusammen gefasst: „Die
Kennzeichnung des Judentums als einer Religion, die durch eigene Leistung
Gerechtigkeit vor Gott erlangen will, ist also nicht gespeist von der
Beobachtung jüdischen Lebens oder der Lektüre jüdischer
Schriften; am Anfang dieser Kennzeichnung steht schlicht eine Projektion.“
4 .1. Mit Luther gegen Luther
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Über
der Pforte der Schlosskirche zu Wittenberg: |
Nachdem wir ein wenig den Wurzeln des lutherischen Denkens nachgegangen sind, wollen wir dieses abschließend nun auch einer kritischen Überprüfung unterziehen. Der Spott, den Luther über die entwurzelten Juden ausgießt, erinnert in manchem an die Verhöhnung Jesu am Kreuz. Nach Mt 27,39ff. lästerten Jesus einige der Vorübergehenden: „Hilf dir selber, wenn du Gottes Sohn bist, und steig herab vom Kreuz! Desgleichen spotteten auch die Hohenpriester mit den Schriftgelehrten und Ältesten und sprachen: Andern hat er geholfen und kann sich selber nicht helfen. Ist er der König von Israel, so steige er nun vom Kreuz herab. Dann wollen wir an ihn glauben.“ Wie bei Luther wird hier die missliche Situation des Opfers als Beleg für dessen offenkundige Gottverlassenheit gewertet. Nur dass die Vorzeichen nun umgekehrt sind: In der Bibel sind die Juden die Lästerer und Christus das Opfer, bei Luther spottet nun der Christ, die Juden aber müssen ihr „Kreuz tragen“.
Im Umgang mit den Juden fällt der Reformator in eine theologia gloriae zurück, statt sich wie sonst an das Kreuz Christi zu halten. Anstelle christlicher Demut als Konsequenz einer rechten Imitatio Christi finden wir Demütigungen aus seiner Feder, die uns Nachgeborene nur noch peinlich berühren. Mit abstrusen, sophistisch anmutenden Konstruktionen versucht er die angebliche Konformität seiner ‚scharfen Barmherzigkeit‘ mit dem jesuanischen Ethos der Nächsten- und Feindesliebe nachzuweisen. E.W. Gritsch hat mit Recht Luthers Antisemitismus als ein Denken „against better judgement“, gegen bessere Einsicht, bezeichnet. Der Reformator wird nicht nur der Schrift, er wird auch seinen eigenen Grundsätzen untreu. Er kämpft je länger je mehr nicht mehr nur mit Worten, sondern auch mit dem Schwert. Indem er den Verlauf der Geschichte als göttliches Gericht gegen die Juden proklamiert, meint er dem Deus absconditus in die Karten schauen zu können. Luther gibt damit eine seiner zentralen Erkenntnisse wieder auf, nämlich dass Gottes Heilshandeln unter dem Gegenteil verborgen (sub contrario) stattfinden kann. Dass auch in dem, was sich uns Menschen als ‚Elend der Juden‘ darstellt, der gnädige, nämlich mitleidende Gott am Werk sein könnte, diese Überlegung hat Luther nie angestellt. Schade, denn prinzipiell läge sie ganz auf der Linie seines Denkens.
Doch die von Luther vorgetragene negative Geschichtstheologie gegen die Juden bewegt sich nicht nur theologisch, sondern auch philosophisch auf dünnem Eis. Sie ist Ausdruck eines simplen Machtpositivismus, der das Recht des Stärkeren propagiert. Luthers Fehlschluss vom Sein zum Sollen zementiert die normative Macht des Faktischen, hier: die Überlegenheit des Christentums gegenüber dem Judentum. Indem er die Christen ermuntert, zum göttlichen Strafgericht gegen die Juden selbst noch aktiv beizutragen, vermehrt Luther eben das Elend, dessen augenscheinliche Evidenz ihn erst zur Erkenntnis der Verworfenheit der Juden geführt hat. Ein solches Denken ist zirkulär und selbstbezüglich, eine Art self-fulfilling-prophecy.
4.2. Nachwirkungen bis heute
Das Denken Luthers hat in unserer protestantischen Tradition Nachwirkungen
bis heute. Ich will gar nicht das Fass aufmachen und vom Rasseantisemitismus
des 19. und 20. Jahrhunderts sprechen, der sich stellenweise auf Luther
berufen konnte. Einige Hinweise auf die verdeckte Judenfeindschaft, die
sich bis in unsere Zeit fortgesetzt hat, sollen genügen. Nehmen wir
etwa den 10. Sonntag nach Trinitatis, der lange Zeit als „Judensonntag“
begangen wurde. Man erinnerte an die Zerstörung des Jerusalemer Tempels
als die gerechte göttliche Bestrafung der Juden. Aus dem klassischen
Predigttext Lukas 19,41–48 („Jesus weint über Jerusalem“)
wurde - ganz nach dem Vorbild unseres großen Reformators - der Nachweis
aus der Geschichte geführt, dass das Judentum im Unrecht ist. Erst
in den 70er- und 80er-Jahres des vorigen Jahrhunderts kam es dann zu einer
„qualitativen Umwidmung“ im Sinne des christlich-jüdischen
Dialogs, die mit der Umbenennung in „Israelsonntag“ sich dann
auch begrifflich niederschlug.
Noch während meines eigenen Studiums sprach man vom Judentum zur Zeit des Zweiten Tempels als „Spätjudentum“. Der abwertende Begriff impliziert, dass nach dem Gekommensein des Erlösers das Ende jüdischer Geschichte eigentlich besiegelt ist. Durch den Mord von Golgatha hat das Volk Israel seine Existenzberechtigung verwirkt. Die Katastrophen von Flucht und Vertreibung nach den beiden jüdisch-römischen Kriegen stellen in dieser Perspektive nur noch ein „schauerliche(s) Nachspiel“ der Geschichte Israels dar. Bei dieser Formulierung des Alttestamentlers Martin Noth sind wir nicht weit von der Schattenexistenz von Judentum entfernt, die Luther uns vor Augen gemalt hat. Doch das jüdische Volk lebt: „Am Jisrael chai“ - trotz allem. Am deutlichsten sieht man das heute vielleicht in Gestalt des 1948 gegründeten Staates Israel.
4.3. Gefährliche Dualismen (Metakognition I)
Bei allem, was man Kritisches gegenüber der konkreten Regierungspolitik
Israel sagen kann: Hier ist die Synthese von Welt und Geist, von Natur
und Geschichte, für das ein Christentum paulinisch-lutherischer Prägung
so gar keinen Sinn hat, wenigstens versuchsweise einmal Realität
geworden. Das Judentum hat auf diese Weise gegen einen Dualismus protestiert,
der - wie Martin Buber es prägnant auf den Begriff gebracht hat -
die Welt hat geistlos und den Geist weltlos werden lassen. Gewiss ist
der Staat Israel nicht die Realisierung des Gottesreiches - kein Staat
ist das. Aber „eine Vorwegnahme, ein problematisches Modell“
desselben wäre durchaus denkbar. Vorläufig ist dieses Abbild
schon deshalb, weil es sich stets an der Tora messen lassen muss mit ihren
beiden Prinzipien „Wahrheit und Recht“.
Ganz fremd sollte dem Christentum die Versöhnung der beiden Pole Geist und Welt, die Luther durch seinen Spiritualismus auseinander gerissen hat, nicht sein. Der Gedanke der Inkarnation schlägt doch genau die Brücke zwischen beiden: Dass das Wort Fleisch geworden ist, wie es im Johannesprolog heißt, bedeutet doch nichts anderes, als dass sich der ‚Logos‘, der ewige, unwandelbare göttliche Urgrund, ganz auf die Konkretionen dieser Welt eingelassen hat. Wenn sich Gott nicht zu gut dafür war, Mensch zu werden - jüdischer Mensch -, dann können sich Geist und Fleisch so unversöhnlich gar nicht gegenüber stehen, wie uns die lutherische Soteriologie das glauben machen will.
Während Luther Spott ausschüttet über das in Scherben liegende Judentum, weint Jesus über das zerstörte Jerusalem (Lk 19,41–48). Folgen wir Protestanten heute eher Luther oder Jesus? Folgen wir den Parolen derer, die im Zionismus nur eine Spielart des Rassismus sehen, dessen baldiges Ende sie heraufbeschwören? Oder erkennen wir in der Rückkehr von Jüdinnen und Juden in das Land ihrer Eltern so etwas wie ein „Zeichen der Treue Gottes“? Stimmen wir bei Fehlentwicklungen in Israel in das schon Mode gewordene „Israel-Bashing“ mit ein, das sich dann auch noch als Tabu-Bruch verkauft, oder üben wir konstruktive Kritik unter Brüdern und Schwestern? Hier gilt es Farbe zu bekennen: Luther oder Jesus.
4.4. Drohender Weltverlust (Metakognition II)
Zuletzt sei die Frage erlaubt: Wie gehen wir grundsätzlich mit Ereignissen
in der Geschichte um? Können sie theologisch überhaupt von Belang
sein? Luthers negative Geschichtstheologie mahnt diesbezüglich zur
Vorsicht. Andererseits dürfen wir das Kind nicht mit dem Bade ausschütten:
Wer Gott in der Geschichte überhaupt nicht mehr wahrzunehmen vermag,
der verdrängt ihn aus dieser Welt, aus unserem Leben. Protestantische
Theologie muss heute Kriterien dafür entwickeln, wann man von einem
Kairos, einem Ereignis gefüllter Zeit, sprechen kann. Solches Identifizieren
des Letzten im Vorletzten, ist selten eindeutig und kann deshalb nie mehr
als ein Bekenntnisakt sein.
Eines aber dürfte heute unbestritten sein: Das Leiden anderer Menschen
durch Ausgrenzung und Verfolgung, auch wenn wir es als eine Strafe Gottes
ansehen mögen, kann ein solches Offenbarungsereignis nicht sein.
An diesem Punkt, seiner negativen Geschichtstheologie, müssen wir
unserem großen Reformator Martin Luther entschieden widersprechen.
Bereit zu Buße und Umkehr müssen wir die theologischen Grundlagen,
auf denen dieses Denken beruht, einer gründlichen Revision unterziehen.
Das ist mehr, als sich nur von seinen späten Judenschriften und ihrem
Antisemitismus zu distanzieren. Mit dem Thema „Luther und die Juden“
steht nach meiner Auffassung viel mehr auf dem Spiel, als wir bisher geahnt
haben.
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H.
Foth: Martin Luther und Juden. Ein dunkles Kapitel der Reformation
Text: Stefan Meißner, 2015
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