Dr. Stefan Meißner
Keine der uns überlieferten frühjüdischen Quellen lässt sich sicher auf die Pharisäer zurückführen (umstritten PsSal). Selbstdarstellungen von Pharisäern gibt es nicht, nur solche von ehemaligen Pharisäern: Paulus u. Josephus. Doch auch deren Zeugnis ist umstritten. Die drei Hauptquellen über den Pharisäismus sind: a.) Josephus, b.) das NT (bes. die Evangelien u. Apg) u. c.) das rabbinische Schrifttum. In jeden Fall muß das erkenntnisleitende Interesse der jeweiligen Quelle berücksichtigt werden.
Man nimmt weithin an, daß die Pharisäer auf die Hasidäerbewegung (Hasidim = die Frommen) zurückgehen, die in frühmakkabäischer Zeit den jüdischen Glauben gegen hellenistische Überfremdung verteidigte. Nach dem Sieg über die Fremherrschaft der Seleukiden scheint es zwischen Pharisäern und den nunmehr regierenden Hasmonäern zum Bruch gekommen zu sein. Ob ihr Name (peruschim = Separatisten) sich von diesem Bruch ableitet oder der rituellen Abgrenzung von ihrer Umwelt, ist umstritten. Baumgarten hat jüngst vermutet, der Name sei eine Selbstbezeichnung und habe mit der differenzierten Gesetzeskasuistik dieser Partei zu tun ("die, die unterscheiden").
Der frühere Konsens der Forschung (G.F. Moore, L. Finkelstein
G. Alon) ging davon aus, daß die Pharisäer die 'normative'
bzw. 'orthodoxe' Gestalt des Judentums im 1. Jhd. (ja der ganzen
Zweiten-Tempel-Epoche) verkörpern. Diese Position ist so aber heute kaum mehr
haltbar.
Sie wurde erstmals grundsätzlich in Frage gestellt von M. Smith, der die Pharisäer
nur als eine unter vielen Sekten des damaligen Judentums
ansieht. Smith betrachtet die Darstellung des Josephus in den "Jüdischen
Altertümern" (Antiquitates), wonach die Pharisäer im Volk hohes
Ansehen geniesen, als reine Propaganda, die darauf abzielt, den Römern die Pharisäer
als polit. Führer ihres Volkes zu empfehlen. Für historisch zuverlässiger hält
er den "Jüdischen Krieg" (Bellum), wo sich kein Hinweis
auf einen nennenswerten politischen Einfluß der Pharisäer findet. Bestätigt
und ergänzt wurde diese These durch J. Neusner u. I.L. Levine, die davon ausgehen,
dass sich die Pharisäer unter Herodes von der politischen Szene zurückgezogen
und rein religiös gewirkt haben (vgl. den
Buchtitel Neusners: "From Politics to Piety").
In der Tat scheint der Schlüssel zum Verständnis
der Pharisäer bei Josephus im Verhältnis der beiden
angesprochenen Schriften zueinander zu liegen. Die Unterschiede lassen sich
auf verschiedene Weise erklären:
Früher ging man überwiegend davon aus, daß
die Rabbinen die pharisäischen Traditionen einfach fortsetzten (S.
Belkin, S. Zeitlin, L. Finkelstein, früher J. Neusner). Doch ist dieser Identifizierung
gegenüber Zurückhaltung angebracht, wie in jüngerer Zeit beispielsweise S. Cohen
betont hat.
Von den in den Traditionsketten mAv I aufgeführten Rabbinen sind lediglich zwei
(Gamaliel I. und Simon ben Gamaliel) mit Sicherheit Pharisäer. Daß einige der
Geschichten, die Josephus über die Pharisäer erzählt, auch im klassischen jüdischen
Schrifttum als Teil rabbinischer Überlieferungwieder auftauchen, kann Ergebnis
einer nachträglichen Rabbinisierung der pharisäischen
Geschichte sein. Den Übereinstimmungen in der Lehre von Rabbinen u. Pharisäern
stehen eine nicht geringe Zahl von Unterschieden gegenüber. Die Tannaiten bezeichneten
sich selbst nie als Pharisäer, noch wird je ein einzelner von ihnen so genannt.
Erst unter den Amoräern Babyloniens ist die Tendenz zu erkennen, sich von den
Pharisäern herzuleiten. Doch auch hier ist die Anknüpfung nicht nur in positivem
Sinn gegeben. Cohen sieht den Grund für diese Zurückhaltung der Rabbinen, sich
als Pharisäer auszuweisen, darin, daß man sich an diese als eine der vielen
einander ausschließenden und befehdenden Sekten der Zweiten-Tempel-Periode erinnerte.
Der nach dem Zusammenbruch 70 n.Chr. notwendige Neuanfang (Javne!) konnte aber
nur auf Integration (auch unterschiedlicher Positionen), nicht aber auf Exklusivismus
gegründet werden.
Literaturliste:
A.I.
Baumgarten: The Name of the Pharisees,
JBL 102/3/ 1983, 413-417
S.D. COHEN: From the Maccabees to the Mishnah, Philadelphia 1989
DERS.: The Significance
of Yavneh: Pharisees, Rabbis, and the End of Jewish Sectarianism, HUCA 55/ 1984, 27-53
L.H. FELDMAN: Scholarship
on Philo and Josephus (1937-1962), New York, ohne Jahr
L.
FINKELSTEIN: The Pharisees I-II, Philadelphia 1938
M. Goodblatt:
The Place of the Pharisees in First Century Judaism: The State of the Debate,
JSJ 20/ 1989, 12-30
J. Lightstone: Saducees versus
Pharisees. The Tannaitic Sources, in: Christianity, Judaism and other Greco-Roman Cults, FS M.
Smith, J. Neusner
ed., Leiden 1975, 206-17
H.D. MANTEL: The Sadducees and the Pharisees, in: The World History of the Jewish
People, First Series, Vol. VIII: Society and Religion in the Second Temple Period,
M. Avi-Yonah/
Z. Baras eds., Jerusalem 1977
G.F. MOORE: Judaism in the First Centuries of the Christian Era I-III, Cambridge
1927-1930
J. Neusner: The Rabbinic Tradition
about the Pharisees before 70 A.D., I-III, Leiden 1971
DERS.: From Politics to Piety, Englewood Cliffs 1973
E. Rivkin: Defining the
Pharisees: The Tannaitic Sources, HUCA 40/41/ 1969/70, 205-49
A.J. SALDARINI: Pharisees, Scribes and Saducees in Paletinean Society. A Sociological
Approach, Wilmington 1989
D.R. SCHWARTZ: Josephus and Nicolaus on the Pharisees, JSJ 14&/ 1983
M. SMITH: Palestinian Judaism in the First Century, in: Israel: Its Role
in Civilisation, M. Davis
ed., New York 1956
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