Reichspogromnacht - Reichskristallnacht

von Sven Siener


Mahnmal in Yad-va-Shem/Jerusalem

1. Begriffserklärung und Deutung

Im zaristischen Russland ist Pogrom eine Bezeichnung für Judenverfolgungen, heute bedeutet Pogrom allgemein Ausschreitungen gegen religiöse und rassische Minderheiten. Die Pogrom- bzw. Reichskristallnacht ist die Nacht, in der die Nationalsozialisten Übergriffe auf die jüdische Bevölkerung übernahmen. Nach 1945 setzte sich in Westdeutschland der Begriff "Reichskristallnacht" durch. Bis in die späten 80er Jahre war der Name weitgehend unumstritten. Während Historiker den Begriff beibehalten, verwendet man seit einigen Jahren in Politik und Medien die "Reichspogromnacht". Die NS benutzen dagegen Novemberaktion, Sonder- oder Vergeltungsaktion sowie (Protest-) Kundgebungen, Judenaktion oder eben die Reichskristallnacht. In den Konzentrationslagern hingegen sprachen Juden von der Rathaktion oder von einer Mordwoche. Rathaktion bezieht sich auf das Attentat von Grynszpan und die Mordversuche ist eine Anspielung auf die exzessive Gewalt gegen die eingelieferten Juden. In Kreisen der Exil-SPD und dem KPD verwendete man den Begriff Judenpogrome. In einigen Tagebüchern ist auch von "Grünspanaffäre" oder Bartholomäusnacht die Rede. Einige weitere Begriffe sind: Tag der deutschen Scherbe, Reichsscherbenwoche, Judennacht, Synagogensturm, Reichstrümmertag oder den in der DDR benutzte Begriff "faschistische Pogromnacht".

2. Vorgeschichte

1933
In Dachau und Oranienburg werden die ersten Konzentrationslager errichtet. Wegen angeblicher "Greuelhetz ausländischer Juden" gegen Deutschland wird von den Nationalsozialisten der Boykott gegen jüdische Geschäfte, Ärzte und Rechtsanwälte organisiert. Gesetze schließen die Juden aus dem öffentlichen und kulturellen Leben aus und verbieten ihnen z. B. öffentliche Anlagen zu betreten.

1935
Am 15.09. werden die "Nürnberger Gesetze" bekannt gegeben: Nach dem "Reichsbürgergesetz" können Juden nicht mehr Staatsbürger sein und verlieren das aktive und passive Wahlrecht. Das "Gesetz zum Schutz des deutschen Blutes und der deutschen Ehre" verbietet die Ehe und den außerehelichen Verkehr zwischen Juden und Deutschen. 13 Ergänzungsverordnungen folgen in den nächsten Jahren.

1936
Jüdischen Ärzten wird jede Tätigkeit in öffentlichen Krankenhäusern verboten.

1938
Den Juden wird jede Tätigkeit in Handel, Gewerbe, Rechtswesen und Krankenpflege verboten; jüdische Rechtsanwälte verlieren ihre Zulassung; die jüdischen Reisepässe werden eingezogen; der Erhalt von neuen, mit einem "J" versehenen Pass wird erschwert. Juden werden nun gezwungen, ihre Vornamen mit "Sara" bzw. "Israel" zu ergänzen. Das Attentat eines jüdischen Jugendlichen auf den deutschen Gesandtschaftssekretär in Paris nehmen die Nationalsozialisten zum Anlass, am 9. / 10. November Pogrome gegen die jüdische Bevölkerung zu organisieren. Reichskristallnacht ist der euphemistische Begriff der Nationalsozialisten, also eine "Beschönigung". Als Sühneleistung für das Attentat müssen die Juden 1 Milliarde RM zahlen und die in der Pogromnacht entstandenen Schäden ohne Beanspruchung der Versicherungen begleichen. Es folgen nun noch weitere Verordnungen und Verbote: Ausgangssperren und Sperrbezirke beschränken ihre Bewegungsfreiheit ein; ihre Führerscheine werden eingezogen; ihre Rundfunkgeräte beschlagnahmt. Die Pogromnacht ist erst der Anfang von gewaltvollen Übergriffen der Nationalsozialisten auf die jüdische Bevölkerung in Deutschland.

3. Einleitung

Wie schon erwähnt wird die Pogromnacht als Nacht der nationalsozialistischen Pogrome gegen die jüdische Bevölkerung vom 9. auf den 10. November 1938 bezeichnet. Schon ab dem 07. November hatte es im Reichsgebiet Übergriffe gegen Juden und jüdische Einrichtungen gegeben.

4. Ereignisse vom 7. und 9. sowie 10.11.1938

Am 7. November 1938 wurde in der deutschen Botschaft in Paris der deutsche Diplomat und NSDAP-Mitglied, der Legationssekretär Ernst Eduard vom Rath durch den 17-jährigen Juden Herschel Grynszpan angeschossen und schwer verletzt. Als Motiv von Grynszpan gilt das Leiden seiner Eltern bei deren gewaltsamen Abschiebung von Deutschland nach Polen im Oktober 1938. Die Frage, ob vom Rath nur ein zufälliges Opfer darstellte, ist bis heute nicht geklärt. Zwei Tage später starb vom Rath an seinen Verletzungen.

a) Reaktion auf das Attentat
Als Reaktion auf das Attentat vom 7.11 können die Übergriffe gegen Juden, deren Wohnungen, Geschäfte und Synagogen eigentlich weniger bezeichnet werden, da die Gewalt schon unmittelbar am 7.11.1938 begann. Schon am 7.11. kam es zu Pogromen an mehreren Orten in den Gauen Kurhessen und Madgeburg-Anhalt. Als Täter konnten Angehörige von der SA und SS identifiziert werden. Sie traten jedoch in "Zivil" auf. Es kann davon ausgegangen werden, dass all diese Aktionen zumindestens auf Gau-Ebene zentral gelenkt waren. Als treibende Kraft in Kurhessen wird der Kasseler Gaupropagendaleiter Gernand genannt. Bis jetzt ist noch unklar, inwieweit das Propagandaministerium in Berlin eingeschaltet war. Es besteht jedoch die Vermutung, dass die Pogrome von dort über die zuständigen Gaupropagandaämter organisiert wurden.

b) 7.11.1938
Die Synagoge und weiter jüdische Einrichtungen in Kassel werden verwüstet. In derselben Nacht kam es in der Umgebung, in Bebra und Sontra, zu weiteren Zerstörungen von Gebäuden.

c) 8.11.1938
An diesem Abend brannte zum ersten Mal eine jüdische Synagoge. Ort: Bad Hersfeld. Weitere Synagogen wurden in den Landkreisen Fulda und Melsungen verwüstet und zerstört. In derselben Nacht kam es zu zahlreichen Misshandlungen von Juden. In Felsberg gab es das erste Todesopfer der Pogrome.

d) 9.11.1938
In Dessau wurde schon um 15:00 Uhr die Synagoge und das jüdische Gemeindehaus angezündet. Um 19:00 Uhr begannen die Ausschreitungen in Chemnitz.

5. Die Nacht vom 9. auf den 10. November 1938

Am 9.11. traf sich Hitler wie jedes Jahr mit anderen hohen NSDAP-Funktionären und alten Kämpfern in München. Der Anlass war der Jahrestag des gescheiterten Hitler-Putsches am 9. November 1923. Joseph Goebbels hielt gegen 22 Uhr eine Hetzrede, in der er "die Juden" am Tod vom Raths verantwortlich machte. Er verwies auf die bereits stattgefundenen Pogrome in Kurhessen und Madgeburg-Anhalt und machte die Bemerkung, dass die Partei antijüdische Aktionen zwar nicht organisieren, aber auch nicht behindern werde. In anwesenden SS- und SA-Kreisen verstand man dies als Aufforderung zu Aktionen. Die anwesenden Gauleiter und SA-Führer telefonierten nach Goebbels Rede mit ihren örtlichen Dienststellen. Befehle wurden durchgegeben und daraufhin setzten sich in Zivil gekleidete Mitglieder der SA in Marsch. In dieser Nacht wurden reichsweit in ganz Deutschland und Österreich mehrere hundert Synagogen verwüstet und in Brand gesetzt. Etliche tausende jüdische Wohnungen und Geschäfte wurden zerstört und geplündert. Im Verlauf der Pogrome wurden mindestens 91 Menschen getötet. Die Pogrome dauerten noch weit in den 10. November hinein. Ab diesem Tag wurden insgesamt über 30000 männliche Juden von Gestapo und SS inhaftiert. Sie wurden in die Konzentrationslager in Buchenwald, Dachau und Sachsenhausen deportiert.

6. Von den Novemberpogromen zum Holocaust:

Die Pogrome 1938 waren keineswegs der Anfang der Judenverfolgung in der Zeit des Nationalsozialismus in Deutschland. Schon kurz nach Hitlers Machtergreifung im April 1933 folgte der Aufruf zum Judenboykott. Zwei Jahre später folgten die schon erwähnten "Nürnberger Rassengesetze". Nach den Judenpogromen um den 9.11.1938 folgten weitere, koordinierte Aktionen der Regierung mit dem Ziel, Deutschland "judenfrei" zu machen.

7. Ergebnisse der Pogrome

Unter den führenden NS-Funktionären galten die Pogrome als Fehlschlag, da selbst einigen Parteifunktionären die Gewaltaktionen der SA zuweit ging. Die Plünderung und die "volkswirtschaftlich unsinnige Zerstörung von Sachwerten" stellten zudem die NSDAP vor weitere Probleme. Im Ausland war das Echo auf die Ereignisse verheerend. Infolge dessen zogen die USA ihren Botschafter "zur Berichterstattung" ab. In der deutschen Bevölkerung hatte es keine, oder nur sehr wenig Beteiligung an den Novemberpogromen gegeben. Die NS-Propaganda verbreitete durch die Medien eine Version von der "spontanen Volkserhebung gegen die Juden". Das Volk nahm diese Version nicht ernst. Proteste gab es in der Folgezeit bedingt durch die Diktatur jedoch nur selten. Trotzdem kann davon ausgegangen werden, dass der öffentlich gezeigte Terror vom überwiegenden Teil der nichtjüdischen Bevölkerung nicht mitgetragen wurde und zumindest diejenigen, die die NSDAP bisher schon abgelehnt hatten, in ihrer Meinung noch bestärkte.

Viele hohe Funktionäre distanzierten sich unmittelbar nach dem Übergriff von den Pogromen. Sie machten Reichspropagandaminister Joseph Goebbels für die Ereignisse verantwortlich. Forschungen zufolge war Goebbels jedoch nicht alleine verantwortlich. Es kann als wahrscheinlich gelten, dass Hitler, Göring und Himmler an der Planung beteiligt waren. Die Reichskristallnacht kann zudem als Fehlschlag bezeichnet werden, da das Ereignis einmalig bliebt. Wenn die Pogromnacht ein Erfolg gewesen wäre, hätte man sie am 9.11.1939 wiederholt organisiert.

8. Beispiel: Jüdisches Waisenhaus in Dinslaken

Yithak Sophoni Herz war zu der Zeit der Pogrome 30 Jahre alt und Erzieher im Waisenhaus. Die Polizei durchsuchte mit zwei Gestapovertretern das Haus nach Waffen . Wenige Stunden später wurde Herz erneut von Gestapovertretern am frühen Morgen des 9.11.1938 geweckt. 50 Männer standen nun vor der Tür, die nun mit fast wissenschaftlicher Genauigkeit und Gründlichkeit ihr Zerstörungswerk begannen. Yithak Herz versuchte nun die Kinder des Hauses der Polizei in Schutz zu geben. Der Hauptwachtmeister schrie jedoch: "Die Juden bekommen von uns keinen Schutz. Machen sie, dass sie mit ihren Kindern weiterkommen". Herz sprach nun mit älteren Polizeibeamten, die ihm die Anweisungen gaben, sich mit seinen Kindern auf einen Marsch durch Dinslaken vorzubereiten. In der Stadt springt zur selben Zeit die Kunde von der "Judenparade" oder dem "Judenzug" von Haus zu Haus. Viele Menschen reihen sich nun in drei oder gar vier Reihen auf den Bürgersteigen, um die Judenprozession zu verfolgen. Einige Gesichtszüge verrieten die klare Verachtung für die Vorgänge. Der Zug wurde von zwei Polizeibeamten angeführt, die von uniformierten Nationalsozialisten flankiert wurden. Die kleinen Kinder des Waisenhauses wurden gezwungen, sich einen Platz in einem Leiterwagen zu nehmen, der von vier Jungen des Internats gezogen werden musste. Sie wurden schließlich in einem Hof nahe der Dinslakener Synagoge getrieben. Alle Männer aus der jüdischen Gemeinde, die unter 60 Jahre alt waren, wurden in das Konzentrationslager Dachau deportiert. Unter ihnen waren auch mit dem Eisenen Kreuz ausgezeichnete Soldaten des 1. Weltkrieges. Das Waisenhaus wurde konfisziert und anschließend von der NSDAP genutzt. Die Kinder wurden in stallähnlichen Unterkünften ohne jede Verpflegung untergebracht. Herz brachte die Kinder später nach Köln, wo sie kurzzeitig im Lehrlingsheim der jüdischen Gemeinde Unterkunft fanden. Wenig später konnte er die Kinder nach Belgien und Holland bringen. Das Schicksal der Kinder ist jedoch bis heute größtenteils nicht geklärt.

Links
Der Pogrom vom November 1938 in Homburg, von Dieter Blinn
Die 'Reichskristallnacht' in Landau, von Otto Brunner
Die Reichspogromnacht in Schifferstadt, von Heinz Berkel
Die Reichspogromnacht in Ingenheim, aus einem Vernehmungsprotokoll
Der Abriss der Kaiserslauterer Synagoge, von Roland Paul
"Sie verbrennen Dein Heiligtum", von Stefan Meißner
Der 9. November aus der Sicht einer Jüdin, von von Schoschana Maitek-Drzevitzky