von Dr. Hans Maaß
1. Erneuertes Verständnis des Volkes Israel
Bereits
1945 trat der unvergessene spätere badische Prälat Hermann Maas für
ein neues Verhältnis zwischen Christen und Juden ein, nicht nur im Entsetzen
über Auschwitz, sondern weil er jetzt die Zeit für gekommen hielt,
dass sein schon vor der Nazizeit durch intensives Studium der Bibel und des
Talmud gewonnenes Verständnis des Judentums für eine Selbstbesinnung
der Christenheit fruchtbar gemacht werden müsse. Ganz allmählich,
in kleinen Schritten und mit vielen Rückschlägen haben seine Gedanken
Gehör gefunden.
Ein erneuertes Verständnis ist nötig, wo es gewohnte, nicht mehr zu
rechtfertigende Missverständnisse gibt. Worin bestehen diese? Bestenfalls
in einer Abwertung des jüdischen Glaubens, als sei er durch den christlichen
überholt und überwunden, jedoch auch in Verunglimpfungen als krämerische
Gesinnung, auch Gott gegenüber, als scheinheilig, uneinsichtig, rachsüchtig.
Diese Vorwürfe reichen teilweise bis ins Neue Testament zurück.
So unterlaufen den Evangelisten gelegentlich wertende Aussagen über die
Pharisäer, dass sie sich einbildeten, besser zu sein als andere, dass sie
sich nach außen den Schein der Frömmigkeit gäben, inwendig aber
voller böser Gedanken seien. Gewiss, es gab auch solche Pharisäer.
Dies weiß sogar der Talmud. Aber ist dies charakteristisch für das
Pharisäertum? Waren sie nicht Leute, die sich in einer schon damals immer
säkularer werdenden Welt bemühten, durch Regeln die ernsthaft Frommen
vor Anpassung und Oberflächlichkeit zu bewahren und durch Gründung
von Genossenschaften, in denen sie sich aufeinander verlassen konnte, vor Ausnützung
durch Gewissenlose zu schützen? Was ist daran Schlimmes? Ist das nicht
aller Ehre wert? In den Augen der Christen, die nicht dem Judentum, sondern
der Völkerwelt entstammten, erschien diese Haltung engstirnig, kleinkariert
und wurde verspottet, obwohl sie der Ehre Gottes diente! Bis in heutige Predigten
und Unterrichtsbücher hinein ist diese erhaben überlegene christliche
Bewertung des Judentums noch spürbar; und Jesus wird dabei oft als der
ganz andere, darüber erhabene, fast als “Antijude” gezeichnet,
der das Judentum überwunden habe. Was für ein entsetzlicher Gedanke,
Menschen, die Gott mit Beschränkungen, die sie sich auferlegen, die Ehre
geben wollen, für überwunden zu erklären.
Ebenso lässt sich schon einzelnen Stellen des Neuen Testamentes ein gewisser
christlicher Triumph über die Zerstörung des Jerusalemer Tempels entnehmen,
als sei diese Katastrophe Gottes Strafe für Verfehlungen Israels gewesen.
Wenn Juden dies so sehen und sich anklagen, ist dies etwas anderes, als wenn
Christen dies Juden höhnisch vorhalten.
Nicht weniger verheerend hat sich der Vorwurf ausgewirkt, die Juden hätten
Jesus ermordet oder durch die Hand des römischen Präfekten ermorden
lassen. Als Gottesmörder wurden sie während des ganzen Mittelalters
beschuldigt, und an Karfreitag konnten sie ihre Häuser nicht verlassen,
weil sie befürchten mussten, von den Kirchgängern verprügelt
oder mit Steinen beworfen zu werden. Dabei ist klar zu erkennen, dass Pilatus
Jesus hinrichten ließ, weil er ihn für einen gefährlichen, jüdischen
Aufrührer hielt, der sich zum König der Juden machen wollte und damit
die römische Herrschaft gefährdet hätte. Ob und inwieweit dabei
auch bestimmte jüdische Kreise, denen Jesus nicht genehm war, die Hand
im Spiel hatten, ist umstritten. Jedenfalls verfolgte Pilatus eigene Interessen;
aber die Juden mussten die Verantwortung übernehmen.
So ließe sich die Liste uralter Verleumdungen und Verunglimpfungen endlos
verlängern.
2. Der Wahrheit verpflichteter Umgang mit der Bibel
Das
erneuerte Verhältnis zum Volk Israel erfordert zuerst eine neue Art des
Umgangs mit der Bibel. “Der Wahrheit verpflichtet” heißt nicht
nur fragen, was der jeweilige Verfasser gemeint hat, sondern auch die Richtigkeit
seiner Aussagen überprüfen. Ein naturwissenschaftlich bestimmtes Denken,
hat vor allem danach gefragt, ob erzählte Ereignisse mit den bekannten
Naturgesetzen vereinbar sind. Eine der Wahrhaftigkeit gegenüber den Juden
verpflichtete Auslegung muss fragen, ob politische, gesellschaftliche und religiöse
Verhältnisse der Juden zu Zeit Jesu richtig dargestellt sind.
Das Judentum als “Leistungsreligion” zu bezeichnen, die mit Gott
gewissermaßen um Gegenleistungen “feilscht” entspricht einem
Missverständnis, das aus Luthers Auseinandersetzung mit der Kirche seiner
Zeit und judenfeindlichen Vorurteilen des 19. und 20. Jh. (“jüdischer
Händler”) entspringt. Wie die Befolgung der Gebote verstanden wird,
zeigt ein Segensspruch, der etwa beim Händewaschen gesprochen wird: “Gelobt
seist du, Ewiger, unser Gott, der uns geheiligt hat durch seine Gebote und uns
das Waschen der Hände befohlen hat.” (bzw. Sabbatlichter anzuzünden
usw.). Man befolgt die Gebote, um damit Gott zu ehren; gleichzeitig realisiert
sich darin die Zugehörigkeit zum geheiligten Volk.
Heil muss man sich dadurch nicht erwerben; denn “Ganz Israel hat Anteil
an der kommenden Welt” (Sanh. XI,1). Dies wird auch durch Verfehlungen
– außer Götzendienst und Gotteslästerung – nicht
widerrufen. Man lebt im Heil und kommt nicht zum Heil (wie Gläubige aus
der Völkerwelt).
Der Sabbat ist ein Segen, den man erlebt, wenn man ihn konsequent und ohne Abstriche
einhält. Er bedeutet die Unterbrechung des Alltagstrotts und Alltagsstresses.
Er wird geehrt, indem man alles vorbereitet, was möglich ist (sogar das
Einschalten von Zeitautomaten, die Licht und Kochplatten bedienen), und alles
lässt, was nicht unbedingt lebensnotwendig ist. Ist aber Leben bedroht,
darf man sogar telefonieren und Auto fahren; denn dies ist notwendig. Auch Rettung
von Tieren ist Pflicht. Und im Zweifelsfall darf man eher etwas tun, was normalerweise
unerlaubt ist, als ein Leben zu gefährden.
Deshalb müssen die Auseinandersetzungen Jesu mit einigen Zeitgenossen über
Heilungen am Sabbat neu bewertet werden. Sie gehören in den Bereich des
ernsthaften Ringens um Gottes Willen und die Pflicht zum ständigen Fragen,
damit man sich die Sache nicht zu leicht macht. Im 2. Jh. hat ein angesehener
Rabbi gelehrt: “Der Sabbat ist euch übergeben, nicht ihr ihm”;
dies erinnert an Jesu Wort vom Sabbat um des Menschen willen. Wenn die Evangelisten
manchmal in Jesu Sabbatheilungen einen Grund für Tötungsabsichten
der Schriftgelehrten sehen, so ist dies eine maßlose Übertreibung,
die nicht der Wahrheit entspricht, zumal Jesus oft an den Kranken gar nicht
“handelt”, sondern nur zu ihnen spricht. Auch die Frage des Händewaschens
vor dem Essen, war noch im 4. Jh. Gegenstand von Gelehrtendiskussionen, also
keineswegs in einer bestimmten Weise festgelegt.
Bei den sog. “Antithesen” der Bergpredigt (“Ihr habt gehört
..., ich aber sage euch) müssen wir uns klar machen, dass Jesus kein einziges
der Zehn Gebote aufhebt, sondern die übliche Praxis und volkstümliche
Einstellung verschärft. Außerdem haben Rabbinen immer wieder den
Worten anderer Rabbinen oder der gängigen religiösen Praxis ihre eigene
Auslegung entgegengesetzt. Auch wenn Jesus Menschen kritisierte, die ihr Vermögen
für den Todesfall dem Tempel geweiht haben, und deshalb ihre Eltern nicht
mehr unterstützten, handelten diese keineswegs nach der einhelligen Lehre
der Rabbinen. Durchgesetzt hat sich die Auffassung, wer ein Gelübde zum
Schaden eines anderen (z. B. der Eltern) geleistet hat, kann (ganz i. S. Jesu)
davon entbunden werden, nicht jedoch von Gelübden zu seinem eigenen Schaden.
So bieten die Evangelien eine Fülle von Beispielen, dass Jesus in die lebendige
Diskussion seiner Zeit um die richtige Umsetzung des Willens Gottes eingebunden
war, in einzelnen Fällen sogar die spätere Mehrheitsauffassung vorwegnahm.
Genügend entsprechend weiterführende Literatur ist in den letzten
Jahren erschienen. Sie darf um der Wahrheit willen nicht mehr übergangen
werden.
3. Lesen im Zusammenhang mit der “Wurzel” (Röm 11)
Vor vierzig Jahren war es gang und gäbe, das Christentum als hellenistische
Religion zu sehen und daher das Neue Testament von entsprechenden religiösen
und philosophischen Vorstellungen her zu verstehen. Die Neubesinnung auf die
jüdischen Wurzeln seit etwa 25 Jahren hat zu neuen Einsichten geführt.
Dies hat seinen guten Grund in den urchristlichen Schriften selbst. Sogar gegenüber
den heidenchristlichen Gemeinden in Galatien, Korinth und Rom argumentiert Paulus
mit biblischen Zitaten, setzt also die Kenntnis der jüdischen Bibeltradition
voraus. Die Schriften der hebräischen Bibel dienten bei der Missionspredigt
als Beleg dessen, was sich schon ereignet hatte oder demnächst ereignen
werde.
Wenn Paulus den römischen Christen ins Bewusstsein ruft: “Nicht du
trägst die Wurzel, sondern die Wurzel trägt dich”, so enthält
dies für heutige Bibelleser zunächst die Verpflichtung, die Botschaft
des Neuen Testaments vom Alten her zu interpretieren und erst dann zu fragen,
wie sich diese Botschaft unter dem Einfluss hellenistischen Denkens vielleicht
verändert hat. Diese Fortentwicklung darf aber nicht einfach als gegebene
Tatsache hingenommen, sondern muss kritisch auf ihre Berechtigung hin befragt
werden, z. B. ob daraus ein unbiblisches Gottesverständnis entstehen könnte,
das durch den Rückbezug auf das Alte Testament korrigiert werden muss.
Umgekehrt ergibt sich aber auch die Verpflichtung, das Alte Testament als ursprüngliches
Gotteswort ernst zu nehmen und nicht sofort versteckte oder offene Hinweise
oder Prophezeiungen auf Jesus herauslesen zu wollen. Die Jünger Jesu hatten
im Zuge der Wiedergewinnung ihrer mit Jesu Kreuzigung zerbrochenen Hoffnungen
Zuflucht zu den Psalmen und prophetischen Schriften genommen und dort Deutungshilfen
für das Unfassbare an Jesu Geschick gefunden. Dies ist auch uns heute noch
erlaubt und empfohlen. So bleibt das Alte Testament “Wurzel” und
die christliche Botschaft reichlich sprießende Triebe. Im 2. Jahrhundert
wurden diese Entdeckungen jedoch als “Orakel” missverstanden und
alle, die das hebräische Alte Testament nicht so verstehen konnten, des
Unglaubens und der Verstockung bezichtigt. Damit haben sich die Zweige gegen
die Wurzel erhoben, um mit Paulus zu sprechen. Von dieser Verkehrung müssen
wir nicht nur um der Juden, sondern um unserer selbst willen zur Umkehr finden.
4. Lernen vom jüdischen Umgang mit der Bibel: ernst, aber nicht tierisch ernst
Jüdische
Schriftauslegungen überraschen uns gelegentlich durch zwei für uns
widersprüchliche Umgangsweisen mit dem Bibelwort. Neben wörtlichem
Ernstnehmen (bis hin zu auffälligen Schreibweisen) stehen humorvolle Auslegungen,
die unseren christlichen Respekt vor der Bibel oft schocken. Pinchas Lapide
hat dies einmal in den Satz gefasst: “Man soll die Bibel entweder wörtlich
nehmen oder ernst. Wir nehmen sie ernst, d. h. wir schürfen hinter den
Worten.” Auch dieser Satz ist ein Schock für jeden soliden christlichen
Biblizisten; denn für viele bedeutet ernst nehmen vor allem wörtlich
nehmen. Was ist aber mit dem “hinter den Worten schürfen” gemeint?
Ein Beispiel muss hier für viele genügen. Bei der Erschaffung des
Menschen ist im hebräischen Text das Wort “machte” (wörtl.
“bildete”; 1.Mos 2,7) mit einem “j” zuviel geschrieben.
Für christliche Ausleger handelt es sich um einen Schreibfehler, den manche
sogar übergehen. Jüdische Ausleger haben sich jedoch Gedanken gemacht,
warum ausgerechnet hier dieses Wort anders geschrieben ist als überall
sonst in der Bibel. Sie haben die verschiedensten geistreichen Erklärungen
gefunden: Der Mensch ist als Mann und Frau erschaffen, für diese und für
die kommende Welt, mit Leib und Seele usw. Diese unterschiedlichen Deutungen
stehen nebeneinander, weil das Judentum kein dogmatisches Verständnis der
Bibel vertritt, sondern ein inspirierendes, anregendes. Denn das Judentum ist
eine Religion der Praxis, nicht des dogmatischen Lehrsystems.
Ein Beispiel zur Auslegung der Schöpfungsgeschichte macht sowohl die Problematik
menschlichen Tuns als auch die gelassene Überlegenheit Gottes in einer
fast witzigen Erzählung deutlich:
“Nach R. Simon teilten sich in der Stunde, wo Gott den ersten Menschen
erschaffen wollte, die Engel in viele Parteien. Einige sagten: er soll nicht,
andere sagten: er soll erschaffen werden s. Ps 85,11. Die Liebe (Gnade) sprach
nämlich, er werde erschaffen, denn er wird menschenfreundlich sein; die
Wahrheit dagegen sprach, er werde nicht erschaffen, denn es wird Lug und Trug
geben; die Gerechtigkeit sprach, er werde erschaffen, denn er wird Wohltätigkeit
üben, der Friede sprach, er werde nicht erschaffen, denn es wird Streit
und Zank geben. Was tat Gott? [...] Während die Dienstengel so miteinander
stritten und beratschlagten, bemerkte R. Huna der Große von Sepphoris,
erschuf Gott den Menschen. Er sprach zu ihnen: Was streitet ihr euch noch? Der
Mensch ist schon erschaffen.”
Auch hierzu gibt es leicht verständliche weiterführende Literatur,
die Interessierten ohne große Vorkenntnisse das Hineinversetzen in diesen
kreativen Umgang mit der Schrift erleichtert. Die Bibel ernst, aber nicht tierisch
ernst zu nehmen, haben wir dringend nötig, wenn wir nicht in einem engstirnigen
Biblizismus erstarren wollen. Die Neubesinnung auf die jüdischen Wurzeln
des christlichen Glaubens nötigt uns geradezu, diesen Weg zu gehen.
5. Biblizismus und Kritizismus
Mit diesen Stichworten sind die zwei christliche Entartungen benannt, in die
jüdische Schriftauslegung nicht geraten kann. Der unkritische Biblizismus
verdankt sich der falschen Auffassung, das Heil des Menschen hänge von
der Zustimmung zu bestimmten Glaubensüberzeugungen i. S. von Lehraussagen
ab. In diesem Fall würde Irrtum Heillosigkeit, d. h. Verdammnis nach sich
ziehen. In diesem Sinn hat Luther seine Heilsgewissheit mit den Worten verteidigt:
“Das Wort sie sollen lassen stahn”.
Ein Biblizismus, der nicht kreativ, sondern dogmatisch am Wortlaut klebt, ist
ein Zeichen von Angst, die mit dem Beharren auf einem scheinbar ohne Interpretation
verständlichen Bibelwortlaut überwunden werden soll. Jüdische
Schriftauslegung kennt solche Probleme nicht, da das Heil von der Erwählung
des Volkes, nicht von der Annahme bestimmter Vorstellungen abhängig ist.
Frei steht dagegen nicht die Befolgung der Gebote. Hier gibt es eine Fülle
von Differenzierungen, an die man sich hält, ohne zu reflektieren, was
geschehen würde, wenn man sie nicht befolgt. Man tut es zur Ehre Gottes.
Kritizismus ist eine Gegenreaktion zum Biblizismus. Er ist einst entstanden,
um sich gegen die geistige Bevormundung einer Macht ausübenden Kirche zu
wehren. Aber auch er ist nicht kreativ, weil er nicht aus der Freude an der
Schrift, sondern aus einer verneinenden Grundeinstellung geboren ist. Die Neubesinnung
auf den jüdischen Umgang mit der heiligen Schrift, kann uns vor Verkrampfungen
nach beiden Seiten bewahren.
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