Die Halacha

Über die Bedeutung der Gebote im Judentum

von Helmut Foth


Plastik eines fahrbaren Toraschreins aus Kapernaum am See Genezareth

In der großen Gottesrede in Deuteronomium 30 ist ein wesentlicher Kerngedanke jüdischen Glaubens enthalten:

"Siehe, ich habe dir heute vorgelegt das Leben und das Gute, den Tod und das Böse. Wenn du gehorchst den Geboten des HERRN, deines Gottes, die ich dir heute gebiete, daß du den HERRN, deinen Gott, liebst und wandelst in seinen Wegen und seine Gebote, Gesetze und Rechte hältst, so wirst du leben und dich mehren, und der HERR, dein Gott, wird dich segnen in dem Lande, in das du ziehst, es einzunehmen" (Verse 15+16) .

Jüdischer Glaube möchte Gott nicht seinem Wesen nach, sondern von seinen Menschenbeziehungen her verstehen. Gottes Wort hören und ihm in der Nachfolge tätig antworten, darauf kommt es an. In der alltäglichen Lebenspraxis will Gott verstanden werden. "In Gottes Fußstapfen treten" kann es dann an anderer Stelle heißen: "Es ist dir gesagt, Mensch, was gut ist und was Gott bei dir sucht: nichts anderes als Gerechtigkeit tun, Freundlichkeit lieben und aufmerksam m i t g e h e n mit deinem Gott" (Micha 6,8). Darum ist es ein großes christliches Missverständnis, als ob Juden durch das Halten der Gebote Gottes sich eine himmlische Belohnung verdienen könnten. Hier ist wohl durch die gravierende lutherische Interpretation der Gnadenlehre und Gesetzeskritik des Apostels Paulus Jahrhunderte lang eine Sicht des Judentums festgeschrieben worden, die jedoch dessen Selbstverständnis verfehlt.

Glaube im Judentum verlangt ethisches Verhalten und drückt weniger Sehnsucht nach Erlösung aus. Die ethische Verpflichtung heißt auf Hebräisch Zedaka, was Gerechtigkeit und Frömmigkeit in einem bedeutet. Der sie ausübt, ist der Zaddik, der Fromme, eben aufgrund seiner dem Mitmenschen erwiesenen Gerechtigkeit. "Der Gerechtigkeit, der Gerechtigkeit jage nach" (Dtn 16, 20.).

Das Judentum ist trotz fürchterlicher Verfolgungskatastrophen am Leben geblieben, weil es die Gebote seines Gottes gehalten hat. Insofern ist das Festhalten an den Satzungen und Weisungen Gottes für das jüdische Volk bis heute immer zugleich verheißungsvergewissernd u n d identitätsstiftend geblieben.

Jüdische Theologie ist deshalb stärker als die christliche auf die Ordnung der religiösen Feste, der Familie und des gemeinsamen Alltags ausgerichtet: Was heißt es heute,den Sabbat zu halten – darf man nur zu Fuß in die Synagoge gehen? Wie ist das Vermehrungsgebot zu verstehen - sind dann empfängnisverhütende Mittel völlig verboten? Verdienen Vater und Mutter uneingeschränkt Ehre, auch wenn sie sprichwörtlich Rabeneltern sind? Auf welche Weise soll das Sukkotfest gefeiert werden – mit welchem Material kann man die Laubhütte bauen? Welche Teile des Rindes sind essbar, welche nicht? Ist die Schwagerehe heute noch geboten?

Das Schlüsselwort für die religiöse Norm im Judentum heißt Halacha (von hebräisch haloch d.h. gehen abgeleitet; nach den Geboten Gottes „wandeln", „gehen"). Mit Halacha bezeichnet man aber auch die über zweitausendjährige Fachdiskussion über den gebotsmäßigen, verpflichtenden Lebenswandel als jüdischer Mensch.

Im Gegensatz dazu meint Haggada (von hebräisch hagged d.h. mitteilen, erzählen abgeleitet) den Inhalt der Bibel und des Talmuds, der keinen Gesetzescharakter besitzt und folglich nicht verpflichtend ist. Die theologischen Diskussionen darüber, welche Aussagen über die Unendlichkeit Gottes erlaubt sind oder ob es ein leibliche Auferstehung geben wird, ja selbst wann und wie der Messias kommt, gehören zu Haggada. Da kann man denken wie man will. Aber auf die Beschneidung der neugeborenen Knaben verzichten zu wollen (wie dies reformerische Gelehrte im 19. Jahrhundert ihrer christlichen Umgebung zuliebe forderten) , würde den Grundkonsens der jüdischen Gemeinschaft in Frage stellen.

Wir sollten uns vor allem als evangelische Christen bewusst machen, dass im Judentum Gebote d.h. Forderungen Gottes (hebräisch heißen sie Mizwót ) auch nicht, wie Luther lehrte, dazu da sind, dem Menschen sein Sündersein und grundsätzliches Scheitern vor Gott einsichtig zu machen, sondern sie zeichnen ihn in seiner göttlichen Ebenbildlichkeit und Freiheit geradezu aus: "Ihr sollt heilig sein, denn ich bin heilig" formuliert unübertroffen schön Levitikus 19, das große Kapitel göttlicher Zumutungen an Menschenbrüder und -schwestern: ihr könnt euren Alltag meistern mit eurer Hände Werk und mit Recht, Güte und Barmherzigkeit durchdringen. Levitikus, das priesterliche Buch, in dem beides geschrieben steht, wie das Allerheiligste im Zelt der Begegnung zu gestalten ist u n d dass man dem Blinden nicht den falschen Weg weisen darf: Hochheiliges und nahezu Banales auf einer Schriftrolle vereint. Und in Exodus stehen die aus unserer Sicht bedeutungsschweren "Zehn Worte" (Zehn Gebote) nicht weit von dem Gebot, dass ein übermäßig beladenes Tier von seiner Last befreit werden muss (23, 5). Alle Weisungen sind wichtig, weil von Gott geboten und stehen in feinen Beziehungen zueinander. Das Sinngeflecht der Gebote ist häufig kompliziert, weil ja auch das Leben zuweilen kompliziert ist.

Die Absicht einer biblischen Forderung kann im reinen Gebotstext gefunden werden, verbirgt sich aber auch unter Umständen in einer kleinsten Geste einer biblischen Erzählung. Eines kann das andere kommentieren. Auf Winzigkeiten ist da zu achten, denn auch das Tun des Willens Gottes geschieht im Detail. Grammatik, Logik, Vernunft, Gefühl, Sachverstand und Fachwissenschaften waren und sind da gefragt. Sowohl praktisch - seelsorgerliche Ratschläge als auch philosophische intellektuelle Abstraktion können daraus erfolgen. Selbst die jüdische Mystik mit ihrer komplizierten kabbalistischen Buchstaben- und Zahlensymbolik bleibt der Tora und ihren Geboten verpflichtet. Ziel jüdischer Mystiker war keineswegs intensive Gottesnähe zu erlangen, sondern den Kosmos zu vervollkommnen und die Mitmenschlichkeit in dieser Welt zu intensivieren.

Dem Judentum war immer bewusst, dass die volle Bedeutung des Gebotssinns nur schichtweise gehoben werden kann, Lebensumstände sich wandeln und jede Generation eine neue Sinnebene frei legen muss. So ist die Mischna geworden, diese ca. 200 n. Chr. abgefasste Grundschrift des Judentums, sozusagen ein Kurzreport über jüdische Lebensregeln und pharisäische Diskussionen aus vier Jahrhunderten. Auf ihr baut später das riesige Überlieferungswerk des Babylonischen und Jerusalemer Talmuds auf, in dem mehr als 2000 Gelehrte zu Wort kommen. Und dazwischen und danach immer wieder großartige Versuche herausragender Gelehrter, das komplexe, schier uferlose Material zu komprimieren, lesbar zu machen.

Es gibt die Vorstellung, dass der gedankliche Prozess der Schriftauslegung am Sinai selbst in Gang gesetzt worden ist. Gott habe neben der schriftlichen auch die mündliche Tora gegeben. Manche sagen, sogar schon von Beginn der Welt an. Einer alten Erzählung nach hatte die Bundeslade links und rechts zwei Bücherregale mit dem Kommentar zu den "Zehn Geboten". Eine vortreffliche Illustration der gewaltigen Bedeutung der mündlichen Lehr- und Auslegungstradition im Judentum von Generation zu Generation bis heute. Erst die Auslegung und Verlebendigung für das konkrete Leben verleiht den Worten des Bundes Bedeutung.

Als vor zwei Jahren in Zürich der gelehrte und hochgeschätzte Rabbiner Dr. Jacob Posen verstarb, begrub man mit ihm nach altem Brauch eine Torarolle: Ein Stück Tora ist in diesem bedeutenden Ausleger der Schrift dahingegangen.

Von der Antike bis heute haben jüdische Menschen von klein auf in abertausenden Religionsschulen die Bücher Mose nach allen Regeln der Auslegungskunst interpretiert. Aber das Herzstück des Schriftstudiums sind Mischna- und Talmudauslegungen geblieben, weil der tiefere Sinn des Wortes Gottes nur im Blick auf das Ganze der Tora u n d des Lebens transparent wird.

Schon sehr früh ist man z.B. darauf gekommen - und der Talmud hält diese Einsicht fest - dass das Gebot "Auge um Auge, Zahn um Zahn" nicht wörtlich gemeint sein kann, weil diese Interpretation einen einäugigen Täter über die Maßen, nämlich mit Blindheit bestrafen würde. Die Mischna enthält z.B. zum Thema Todesstrafe folgenden Standpunkt. "Ein Gericht, das einmal in sieben Jahren hinrichtet, wird ein verderbenbringendes genannt". In der Tat sind im Laufe der Jahrhunderte die juristischen Umstände, die zu einer Todesstrafe führen, so verkompliziert worden, dass sie faktisch nie mehr ausgesprochen wurde, obwohl in der Tora steht: "Wer Menschen Blut vergießt, dessen Blut soll vergossen werden". Eine sehr frühe Auslegung zum Gebot "Vater u n d Mutter ehren" sinnt in immer verwickelteren Gedanken über das gleiche Gewicht, das hier Mann und Frau bekommen, nach und zieht den Schluss, dass Mann und Frau vor Gott gleich seien! Dies soll nach unserer Verstehenslogik dieses Gebot nie und nimmer sagen. Aber so leicht lassen sich von der Schrift inspirierte Gedanken eben nicht steuern.

Derzeit blüht die halachische Gelehrsamkeit in USA und Israel. Große Institute und Archive sind vor allem im orthodoxen und konservativen Judentum damit befasst, aus der riesigen Fülle des überlieferten und kommentierten Gebotsmaterials Antworten für Menschen und Institutionen (z.B. Krankenhäuser, Transplantationszentren, Familiengerichte) in einer völlig veränderten, technisierten Welt zu entwickeln. Seit geraumer Zeit betreibt auch das liberale Judentum eine progressive Halacha. Dürfen Frauen Rabbinerinnen werden? Ist es im Einklang mit der Tradition, wenn sich ein Mann sterilisieren lässt? Darf am Sabbat ein elektrisches Hörgerät eingeschaltet werden? Darf sich eine F r a u scheiden lassen und nicht allein der Mann? Darf man Tiere oder Pflanzen kreuzen? Und immer wieder wird dabei versucht, auf die gebietende Stimme vom Sinai zu hören. Was heißt nun, keinen anderen Göttern zu dienen, den Namen Gottes nicht mißbrauchen? Soll man für die Heiligung des Namens Gottes das Leben geben? (Die Spur jüdischer Märtyrer in der Geschichte des Abendlandes ist unübersehbar!). Verlangt Gott bedingungslosen Pazifismus? Fragen über Fragen, nicht enden wollende Verstehensversuche, Position und Widerrede sind aus dieser Lebensdiskussion erwachsen. Jesus, den seine Jünger „Rabbi" nennen, gehört in seiner Auseinandersetzung mit den Pharisäern in diese Tradition des halachischen Diskurses. Ein schönes Beispiel für halachisches Argumentieren aus dem Munde Jesu bietet die Geschichte vom Ährenraufen der Jünger am Sabbat (Mt 12, 1-14).

Vor mir liegt ein amerikanischer Talmudeinführungskurs für jüdische Religionsschüler ab neun Jahren. Da wird tatsächlich aufgrund eines Fallbeispiels aus dem Talmud die halachische Interpretationskunst geübt an der Frage, ob ein Lehrer, dem häufiger Fehler im Unterricht unterlaufen, entlassen werden soll. Die Effizienz einer Lehrkraft wurde früher offensichtlich als religiöses Problem begriffen. Wie soll in diesem geistigen Kontext das Elterngebot, der Respekt vor erzieherischer Autorität h e u t e verstanden werden? Ich habe bei der Lektüre letztlich den Eindruck gewonnen, dass mit diesem Toraabschnitt keineswegs ökonomische Effizienz gelernt, sondern ethische Sensibilität und die Suche nach gerechten Lösungen eingeübt werden sollen. Und das mit Kindern anhand eines literarischen Materials, das nahezu zweitausend Jahre alt ist.