Zwei Religionen und ein Buch
Die hebräische Bibel zwischen Christen und Juden (II)

Von Stefan Meißner

Mesusa

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Jüdische und christliche Bibelauslegung

Spätestens seit der Zeitenwende kann man vom Judentum als einer Buchreligion sprechen. Aber Bücher, vor allem solche, die das Leben einer Gemeinschaft normieren, bedürfen der Auslegung. Obwohl es in der Mischna von der Tora heißt: "Wende und wühle in ihr, denn in ihr ist alles" (mAv 5,25), gibt es Fragen, die die geschriebene Tora offen lässt. Was soll man beispielsweise tun, wenn der Feind im Krieg bevorzugt am Schabbat angreift? Soll man die Waffen ruhen lassen, wie die Tora es befiehlt? Oder darf man sich wehren und so vielleicht sein Leben retten? Vor genau diese Alternative waren die Juden in der Zeit der Makkabäerkriege (2. Jhd. v.Chr. ) gestellt - und sie entschieden sich für das Leben. Warum? Weil sie zu dem Schluss kamen, dass die Tora zum Leben gegeben ist, nicht zum Tode! Wenn aber das Befolgen der Tora unweigerlich zum Tode führt, so kann dies nicht im Sinne Gottes sein. Das war die Geburtsstunde einer Idee, die forthin für das Judentum prägend sein sollte: Die Idee einer mündlichen Tora, die der geschriebenen Tora gleichwertig gegenüber steht.

Dass die mündliche Tora als der geschriebenen Tora gleichwertig gilt, verdankt sie dem Ruf, dass sie mit jener gleichen Ursprungs sei. Beide wurden dem Volk Israel von Gott am Sinai gegeben, so sagt das klassische jüdische Schrifttum. Dass auch spätere Generationen noch Zugang zu dieser Offenbarungsquelle haben, gewährleistet eine ununterbrochene Traditionskette von Mose bis heute: „Mose empfing die Tora auf dem Sinai, überlieferte sie Josua, Josua den Ältesten, die Ältesten den Propheten, und die Propheten überlieferten sie den Männern der Großen Synagoge“ (mAvot).

Die mündliche Tora kann sich so weit von der geschriebenen Tora entfernen, dass die Verbindungen zwischen beiden problematisch erscheinen. Das Judentum hat dieses Faktum stets im Auge behalten und zuweilen sogar selbstironisch kommentiert. Bekannt ist die Geschichte von Mose, der eine "Zeitreise" zu Rabbi Aqiva (2. Jhd.d.Z.) unternimmt und dem angesichts der spitzfindigen Auslegungen des angesehenen Lehrers nur noch der Kopf brummt. Eine andere Anekdote handelt von einem skptischen Heiden, der zu Rabbi Hillel in die Lehre geht:

"Es geschah einmal, dass ein Nichtjude zu (dem Schriftgelehrten) Schammai kam und zu ihm sprach: ’Wie viele Torot (Mehrzahl von "Tora") habt ihr?’ Jener erwiderte: ’Zwei, eine schriftliche und eine mündliche Tora.’ Er (der Nichtjude) entgegnete: ’Die geschriebene glaube ich dir, aber die mündliche nehme ich dir nicht ab. Mache mich zum Proselyten (d.h. Lass mich zum Judentum konvertieren) unter der Bedingung, dass du mich nur die schriftliche Tora lehrst!’ Da schrie ihn jener an und entfernte ihn mit einem Verweis. Er kam vor (den Schriftgelehrten) Hillel, und der machte ihn tatsächlich zum Proselyten. Am ersten Tag lehrte er ihn: ’Alef - Bet - Gimel - Dalet’ (d.h. die ersten vier Buchstaben des hebräischen Alphabets). Am folgenden Tag aber lehrte er ihn in genau der umgekehrten Reihenfolge, worauf jener ihn fragte: ’Aber gestern hast du es mir doch nicht so gelehrt!’ Er (Hillel) erwiderte: ’Hast du dich nicht da auf mich verlassen? Darum verlasse dich auch jetzt auf mich, was die mündliche (Tora) anbelangt!’" (bSchab 31a).

Diese Geschichte zeigt sehr schön die Skepsis des Nichtjuden gegenüber dem Konzept einer mündlichen Tora. Insbesondere fällt die Verwunderung des Nichtjuden über die Diskrepanz zwischen mündlicher und geschriebener Tora auf. Die mündliche Lehre kann sich im Extremfall in das Gegenteil der schriftlichen verwandeln. Die Geschichte zeigt aber auch, dass Torastudium Vertrauenssache ist, die ein tragfähiges Lehrer-Schüler-Verhältnis voraussetzt.

So weit sich die mündliche von der schriftlichen Tora entfernen kann, so könnte es im Judentum andererseits "keine 'mündliche' Tora geben, die nicht in das Studium der 'schriftlichen' eigebettet wäre". (1) Trotz mündlicher Tora bewahrte das Judentum stets seinen Charakter als Buchreligion, zumal auch die mündliche Tradition später verschriftet wurde in Gestalt von Mischna und Talmud. "Der Unwissende kann nicht fromm sein", sagt Hillel in den Vätersprüchen (mAvot 2,6) und verdeutlicht damit die Bedeutung des Lernens für den frommen Juden. Gegen diesen intellektualistischen Zug gab es zwar auch innerjüdischen Widerstand - etwa in Gestalt des Chassidismus, der einen unmittelbareren Zugang zu Gott als über die Schrift suchte. Auf´s Ganze gesehen blieb er jedoch immer tonangebend, was sich auch in der großen Zahl von Juden in literarischen und publizistischen Berufen nieder schlug.

Die rabbinische Exegese erscheint dem Außenstehenden vielleicht zuweilen als spitzfindig, sie ist aber alles andere als willkürlich. Sie folgt bestimmten Regeln, die man in Reihen ("Middot") zusammen gestellt und unter dem Namen berühmter Rabbinen veröffentlicht hat. Weite Verbreitung fanden die 7 Middot des Rabbi Hillel oder die 13 Middot des Rabbi Jischmael (2.Jhd.). Beliebt ist in der jüdischen Schriftauslegung beispielsweise der Schluss vom Allgemeinen auf das Besondere (oder umgekehrt). So wird aus dem Toragebot "Du sollst das Zicklein nicht in der Milch der Mutter kochen" abgeleitet: "Du sollst nicht Fleisch mit Milch kochen und essen!" (TNeof zu Ex 23,19 ). Auch in vielen anderen Fällen wird durch Verallgemeinerung die Tora verschärft. Man baut, wie man sagt, einen "Zaun um die Tora", um ihren heiligen Kern vor Übertretung zu schützen. Ähnlich wirkte sich der Schluss vom Leichteren auf das Schwerere aus (Qol wachomer): Wenn ein Gebot in einem weniger bedeutenden Fall angewendet werden muss, um wie viel mehr gilt es dann natürlich auch in einem bedeutenderen Fall.

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Schon lange vor der Entstehung der historisch-kritischen Bibelauslegung, an der Juden entscheidenden Anteil hatten (Baruch Spinoza, Moses Mendelsohn), gab es im mittelalterlichen Judentum eine am Literalsinn interessierte Schriftexegese, die philologisch, linguistisch, lexikographisch und grammatikalisch auf hohem Niveau abeitete (Ibn Esra, Schlomo ben Jitzchaq u.a.). Vermittelt über Nikolaus von Lyra profitierte von diesen Kenntnissen auch der Wittenberger Reformator Martin Luther ("Wenn Lyra nicht geleiert hätte, hätte Luther nicht getanzt").

Neben der klassisch-rabbinischen Schriftauslegung gab es bereits seit der Antike die allegorische Methode, wie sie vor allem im hellenistischen Judentum (z.B. Philo v. Alexandrien) gepflegt wurde. Hier wird nach der Tiefendimension des Bibeltextes gefragt. Da dieser "übertragene Sinn" nicht unbedingt augenfällig ist, sondern sich nur dem Fachmann bzw. dem Eingeweihten erschließt, hat diese Methode eine gewisse Affinität zu Esoterik und Mystik (>> Kabbala). Auch hier gibt es Querverbindungen zum Christentum, z.B. bei dem schwäbischen Humanisten Johannes Reuchlin.

Die jüdische Bibelauslegung mit ihrer zweifachen Tora scheint auf den ersten Blick näher am katholischen Denken zu stehen, das neben der Schrift auch die Tradition in Ehren hält. Beide unterscheiden sich allerdings insofern voneinander, als es im Judentum keine Person oder irgend ein Lehramt gibt, das das Verständnis der Bibel normiert. Es gibt vielmehr einen offenen, vielfach kontrovers geführten Diskurs, der in seiner Gesamtheit als "Wort Gottes" gilt. Hier berührt sich das eher Judentum mit dem Protestantismus, der das eifersüchtig gehütete Auslegungsmonopol der mittelalterlichen Kirche in Frage stellte und die Bibellexegese wieder demokratisierte. Freilich erinnert sein Schriftprinzip ("sola scriptura") in manchem an die Karäer, einer teilweise bis heute existierenden jüdischen Sekte, die die talmudisch-rabbinische Lehre ablehnt und nur die Hebräische Bibel selbst gelten lassen will. Diese Berufung auf die Schrift allein entsprang ursprünglich sicher in beiden Fällen einem emazipatorischen Interesse, andererseits besteht hier immer die Gefahr des Erstarrens. Bereits zur Zeit Jesu bestritten die Sadduzäer die Geltung der mündlichen Tora. Als das Judentum 70 n.Chr. durch die Zerstörung des Jerusalemer Tempels seinen kultischen Mittelpunkt verlor, waren es nicht sie, sondern die "flexibleren" Pharisäer, die durch ihre Neuinterpretation des alttestamentlichen Erbes einen Weg aus der Katastrophe ebneten

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(1) E. Fackenheim, Was ist Judentum?, 63

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