„Sie verbrennen Dein Heiligtum..:“

Gedenken anlässlich der Reichspogromnacht 1938

Rede an der Gedenktafel Bad Bergzabern, 9.11.2003,
von Stefan Meißner


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Heute vor 65 Jahren, am 9.11.1938 fanden in ganz Deutschland Pogrome gegen jüdische Mitbürger statt. Männer und Frauen wurden durch die Straßen gehetzt, verprügelt, umgebracht. Gotteshäuser wurden angezündet, Friedhöfe geschändet, jüdische Wohnungen verwüstet. Unter dem Namen „Reichskristallnacht“ ging dieses Ereignis in die Geschichte ein. Doch der Ausdruck ist irreführend. Er stammt aus dem Wortschatz der Täter. „Kristall“ – das klingt nach etwas Wertvollem, etwas Hellem und Lichtem. Doch die Wirklichkeit sah anders aus: Im Schutz der Dunkelheit schlugen die Schergen der Nationalsozialisten Fensterscheiben von jüdischen Geschäften ein. Das dabei zerborstene Glas, das überall die Straßen bedeckte, glitzerte im Schein der Lichter. Manchenorts loderten Feuer, was den Eindruck von funkelndem Kristall noch verstärkte.

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Begründen lassen sich die Gewaltexzesse dieser Nacht nicht. Auch aus dem Abstand bleibt unverständlich, wie brave, unbescholtene Bürger zu so etwas in der Lage waren. Wenn es also keinen Grund für die Pogrome gab, einen Vorwand dafür gab es doch: Am 7. November 1938 wird der deutsche Diplomat Ernst vom Rath von einem siebzehnjährigen Juden Herschel Grynspan in Paris angeschossen. Als der Botschafter zwei Tage später seinen schweren Verletzungen erliegt, blasen die Nazis zum Großangriff gegen das Weltjudentum. Was aussehen sollte wie ein spontaner Ausbruch des Volkszorns, war von langer Hand geplant.

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Viele Synagogen gehen in Flammen auf, auch die Synagoge in Landau. Die Täter - die meisten gehen straffrei aus oder werden nach kurzer Haft wieder entlassen - übergossen die Bänke mit Benzin und steckten diese an. Der Brand schwelte stundenlang vor sich hin. Erst als die Bleiverglasung der Fenster geschmolzen war, bekamen die Flammen Luft und die Kuppeln begannen zu brennen. Lore Metzger, die Frau des letzten Landauer Rabbiners, berichtet über diesen Tag:
„Es war ein nebliger, nasskalter Morgen. Beim Verlassen unseres Hauses bemerkte ich schon den Brandgeruch in der Luft. Meine Beine zitterten, als ich die Xylanderstraße überquerte und am Hotel Körber anhielt, um Atem zu schöpfen. Da sah ich plötzlich riesengroße Flammen aus der großen Kuppel der Synagoge herausschlagen. Fassungslos blieb ich ein paar Sekunden, vielleicht auch Minuten stehen. Nicht nur der Schrecken, das geliebte Gotteshaus in Flammen zu sehen, sondern auch das Benehmen etlicher, langjähriger, christlicher Bekannten, denen ich auf der Straße begegnete und die mich, ohne ein Wort zu sagen, feindselig anstarrten, war für mich unfassbar und unerträglich. So rannte ich in Tränen zu unserem Haus zurück.“

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Ähnliche Szenen spielten sich im nahen Ingenheim ab. Eine noch heute im Dorf lebende Halbjüdin berichtet über die Ereignisse: „Als meine Mutter und ich erfuhren, dass die Synagoge in Brand gesteckt worden war, trauten wir uns zuerst nicht aus dem Hause, wir hatten eine leise Vorahnung. Doch nach einer Weile hatten wir doch den Mut, aus einem Sicherheitsabstand, vom Appenhofener Berg aus, uns alles mit anzusehen. So um neun Uhr sahen wir dann Max Marx (...) Er war vollkommen frustriert, erregt und schwer lädiert. Wir fragten alle, was denn passiert sei. Darauf antwortete er: Sie haben mich in die brennende Synagoge geworfen, als ich mich orientieren wollte, was denn überhaupt geschehen war. Als ich das gehört hatte, schaute ich durch das Fenster (..) und sah, wie einige Hauptbeteiligte (..) bei Herrn Dr. Jeremias vom Dachgeschoss alle Lebensmittel und alles, was sie gerade zur Hand hatten, auf die Straße warfen. Jetzt merkte ich, dass diese Sache ernste Konturen annahm, und ich entschloss mich sofort, über einen Umweg nach Hause zugehen. Aber an diesem 9. November kamen sie auch zu uns in die Ochsengasse. Zu dieser Zeit hatten wir das Glück, dass gerade einige Westwallarbeiter bei uns einquartiert waren, die und nun verteidigten, sonst wären wir verloren gewesen. Sie stellten sich vor das Haus, einer von ihnen mit einem Beil in der Hand, und schrie: 'Wer will meiner Wirtin etwas antun?' So wehrten sie ein mögliches Zusammenschlagen unserer Einrichtung ab.“ [mehr]

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Die damals 11 Jahre alte Lore Heinemann erinnert sich im französischen Exil, was sich an jenem 9.1.1938 in Billigheim zutrug: „Wie ich morgens am 10. November zur Schule [nach Landau] fuhr, war ich noch ganz munter. Wie ich auf dem Weg zur Schule war, rannte mir ein Junge entgegen. Er sagte, dass die Synagoge brennen würde. Ich ging mit meiner Freundin wieder zurück. Wir führen wieder nach Hause. Wie ich zu Hause war, sagten Sie, dass die Synagoge auch hier brennt. Der Mittag ging herum. Mein Vater arbeitete. Wir dachten an nichts. Gerade kam die Polizei mit meinem Vater. Er sagte, mein Vater müsse mit ihnen gehen. Dann kamen die ganzen Männer nach Dachau. Wir gingen am Abend alle zusammen, so dass er nicht so einsam war. Am späten Abend kam der Pöbel und machte großen Schaden. Nach 5 Wochen kam mein Vater wieder zurück.“

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Und was geschah in Bad Bergzabern an diesem Tag? Die Synagoge wurde zwar nicht abgebrannt, aber doch stark demoliert. Scheiben wurden eingeschlagen, ein zeitgenössisches Photo zeigt auch Schäden am Dach. Im Inneren scheint auch gezündelt worden zu sein, jedenfalls weist die Torarolle Brandspuren auf. Vielleicht wurden die SA-Leute zur Zurückhaltung gerufen, da sich das Gebäude inmitten der eng bebauten Altstadt befand. Geholfen hat das alles nichts: Die Synagoge wurde auf Anweisung von oben abgetragen. Wie in anderen Orten wurden die männlich Juden inhaftiert und ins Konzentrationslager Dachau verschleppt. Anders als bei der zweiten großen Deportation zwei Jahre später konnten die meist nach einigen Wochen wieder in ihre Familien zurückkehren. Aber ihnen war klar: Hier, in ihrer Heimat, waren sie nicht mehr erwünscht.

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Wer konnte, floh zu Freunden oder Verwandten ins Ausland. Einige wenige konnten überleben. Andere blieben zurück, sei es, weil sie nicht über die nötigen Beziehungen verfügten, sei es weil sie die Hitler-Diktatur nur für eine kurze Episode der deutschen Geschichte hielten. Ihr Schicksal war besiegelt: Wer das Lager Gurs am Rande der Pyrenäen überlebte, landete in den Todeslagern des Ostens. Zurückgekehrt ist kaum einer der wenigen Überlebenden. So bleiben in der Südpfalz nur noch stumme Zeugen der rund 500-jährigen jüdischen Geschichte in unserer Region. So wie die Turmgasse unten am Schloss, die früher die Judengasse war. So wie diese Gedenktafel hier, die an die zerstörte Synagoge erinnern soll. So wie die jüdischen Friedhöfe in Busenberg, Ingenheim und anderswo.

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Was bleibt, ist auch die Schuld unserer Väter und Großväter, die an diesen Ereignissen mitbeteiligt waren oder doch weggeschaut und geschwiegen haben. Was bleibt ist die besondere Verantwortung, die auch wir Jüngeren tragen, dass sich ähnliches nie wieder bei uns zutragen kann. Keine Kollektivschuld, aber eine kollektive Verantwortung! Wir schulden es den Opfern des Faschismus, aber auch den heute in Deutschland noch oder wieder lebenden jüdischen Mitbürgern. Dass sie nicht alleine stehen, wenn Rechtsradikale ihre Gotteshäuser mit Parolen beschmieren. Wenn sie immer und immer wieder für die israelische Regierungspolitik verantwortlich gemacht werden – wo sie doch Deutsche sind wie ich und Sie. Oder wenn ein Bundestagsabgeordneter in grandioser Verdrehung der Fakten die Juden zu einem „Tätervolk“ machen will. Wehret den Anfängen! Dies kann, dies will der 9. November 1938 uns lehren.