von Sigrun Wipfler-Pohl
In
den letzten Jahrzehnten haben feministische Exegetinnen es verstanden,
Frauenschicksale aus der Zeit Jesu wieder ans Tageslicht zu bringen und
die "verschwundenen Frauen", wie z. B. die ersten christlichen
Missionarinnen der Apostelzeit, wieder zu Wort kommen zu lassen. Es ist
unbestritten, dass die Jesusbewegung als eine innerjüdische charismatische
Erneuerungsbewegung große Anziehungskraft auf Frauen ausübte.
Es gehört gewissermaßen zur Typologie charismatischer Bewegungen,
dass Frauen hier andere Möglichkeiten eröffnet werden als in
der Mehrheitskultur, da in ihren Zukunftsvisionen alle Unterschiede aufgehoben,
die derzeitigen Verhältnisse negiert und deren völlige Umwälzung
nahe bevorstehend erwartet wird. Die römische Fremdherrschaft belastete
das gesamte jüdische Volk und machte weite Kreise für messianisch-eschatologische
Predigten empfänglich. Es ist daher nicht überraschend, dass
sich in der Gefolgschaft Jesu viele Menschen ohne Lebensperspektive befanden,
seien es Kranke, sozial Geächtete (Zöllner, Dirnen) oder Arme
(Bettler, Witwen und Waisen).
Was jedoch die historisch-theologische Rekonstruktion dieser Bewegung
angeht, bereitet die mangelhafte Quellenlage - besonders für die
Zeit vor der Zerstörung des zweiten Tempels - große Schwierigkeiten.
Die Frauengeschichten in den Evangelientexten und der Briefliteratur spiegeln
gewiss historische Vorgänge, die jedoch von den Autoren nach ihren
theologischen Absichten und ihren pastoralen Zielen ausgewählt und
bearbeitet wurden. Ebenfalls nur begrenzten Aufschluss über das Leben
jüdischer Frauen vor dem Jahre 70 n.d.Z. gewährt die rabbinische
Literatur, da es ein "normatives" Judentum zur Zeit Jesu nicht
gab. Es waren ganz unterschiedliche Gruppen, die in Palästina lebten:
die nationalistische, toratreue Oberschicht der Sadduzäer, die von
großem religiösen Ernst getriebene "Volksbewegung"
der Pharisäer,
die in die Wüste ausgewanderten Essener oder die antirömischen
Zeloten. Selbstverständlich besaßen jüdische Frauen -
als Ehefrau oder Tochter - die religiöse Sozialisation ihrer Gruppe,
hatten Anteil an der schichtenspezifischen Bildung und besaßen auch
entsprechend ihrer Stellung wirtschaftliche Freiräume. Frauen waren
in dieser patriarchalen Gesellschaft Teil eines Familienverbandes, der
Schutz und Unterhalt bot. Vater, Ehemann oder Bruder vertraten die Frau
nach außen vor allem bei Rechtsgeschäften, während sie
im familiären Binnenbereich größere Selbständigkeit
besaß. Günstig wirkten sich für die verheiratete Frau
der Ehevertrag mit Versorgungsregelung im Scheidungsfall und beim Tod
des Mannes aus, ebenso das Verbot des Ehebruchs, das nicht nur bei Frauen
sondern auch bei Männern geahndet wurde.
Es ist unsachgemäß, das Patriarchat zur Zeit Jesu von unseren
gegenwärtigen partnerschaftlichen Vorstellungen zu beurteilen und
für die Hintanstellung der Frau in der christlichen Kirche verantwortlich
zu machen. An dieser Entwicklung haben die Kirchenväter mit ihrer
Frauenfeindlichkeit erheblichen Anteil. Erinnert sei an dieser Stelle
nur an Tertullian, der allen Frauen als Schwestern Evas vorwarf: "Du
bist die Tür des Teufels, du bist die Entsieglerin jenes Baumes,
du hast zuerst das göttliche Gesetz im Stich gelassen, (...) du hast
das Bild Gottes, den Menschen, so leichtfertig zerschlagen. Wegen dessen,
was du verschuldet hast, den Tod, musste sogar der Gottessohn sterben"
(Tertullian, De cult. fem. 1 I ). Die Rolle der Frau in der Jesusbewegung
kann nicht als Durchbrechung religiöser oder patriarchalischer Normen
des Judentums interpretiert werden, denn diese Vorherrschaft der Männer
war nicht spezifisch jüdisch, sondern Teil der Antike. Eine "emanzipatorische
Bewegung" war die Jesusbewegung nicht. Außerdem hatten die
Frauen unter Jesu Jünger (Wanderbewegung) ihre Großfamilie
offenbar hinter sich gelassen.
Literatur
Heine, Susanne, Frauen der frühen Christenheit, Vandenhoeck und Rupprecht
1987
Herweg, Rachel Monika, Die jüdische Mutter. Das verborgene Matriarchat,
Wiss. Buchges., 1994
Schüssler Fiorenza, Zu ihrem Gedächtnis, Kaiser/Grünwald
1988
Nave Levinson, Pnina, Was wurde aus Saras Töchtern?, Frauen im Judentum
Gütersloher Taschenbücher 495
Weiterführender Link
Die Frau im Judentum
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