Die Entwicklungsgeschichte Jüdischer Gemeinden in Rheinland-Pfalz seit 1945 bis heute

von Dr. Peter Waldmann
Vorsitzender der Jüdischen Gemeinden in Rheinland-Pfalz

Vortrag aus Anlass der Veranstaltungen zum Gedenken an die Opfer des Nationalsozialismus am 06. Februar 2007 in der Heiliggeistkirche Speyer


Eingang zur alten Synagoge in Worms

Sehr geehrte Damen und Herren,

Ich freue mich hier in Speyer, einer Stadt, die für das Judentum als ein Zentrum des deutschen Chassidismus im Mittelalter eine so große Bedeutung besitzt, einen Vortrag halten zu dürfen, der sich mit der wechselvollen Geschichte der Juden in Rhein-land-Pfalz nach 1945 auseinandersetzt. Diesen Vortrag sehe ich als eine Chance an, um für Ihr Verständnis für unsere nicht immer ganz einfache Situation zu werben. Viele Probleme und Konflikte, die uns heute – auch hier in Speyer – beschäftigen, sind als direkte Folgen aus diesem historischen Prozess anzusehen.
Es ist klar dass man, um die Periode der Juden nach 1945 nachvollziehen zu können, das geschichtliche Zeitfenster stark erweitern muss. Erst durch einen vergrößerten historischen Rahmen werden Ereignisse in einen Kontext gesetzt und damit in ihrer Bedeutung überhaupt verständlich.
Um einen historischen Prozess darstellen zu können, braucht man, wie Luhmann sehr präzise feststellt, zwei Punkte als sogenannte Abgrenzungsereignisse. Erst wenn man zwei solche Punkte oder Ereignisse besitzt, entstehen die gerichteten Linien eines geschichtlichen Verlaufs. Ich habe also den historischen Prozess durch zwei Abgrenzungsereignisse in drei geschichtliche Perioden aufgeteilt:
Das erste Abgrenzungsereignis ist das Kriegsende von 1945. Es bezeichnet zum einen das Ende des deutschen Judentums mit all seinen Assimilationshoffnungen und Illusionen, die spätestens in Auschwitz verbrannten. Zum anderen steht dieses Ereignis für den Neubeginn der Jüdischen Gemeinden, deren Periode bis ins Jahr 1990 reichte.
Ab 1990 kamen Juden aus der ehemaligen Sowjetunion nach Rheinland-Pfalz, um mit uns zu leben. Es mag für Sie überraschend sein, ja geradezu grotesk wirken, dass ich die Zuwanderung als zweites Abgrenzungsereignis bezeichne und damit in seiner Bedeutung in eine Reihe mit dem Kriegsende stelle. Doch für uns, und das muss bei allen Schwierigkeiten und Hindernissen, die sich uns im Alltag immer wieder in den Weg stellen, betont werden, bedeutet das Ereignis der Zuwanderung nicht mehr und nicht weniger als unser Überleben als Jüdische Gemeinden in Rheinland- Pfalz.
Und es liegt an uns diese historische Chance für ein neues Deutsches Judentum zu nutzen.

Um die Neuorientierung des Judentums im 19. Jahrhundert, die ganz unter der Prämisse von Emanzipation und Assimilation stand, in ihrer zerstörerischen Wirkung nachvollziehen zu können, muss man sich in Erinnerung rufen, was Traditionspflege im Judentum im eigentlichen Sinne bedeutet. Die Autoren des Talmuds, der mündlichen Tora, zeigen uns den Umgang mit der Tradition an einer kleinen Geschichte auf: Als Moses auf den Berg Sinai stieg, um dort die Gesetzestafeln zu erhalten, sah er, wie der Allerheiligste die hebräischen Buchstaben mit Häkchen verzierte. Moses fragte sich erstaunt, welchen Sinn diese kleinen Verzierungen, welche die Buchstaben schmückten, haben könnten. Ihm wird geantwortet, dass später einmal ein großer und berühmter Gelehrter mit Namen Akiba kommt, der ganz neue Lehren aus diesen Verzierungen herausliest. Die Erzählung aus dem Talmud versinnbildlicht, dass ein Text nicht auf eine einzige wahre Bedeutung festzulegen ist, sondern dass der sprachliche Signifikant, der Buchstabe, polyvalent ist. Ein Text kann und soll ganz unterschiedlich gelesen werden. So sprechen die Kabbalisten, die jüdischen Mystiker, von siebzig Gesichtern der Tora, das heißt von siebzig Möglichkeiten, die heiligen Texte zu lesen. In der griechischen Tradition führt die Vieldeutigkeit des Signifikanten zum Misstrauen gegenüber Texten und Rhetorik. Die Gelehrten des Judentums bewerten dagegen diese Vieldeutigkeit des Textes nicht, wie es zu erwarten wäre, negativ als Verfälschung eines ursprünglichen Sinns. Ganz im Gegenteil, die Gelehrten sehen in der Offenheit der heiligen Schrift die Möglichkeit, die Tradition durch neue Interpretation der Realität anpassen zu können. Wie weit diese Wertschätzung der Offenheit des Textes gehen kann, wird durch eine Beschreibung deutlich, die spanische Kabbalisten von der Tora geben, und die in ihrer Radikalität von modernen Theoretikern des Dekonstruktivismus stammen könnte. Für diese Mystiker ist die Tora selbst bloß ein Kommentar aus zweiter Hand. Die wahre Tora ist zwischen den Buchstaben, in der mythischen Weiße des Papiers, verborgen. Die Mystiker entdecken hier schon die Leerstelle innerhalb von Texten, die einen aktiven Interpreten benötigen. Ein Text vermag nicht alles zu erklären, sondern er braucht stets, wie moderne Literaturwissenschaftler sagen würden, einen impliziten Leser. Da das traditionelle Judentum wusste, dass sich der Sinn von Texten nur durch Interpretationen vermitteln lässt, besaßen die Schriftgelehrten und Rabbinen einen hohen Stellenwert und waren sehr verehrt. So schreibt Rabbiner Efraim aus Sedylkow: „Bis die Weisen sie erforschen, heißt die Tora nicht vollständig, sondern bildet nur eine Hälfte, aber durch ihre Forschungen wird die Tora zu einem vollständigen Buch.“

Der Exkurs auf das Textverständnis des traditionellen Judentums sollte zeigen und belegen, dass die Gelehrten des Judentums stets wussten, dass man Traditionen nur erhalten und überliefern kann, wenn man die Kraft zur Änderung und Transformation besitzt. Wenn man Traditionen nicht verändert, verlieren sie ihren Inhalt, sie werden zur bloßen Form. Vor diesem Hintergrund wird auch für Scholem der Name mündliche Tora für den Talmud verständlich. Texte müssen immer wieder neu „mündlich“ diskutiert werden, um zu bleiben. Und das Kompendium dieser Diskussionen ist der Talmud.
Die Reform des 19. Jahrhunderts, so könnte man argumentieren, tut doch auch nichts anderes als das Judentum zu erneuern. Doch diese Veränderung transformiert nicht die Traditionsbestände, sondern vernichtet sie. Überspitzt könnte man sagen, dass die Reformbewegung mit ihrer Intention zu Assimilation die Tradition in wenigen Generationen zerstört hat. Diese Zerstörung gelang der Assimilationsbewegung 1848 mit folgendem Programm: „Verwerfung des Talmuds und Messiaslehre, Rückkehr zur heiligen Schrift.“ Mit dem Verlust der Messiaslehre verliert das Judentum sein stärkstes und ausschließendes Argument gegenüber dem Christentum. So ist es kein Zufall, sondern Programm, dass Scholem seine Judaica genau mit der Frage des Messias beginnen lässt. Hier liegen die entscheidenden Unterschiede zum Christentum: „Es ist ein völlig anderer Begriff von Erlösung, der die Haltung zum Messianismus im Judentum und Christentum bestimmt, und gerade, was dem einen als Ruhmestitel seines Verständnisses, als positive Errungenschaft seiner Botschaft erscheint, wird vom anderen am entschiedensten abgewertet und bestritten. Das Judentum hat […] an einem Begriff von Erlösung festgehalten, […] der sich entscheidend in der Welt des Sichtbaren vollzieht und ohne solche Erscheinung im Sichtbaren nicht gedacht werden kann.“ Mit der Verwerfung der Messiaslehre, wie es das Programm von 1848 vorsieht, wird der eigentliche Unterschied zwischen beiden Religionen eingeebnet. Die Forderung nach Abschaffung des Talmuds zielt in eine ähnliche Richtung. Der Talmud steht für die Vielzahl der Gesetze und Vorschriften, die bisher dazu dienten, die Existenz der Juden und ihre Eigenständigkeit über Jahrhunderte zu sichern. Durch diese Gesetze jedoch unterscheiden sich Juden von Nicht-Juden. Mit der Forderung, diese Gesetze aufzuheben, hatte man auf Seiten der Reform gehofft, die Unterschiede und Differenzen zu verwischen. Aus dem Paria, dem Außenseiter wird, wie Hannah Arendt feststellt, der Parvenu, der alles daransetzt und auch vor Selbstverleugnung und Selbsthass nicht zurückschreckt, sich an die Mehrheitsgesellschaft anzupassen. Ein beredtes Beispiel, wie weit die Selbstverleugnung im deutschen Judentum ging, liefert Margeret Susmann noch 1935: „Die Bestimmung Israels als Volk ist nicht die Selbstverwirklichung, sondern Selbstaufgabe um eines höheren, übergeschichtlichen Zieles willen.“ Der Selbsthass der deutschen Judentums drückt sich besonders im Urteil über das Jiddisch aus. Diese Sprache symbolisierte wie nichts anderes die frühere Gettoexistenz. Für diese Abwertung des Jiddisch steht eine Resolution, die im Jahre 1834 von der Konferenz Jüdischer Schulen in Baden verabschiedet worden war: „Es ist eine bekannte Tatsache, dass sich in früheren Zeiten ein entarteter sogenannter jüdisch-deutscher Dialekt eingebürgert hatte. Er ist unter anderem durch eine unkorrekte, oft abstoßende Aussprache und Intonation gekennzeichnet. […] Die Erfahrung lehrt uns nicht nur, dass solche Einzelpersonen der Gegenstand des Spottes von Seiten der Anhänger anderer Religionen sind, son-dern dass sie auch ein Gefühl des Abscheus in ihren Mitgläubigen hervorrufen.“

Diese Hoffnung auf eine deutsch-jüdische Symbiose, die dadurch zustande kommen soll, indem man sich anpasst, war trügerisch. Diese Vorstellung bestand, wie Scholem und die jüdische Gelehrte Hannah Arendt feststellten, nur als Ergebnis eines Monologs auf Jüdischer Seite. Hannah Arendt urteilt, dass die deutschen Juden, allen voran Rachel Varnhagen, weltlos waren; das heißt sie verwechselten die private mit der öffentlichen Sphäre: „Die romantische Innenschau verleitet dazu, das Gefühl für die Realität zu verlieren, weil die Grenzen zwischen dem Privaten und dem Öffentlichen, dem Intimen und dem miteinander Geteilten aufgelöst werden.“ Dieser Erfahrungsverlust, der dazu führte, nicht wahrnehmen zu wollen, dass andere sie weiterhin als Juden ansahen, wird in einer Schilderung besonders deutlich, die Scholem von seinem assimilierten Vater in einem Interview gibt: „Es fiel mir auf, dass ich in all den Jahren, die ich in meinem Elternhaus verbrachte, bis mein Vater mich wegen meines Zionismus hinauswarf, nie Christen bei uns gesehen habe. Meine Familie gehörte zum normalen bürgerlichen Mittelstand. Sie war weder reich noch arm. Aber nie setzte ein Christ seinen Fuß in unser Haus; dennoch war nach der Theorie meines Vaters alles in bester Ordnung.“ Die assimilierten Juden wollten nicht sehen, dass sie in einer unlösbaren ambivalenten Situation gefangen waren. Früher machte man ihnen den Vorwurf, anders zu sein und sich nicht anpassen zu wollen. Jetzt machte man ihnen den umgekehrten Vorwurf. Man kritisierte nun ihre „typisch jüdische Anpassungsfähigkeit“. Ein Beispiel für diese antisemitische Kritik an der Assimi-lation liefert das Buch von Langbehn „Rembrandt als Erzieher“, das um die Jahrhundertwende in deutschnationalen Kreisen ein Bestseller mit vielen Auflagen war: „Rembrandt’s Juden waren echte Juden, die nichts Anderes sein wollten als Juden; und die also Charakter hatten. Von fast allen heutigen Juden gilt das Gegenteil: sie wollen Deutsche Engländer Franzosen u. s. w. sein; und werden dadurch nur charakterlos.“ Für die deutschen Juden bedeutete eine solche Argumentation, dass sie sich in einer schier ausweglosen Lage befanden. Was sie von nun an auch tun werden, ob sie sich anpassen oder sich der Assimilation verweigern, es wird zum Anlass genommen, sie auszuschließen.

Diese ganze Geschichte der Reform, die eine Geschichte großer Tragik und Scheiterns ist, muss man kennen, um zu beurteilen, was in den Menschen vorging, die 1945 aus Theresienstadt mit einem Bus mit der Aufschrift „Goldenes Mainz“ nach Deutschland in ihre Heimatstadt zurückkehrten.
Von Mainz aus sind folgende Transporte in die osteuropäischen Vernichtungslager abgegangen:
1. März 1942 1000 Personen nach Polen
2. September 1942 1288 Personen nach Theresienstadt
3. September 1942 833 Personen nach Polen
4. Februar 1943 53 Personen nach Theresienstadt
1945 kehrten 24 Menschen, darunter auch meine Großeltern und mein Vater als einer der wenigen überlebenden Kinder zurück. Ein Weinhändler aus Oppenheim weigerte sich, wahrscheinlich aus guten Gründen, noch einmal in seine ursprüngliche Heimat zurückzukehren und seine Nachbarn wiederzusehen. Diese vierundzwanzig Menschen, die noch ergänzt wurden durch die sogenannten displaced persones, vor allem Flüchtlinge vor den Pogromen in Polen, bildeten den Kern der wiedergegründeten Jüdischen Gemeinde in Mainz. Die wenigen deutschen Juden waren in einer psychologisch äußerst schwierigen Situation. Zu aller erst mussten sie feststellen, dass die Entnazifizierung unvollkommen stattgefunden hat. Außerdem waren sie durch die Folgen der Reformbewegung von ihrer jüdischen Tradition und Religion völlig entfremdet. Gleichzeitig zerplatzte spätestens in den Konzentrationslagern ihr Traum von einer deutsch-jüdischen Symbiose, für die sie noch im ersten Weltkrieg ihren Kopf eingesetzt hatten. Sie glichen endgültig der Selbstdiagnose, die sich Franz Kafka für sich und seine Generation stellte: „Mit den Hinterbeinchen klebten sie noch am Judentum des Vaters und mit den Vorderbeinchen fanden sie noch keinen neuen Boden“.
Diese Situation, keine Identität, die den deutschen Juden ja gestohlen wurde, mehr zu besitzen, führte zu einer Verzweiflung, die das Leben der Überlebenden von an bestimmte.
Die Situation der polnischen Juden, hier am Beispiel der Gemeinde von Frankfurt, beschreibt Salomon Korn wie folgt:
„Die meisten, vornehmlich aus Osteuropa stammenden Juden sind nach Kriegsende nicht nach Frankfurt gekommen oder auf der Durchreise in dieser Stadt geblieben, um einen wie auch immer gearteten Beitrag zum Judentum in Deutschland oder gar zur deutschen Kultur zu leisten, sondern vornehmlich aus materiellem Anreiz. Das ist aus dem jeweiligen Schicksal heraus verständlich und keineswegs ehrenrührig, obwohl viele Juden es anders empfinden.“

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Ich denke, dass der letzte Nebensatz von Korn für das Verständnis der sozialpsychologischen Lage der Juden nach 1945 entscheidend sein kann. Die Überlebenden aus den Konzentrationslagern, die hier hängen geblieben sind, begannen sich in Deutschland eine materielle Existenz aufzubauen, die sie jedoch zugleich mit großer Scham erfüllte. Denn wie, so die Frage, die auch aus dem jüdischen Ausland gestellt wurde, kann man in diesem Land mit seinen Tätern, denen man noch jeden Tag begegnen konnte, bleiben. Um an diesem Widerspruch nicht zu verzweifeln, stürzte sich die erste Generation der Überlebenden in eine Lebenslüge.
Diese Lebenslüge wurde von den Vorsitzenden der Jüdischen Gemeinden ungefähr so formulieren: Wir sitzen auf gepackten Koffern; eigentlich sind wir schon auf dem Weg nach Israel.
Diese Ideologie des Provisoriums können Sie – bis auf die Synagoge in Trier – an allen Synagogen in Rheinland-Pfalz beobachten. Alle Synagogen besitzen, im Gegensatz zur Vorkriegssituation, nichts Repräsentatives. Sie sind Architekturen des Transitorischen. In Mainz wurde sogar schon der Grundstein für eine Synagoge in der Adam-Karrillon Straße gelegt. Doch dann verblieb man in dem heute viel zu kleinen Raum, denn man glaubte nicht an den Fortbestand dieser Gemeinde. Auch die Gemeindepolitik bis 1990 hatte etwas Provisorisches. In Mainz galt so äußerste Sparsamkeit, weil man das Gemeindevermögen am Ende nach Israel überweisen wollte. Andere Gemeinden wie Bad Kreuznach sparten aus den gleichen Gründen nichts; für wen sollte das Vermögen aufbewahrt werden?
Als Ziel für alle Gemeinden galt die Verwirklichung eines Satzes von Steinschneider: Es solle darum gehen, das Judentum hier in Deutschland möglichst ehrenvoll zu begraben.

Diese paradoxe Ideologie des Übergangs in Permanenz wurde natürlich von den folgenden Generationen in den Gemeinden in Frage gestellt. Auch in den Jüdischen Gemeinden war es die Generation von 1968, die zum ersten Mal unbequeme Fragen stellte. Und zwar wurde die erste Generation der Überlebenden gefragt, wann sie den Zustand des Provisoriums beenden und das Land der Täter verlassen wollen. Viele Repräsentanten dieser Generation, am bekanntesten der Literaturwissenschaftler Jakob Hessing, wanderten nach Israel aus. Diese Generation machte die Lebenslüge der Überlebenden sichtbar, denn sie zeigten, dass es möglich ist, Konsequenzen zu ziehen und das bequeme Provisorium zu verlassen.

Die dritte Generation, zu der ich mich selber zähle, könnte man als postzionistische Generation innerhalb der Jüdischen Gemeinden bezeichnen. Der Postzionismus, dessen berühmtester Vertreter in Israel wahrscheinlich Tom Segev ist, stellt fest, dass Israel nicht für alle Juden, die in der Diaspora leben, die Lösung ihrer Existenz sein kann. Statt dessen muss das Judentum in der Diaspora in seiner Produktivität erkannt werden. Der Zionismus wollte ja den neuen Juden, der von den Neurosen seiner Unterdrückung befreit ist. Im Postzionismus wird der Jude als Prototyp des Fremden verstanden, dessen Fremdsein gerade seine Intellektualität bestimmt und ermöglicht. Meine Generation wurde postzionistisch durch die Eltern und Großeltern. Uns wurde ein fast religiöses Bild von Israel vermittelt, das an der Realität zerbrechen musste. Wir wollten nicht nach Israel, wir wollten hier als Juden leben. Doch was Judentum überhaupt sei, wussten wir nicht. Die sogenannte Jüdische Renaissance, die durch Rosenzweig und Buber eingeleitet wurde, war durch die Schoah zerstört worden. Niemand konnte auf unsere Fragen eine Antwort geben. Die wenigen deutschen Juden waren durch die Reform ihrer Herkunft entfremdet. Ihr Wissen war, wie Franz Kafka schreibt, von einer zur anderen Generation vertropft. Die polnischen Juden kannten zwar genau den Ritus, doch sie wurden durch die Nazis aus der religiösen Erziehung gerissen. Durch die gewaltsame Entwurzelung durch die Nazis waren sie religiös halb gebildet. Da die Vorstände der Jüdischen Gemeinden nicht an ein Weiterbestehen der Gemeinden glaubten, wurde in die religiöse Bildung, zumindest in Rheinland-Pfalz kein Geld investiert. Diese Gemeinden besaßen keine organischen Intellektuellen mehr.

In diese Situation der intellektuellen Leere trafen nun die Juden aus der ehemaligen Sowjetunion ein. Sofort änderten sich die Mehrheitsverhältnisse in den Gemeinden. Die Alteingesessenen wurden zu einer verschwindend, kleinen Minderheit. Diese Umwälzung musste natürlich zu einigen Konflikten führen:
Man warf den zugewanderten Mitgliedern vor, dass sie sich nicht für das Judentum interessieren würden, sondern aus rein materiellen Gründen nach Deutschland gekommen seien. Zu diesem Vorwurf muss man jedoch zu einen sagen, dass wir, wie oben gesehen, auch niemand hatten, der den neuen Mitgliedern ein lebendiges Judentum vermitteln konnte. Die äußerst problematische Lösung vieler Gemeinden war, orthodoxe Rabbiner oder Kantoren anzustellen. Diese fühlten sich jedoch bald unverstanden, weil ihre Lebenswelt keine Schnittpunkte mit der der Zuwanderer aufwies. Noch problematischer war jedoch, dass es in Deutschland keine Rabbinerkonferenz gab, die sagen konnte, was ein Rabbiner überhaupt sei. In den Zeiten, als man glaubte, das Judentum in Deutschland sei ein Provisorium, hielt man eine solche Konferenz nicht für nötig. Wie jedoch oben an der Geschichte der Juden im Exil dargestellt, ist der Schriftgelehrte äußerst wichtig, denn nur er vermag es mit Hilfe von kreativen Lektüren das Judentum mit seiner Tradition immer wieder in einer fremden Welt zu aktualisieren. Und genau solche Schriftgelehrten wären jetzt notwendig gewesen.
Außerdem waren die Zuwanderer wie die alteingesessenen Mitglieder das Opfer gegenseitiger Vorwürfe, die ihren Ursprung in irrationalen Verletzungen hatten. Die alt-eingesessenen Mitglieder warfen den Zuwanderern vor, nur wegen des Geldes nach Deutschland gekommen zu sein. Doch erinnern wir uns, auch die erste Generation blieb, um sich hier eine materielle Existenz aufzubauen. Man wird den Verdacht nicht los, dass der eigene Selbsthass auf den anderen projiziert wird.

Die russischen Migranten wiederum, die oftmals gut ausgebildet waren, erlebten ihre Einwanderung als dreifache narzisstische Kränkung. Zu aller erst wurde ihr Judentum nicht anerkannt. Viele von ihnen wurden in der ehemaligen Sowjetunion durch eine rassistische Ideologie zu Juden gemacht. In Deutschland erfuhren sie, dass viele von ihnen im Sinne der Halacha, die das Judentum Matrilinear bestimmt, keine Juden waren. Außerdem waren viele Zuwanderer in ihrer Heimat durch großes soziales Prestige ausgezeichnet. Sie hatten gute Berufe und hohe soziale Anerkennung. In der Bundesrepublik waren sie plötzlich auf den Stand eines Sozialhilfeempfängers zurückgestuft. Die dritte narzisstische Kränkung betraf ihre Identität als russische Bürger. Hier im Westen erfuhren sie, dass ihre Lebensleistung hier nichts zählt, ja hier noch nicht mal wahrgenommen wird. Ihre Reaktion war, dass sie die Jüdischen Gemeinden als Heimatersatz mit russischer Sprachhegemonie zu verwandeln versuchten.
Beide Parteien hatten zu lernen, sich gegenseitig mit all den Problemen anzuerken-nen. Die deutschen Juden mussten eine Sensibilität für die Verletzungen der Zuwanderer entwickeln. Umgekehrt mussten die Zuwanderer begreifen, dass die Forderung nach Jüdischer Kultur und Religion nicht unbegründet ist. Denn immerhin leben wir in Jüdischen Gemeinden, also innerhalb einer Religionsgemeinschaft.

Heute, kann man sagen, kehrt Ruhe in die Gemeinden ein. Mit der Zeit nehmen die gegenseitigen Vorwürfe ab und Rationalität beginnt in die Gemeinden einzuziehen. Dass diese Beruhigung so schnell gekommen ist, stellt eine der großen Integrationsleistungen dar. Zu diesen Integrationsleistungen gehört auch, dass den Kindern der Zuwanderer in einem großen Prozentsatz hohe Schulabschlüsse gelingen. Nur ein Problem bleibt manifest: die Traditionsvermittlung, das heißt die Vermittlung jüdischen Glaubens, jüdischen Lebens und jüdischer Geschichte.
Diese Vermittlung kann nur durch ausgebildetes Personal erfolgreich sein. Bezahlbar ist ein solches Personal nur durch die Institution von Einheitsgemeinden mit relativ vielen Mitgliedern. Ganz problematisch wäre es, wenn das Judentum in Rheinland-Pfalz durch egozentrische Mitglieder in verschiedene Richtungen zersplittern würde. Damit das Projekt Wiederaufbau von Jüdischen Gemeinden funktionieren kann, müssen die einzelnen Mitglieder Toleranz besitzen und Pluralität zulassen. Im anderen Fall werden wir eine große Chance ungenutzt verstreichen lassen.

Ich danke Ihnen allen für Ihr Interesse und Ihre Aufmerksamkeit und ich hoffe, wir kommen jetzt anschließend noch ins Gespräch.
Ich würde mich sehr darüber freuen.
Dr. Peter Waldmann

 

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