Es herrschte nicht immer Pogromstimmung
Das mittelalterliche Judentum prägte Kultur und Gesellschaft in Europa mit

von Alexander Lang


Reste der mittelalterlichen Synagoge in Speyer

In seiner Not vergrub der reiche Kaufmann aus Erfurt seinen Schatz unter der steinernen Treppe seines Kellers. Die Juden, die „Christusmörder“, seien schuld am Ausbruch des „Schwarzen Tods“, skandierte der Pöbel und zog mordend und plündernd durch die Stadt. Der Kaufmann konnte nicht mehr fliehen. Wie die meisten Mitglieder der 1000-köpfigen jüdischen Gemeinde in Erfurt wurde er während der Pestpogrome des Jahres 1349 getötet.

Erst 1998 wurden die Münzen und Silberbarren, Schmuckstücke und Silbergeschirr bei einer archäologischen Grabung im mittelalterlichen Judenviertel Erfurts entdeckt. Der Schatzfund ist nicht nur Zeuge eines grausamen Mordes. Er erzählt auch vom reichen Beitrag des mittelalterlichen europäischen Judentums in Kultur, Handel und Gewerbe.

Bisher hat die Geschichte der europäischen Juden in den Jahren 500 bis 1500 nur geringe Beachtung gefunden, sagt Werner Transier. „Sie ist mehr als eine Geschichte von Verfolgung und Leid“, betont der wissenschaftliche Leiter der Ausstellung „Europas Juden im Mittelalter“, die November 2004 bis März 2005 im Historischen Museum der Pfalz in Speyer zu sehen war. Als Fernhandelsleute, Geldgeber, Wissenschaftler und Religionsgelehrte hätten Juden in den beiden europäischen Zentren des Judentums – Aschkenas in Mitteleuropa und Sepharad auf der Iberischen Halbinsel – die Entwicklung der Städte und Staaten gefördert.

Die allgemeine Vorstellung des von seiner nichtjüdischen Gesellschaft isolierten mittelalterlichen „Ghettojuden“ sei unhaltbar, betont der Judentumswissenschaftler Werner Transier. Gerade in Deutschland hätten die Juden um ihre Synagogen und anderen gemeindlichen Einrichtungen herum in Gassen oder Vierteln in den städtischen Zentren gelebt. Synagoge und Kirche seien oft in enger Nachbarschaft gelegen, zwischen der jüdischen und der christlichen Bevölkerung habe es häufig einen engen und meist friedvollen Austausch gegeben.

„Es herrschte nicht ständig Pogromstimmung“, sagt Transier, der die immer wieder aufflackernden Judenmorde als „negative Pendelschläge in den Beziehungen zwischen Juden und Christen“ bezeichnet. Allerdings habe es eine latente Diskriminierung der Juden gegeben. Als angebliche „Geldwucherer“ und Nachfahren der „Christusmörder“ seien sie immer wieder Gewalt und Anfeindungen ausgesetzt gewesen. Vor allem den Pogromen während der Kreuzzüge ab dem elften Jahrhundert seien viele Juden zum Opfer gefallen.

Vom elften bis 13. Jahrhundert spielten die jüdischen Theologen in Speyer, Worms und Mainz eine zentrale Rolle bei der Entwicklung eines eigenen jüdischen Traditionskreises. Vom Rhein ausgehend verbreitete sich dieser über die Grenzen des Heiligen Römischen Reiches hinaus bis nach Osteuropa und Italien. Weltliche und vor allem die geistlichen Herrscher siedelten Juden in den Städten entlang des Rheins aus wirtschaftlichem Interesse gezielt an.

Der Zuzug von Juden vor allem aus dem Mittelmeerraum, in dem es seit der Antike eine starke jüdische Bevölkerung gab, zahlte sich für die rheinischen Bischofsstädte aus. „Im Glauben, die Ehre unseres Ortes 1000-fach zu mehren, habe ich die Juden angesiedelt“, schrieb der Speyerer Bischof Rüdiger im Jahr 1084 in seiner Urkunde zu Gunsten der Speyerer Juden.

Unter dem eigennützigen Schutz der Kirche und weltlicher Fürsten belebten jüdische Fernhändler den in spätrömischer Zeit verloren gegangenen Fernhandel wieder. „Die Juden in den großen Städten am Rhein saßen am Endpunkt der großen orientalischen Handelswege, der Seidenstraße bis Indien und China und der Weihrauchstraße bis Jemen und Oman“, erläutert Transier. Sie brachten aus dem Orienthandel viele Luxusgüter wie Gewürze, Weihrauch und wertvolle Stoffe ins Reich. Erst Kredite jüdischer Bankiers ermöglichten der Kirche den Bau gewaltiger Dome am Rhein.

Ein wichtiger Unterschied zwischen den jüdischen Gemeinden Mitteleuropas und den Juden auf der Iberischen Halbinsel war die Möglichkeit der Berufswahl. Das Zunftrecht habe die Juden in Deutschland ausgegrenzt, erklärt Transier. Sie durften sich nur als Kaufleute, Mediziner und Apotheker oder im Geldhandel betätigen. In Spanien hingegen, wo Juden und Christen gemeinsam vor den aus Afrika vordrängenden Arabern nach Norden geflohen waren, konnten Juden auch als Handwerker und Bauern arbeiten.

Während sich die wissenschaftliche Betätigung der Juden am Rhein auf die Theologie, Medizin und Pharmazie beschränkte, war die wissenschaftliche Breite der Juden südlich der Alpen durch den Kontakt zur arabischen Kultur breiter. Die von jüdischen Wissenschaftlern weiterentwickelten „Astrolabien“ – Geräte zur geografischen Positionsbestimmung – hätten erst die Entdeckung der „Neuen Welt“ im Jahr 1492 ermöglicht, sagt Transier.

Fundament der jüdischen Gemeinden sei die lokale Kultgemeinschaft gewesen. In den jüdischen Gemeinden am Rhein entwickelten sich Dynastien von Gelehrten. Diese hätten das Leben der jüdischen Bevölkerung mit ihren Weisungen, religiösen Entscheidungen, Schriften sowie liturgischen Dichtungen und Gesängen geprägt. Monumentale Frauengebetsräume wie in der Speyerer Synagoge zeigten nach neueren Erkenntnissen, dass Frauen am religiös-kultischen Leben der jüdischen Gemeinden einen großen Anteil hatten.

Die Geschichte der europäischen Juden endete nicht mit den Vertreibungen des späten Mittelalters, betont Transier. Die jüdischen Gemeinden am Rhein wirkten auf die späteren jüdischen Zentren in Frankfurt am Main, Prag, Wien, Wilna, Lemberg und auch in Übersee ein. Zahlreiche nach 1492 von der Iberischen Halbinsel vertriebene Juden seien im Osmanischen Reich aufgenommen worden. Die meisten jüdischen Gemeinden am Rhein wurden während der Pestpogrome von 1348 bis 1350 zerstört.

Viele Juden wanderten danach nach Osteuropa und nach Italien aus, andere flüchteten in ländliche Gebiete. Kleinere Judengemeinden habe es in Deutschland nach Wiederansiedlungen bis zur Nazizeit gegeben. Die Nationalsozialisten haben im Jahr 1942 mit der Wormser jüdischen Gemeinde die letzte aschkenasische Gemeinde ausgelöscht.

© Copyright Evangelischer Kirchenbote 2005 - Veröffentlichung mit der freundlichen erlaubnis des Autor und des Evangelischen Kirchenboten.

Quelle: http://www.evpfalz.de/presse/index_kibo05-01_lp4.htm

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