"Auge um Auge, Zahn um Zahn"
Der Missbrauch mit einem Bibelwort

Von Prof. Dr. Dieter Vetter, Bochum

Die Alltagssprache der Kirche bringt es an den Tag: Auf die Frage an eine kirchliche Zeitschrift, wie "einer militanten Intoleranz" zu begegnen sei, antwortet ein Pfarrer: "Es mag sein, dass Toleranz Grenzen haben muss. Aber die Regel 'Auge um Auge, Zahn um Zahn' kann keine Umgangsform für Christen sein." Ein kirchlicher Repräsentant beschreibt in einem Presseinterview das Verhaeltnis von Kirche und Staat in der Bundesrepublik als "eine partnerschaftliche Weise", "in der es nicht 'Auge um Auge, Zahn um Zahn' geht, sondern in der der Staat der Kirche und die Kirche dem Staat hilft". Die Beispiele äussern eine weitverbreitete Sicht unter Christen: sie hält das "Auge um Auge, Zahn um Zahn" für das fundamentale Prinzip israelisch-juedischen Rechtsdenkens. Namhafte theologische Forscher unseres Jahrhunderts stützen sie mit ihrer Lehre, die Israeliten hätten ebenso wie die Babylonier das grausame "Recht der Wiedervergeltung" (jus talionis) geübt (Hugo Gressmann). Zwar habe das Talionsrecht die Blutrache begrenzt, jedoch gefordert, dass dem Täter die gleiche Verletzung zugefügt wurde, die er am Körper eines anderen verursacht hatte (mit unterschiedlicher Begründung: Albrecht Alt, Martin Noth, Friedrich Horst).

Ein unbekümmertes Hören auf Mt 5,38ff berücksichtigt ebensowenig die Zusammenhänge im hebräischen Kanon wie die biblische Kommentierung der Pharisäer und Rabbinen; es regt nach wie vor christliche Bibelleser und Bibelausleger an, in dem behaupteten alttestamentlichen Grundsatz streng gleichheitlicher Ersatzforderung den entscheidenden Gegensatz zwischen Altem" und "Neuem" Testament zu sehen und die "Wiedervergeltungs"-Religion des jüdischen Volkes von dem christlichen Glauben abzuheben, den das Gebot der Nächstenliebe und des Vergeltungsverzichts kennzeichne.

Die Beachtung des Befundes in der hebräischen Bibel entlarvt den Missbrauch mit einem Bibelwort. Er beginnt bereits, wenn Interpreten des Textes von Ex 21,23-25 nicht auf die Verwendung jener hebräischen Partikel hinweisen, die sie hier durch "um" oder "für" wiedergeben, korrekt dagegen in der Erzählung von Isaaks Bindung, Gen 22,13: "nahm den Widder und brachte ihn statt seines Sohnes als Brandopfer dar", oder in der Josephsgeschichte, Gen 44,33: "Darum soll jetzt dein Knecht an Stelle des Knaben dableiben als Sklave für meinen Herrn". Nirgends wird das hebräische Wort im Sinn einer austauschbaren Gleichwertigkeit gebraucht (vgl. ferner z.B. Ex 21,27; Jos 2,14; 1 Kön 11,43;14,20; Ijob 28,15); es drückt vielmehr stets "an Stelle eines anderen" aus. Damit entfällt aber die Grundlage für eine Deutung von Ex 21,23-25 als "Talionsgesetz".

Ein anderes Verständnis liegt nahe, auf das die jüdischen Bibelausleger aufmerksam gemacht haben, seit dem talmudischen Schrifttum bis in die Gegenwart (Jakob Horowitz, Auge um Auge, Zahn um Zahn, 1912; Benno Jacob, Aug' um Aug', Zahn um Zahn, Talion und Judentum, 1929; N. Leibowitz, Leviticus, 1980, 252): Der Schädiger muss dem Geschädigten etwas geben, das an die Stelle des Gliedes oder Organs tritt, das nicht mehr seine Aufgabe wie vor dem Schlag erfüllen kann. Daher musste jemand, der seinem Mitmenschen eine Verletzung schlug, nicht selbst eine erhalten, sondern ihm anstelle der Verletzung eine entsprechende Ersatzzahlung leisten. Das ist der Sinn des immer wieder missgedeuteten biblischen Grundsatzes: Augersatzleistung an Stelle des ausgeschlagenen Auges!

Vor seiner Aufnahme in das israelitische Bundesbuch Ex 20,22-23,19 mag der Text seine Vorgeschichte als "Talionsformel" erlebt haben. Ihre Absicht wäre gewesen, das Dasein von Nomaden vor der gegenseitigen Ausrottung durch die sich steigernden Vergeltungsakte (vgl. Gen 4,23ff) zu bewahren: Nur ein Leben für ein Leben, nur ein Auge fuer ein Auge... Schon als Regel in nomadischer Lebensform mit ihrem gruppenbezogenen Recht hätte sich die "Talionsformel" nicht an Einzelpersonen gewandt und das zwischenmenschliche Verhalten nicht in der Art eines "wie du mir, so ich dir" bestimmt. Der Ort, an dem der Text in die hebräische Bibel eingefügt worden ist - unter der Überschrift Ex 21,1: "Dies sind die Rechtsvorschriften" -, zeigt, dass er als ein Rechtssatz für den Richter begriffen und gebraucht wurde: Dem Richter ist die Verhängung und der Vollzug der Strafe überwiesen und damit der Privatsache entzogen worden. Der engere Kontext handelt von Körperverletzung mit oder ohne Todesfolge (21,18-36). Wenn nach 21,18f derjenige, der einen anderen zum Krüppel geschlagen hat, lediglich eine entsprechende Geldstrafe zahlen muss, dann kann auch 21,23-25 keinen anderen Gehalt haben als den, dass der Schädiger zu einer entsprechenden Geldstrafe an den Geschädigten zu verurteilen ist. Einzige Ausnahme: Bei Mord wurde keine Abgeltung durch ein "Bedeckungsgeld" gestattet (Num 35, 31). Das unmittelbar folgende Sklavenrecht (21,26f) unterstreicht das Verständnis einer finanziellen Wiedergutmachung, die der Täter gemass der richterlichen Festsetzung seinem Opfer zu leisten hat: Die geringste Beschädigung-Verletzung des Auges oder des Zahns - gibt dem Sklaven die Freiheit! Diese Bedeutung musste beim freien Israeliten entsprechende Anwendung finden.

Der zweite Beleg des Rechtswortes in Lev 24,20 interpretiert es speziell in seinem eigentlichen Sinn als Ausdruck für die Rechtsgleichheit aller. Die Richter sollten durch den Grundsatz: "Einerlei Recht sei euch" (V. 22) ermahnt werden, dass "Bruchersatzleistung anstelle der Bruches, Augenersatzleistung anstelle des Auges" für den Einheimischen wie für den Fremden in gleicher Weise galt. Nur für den Sklaven machte das israelitische Recht eine Ausnahme: Er war dem freien Israeliten nicht bloss gleichgestellt; im Fall der Beschädigung wurde er ihm sogar vorgezogendurch den höheren Ersatz: Freiheit anstelle eines ausgeschlagenen Zahns!

Im letzten Beleg Dtn 19,21 hat die Formel normierenden Charakter für die Anwendung. Der Zusammenhang schliesst die Annahme aus, dass der Geschädigte sich selbst auf solche Weise rächen dürfe. Es geht hier nicht um die beteiligten Personen, vielmehr um den Richter, von dem ein Urteil nach dem Grundsatz der Gerechtigkeit gefordert wird: "Dein Auge soll nicht schonen" (V. 21). Immer wieder stellt die hebräische Bibel den auf Beistand Angewiesenen in das Blickfeld seines Mitmenschen (Dtn 15,7-11) und verlangt in der Lebenswirklichkeit die Beziehung zwischen Mensch und Mensch (Jes 58,7; Ez18,5-9; Ijob 31,15-22.32), die auch den Feind nicht ausgrenzt (Prov 25,21). Die unbedingte Pflicht zur Gerechtigkeit (Lev 24,22) fordert, sogar dem in Not geratenen Feind den Hilfe bedürftigen Menschenbruder zu erkennen (Ijob 31,29f; vgl. Ex 23,4 mit Dtn 22,4). Das Anliegen, das Leben der Gemeinschat vor zerstörendem Hass zu beschuetzen, erreicht seinen klarsten Ausdruck in dem Wort: "Halte lieb deinen Genossen, dir gleich, Ich bins" (Lev 19,18;vgl. V. 33f). Wie die jüdische Bibel das Morden verbietet (Ex 20,13; Dtn 5,17), so untersagt sie jede andere Beschädigung des Leibes. Die Regel "Auge um Auge, Zahn um Zahn" lehrt keineswegs das behauptete starre Vergeltungsrecht, sondern hält zur Achtung vor dem Leib des Mitmenschen an!

Nicht auszuschliessen ist, dass die Sadduzäer, die sich streng auf den Buchstaben der Tora beriefen, die Regel Ex 21,24 wörtlich aufgefasst wissen wollten (vgl. Falvius Josephus, Jüdische Altertümer IV,8,35). Christliche Theologen führen neben Josephus gern einen zweiten Zeugen für ihre Vermutung an, das "jus talionis" sei wenigstens teilweise sogar noch in christlicher Zeit geübt worden (vgl. H.L. Strack/ P. Billerbeck, Kommentar zum Neuen Testament aus Talmud und Midrasch I,337.340). Sie übersehen jedoch, dass Rabbi Elieser (um 90) im Talmud häufig die ältere Halacha (Weisung fuer den jüdischen Lebensweg) der Schule Schammais vertritt, die sich gegenüber der Hillels nicht durchgesetzt hat, und er mit seiner Meinung über die buchstäbliche Deutung von Ex 21,24 in der talmudischen Diskussion eindeutig als Dissident erscheint (b Baba Kamma 83b-84a).

Die Pharisäer, die in den letzten Jahrzehnten der Periode des Zweiten Tempels die religiösen Vorstellungen und Praktiken sowie die sozialen Einstellungen der grossen Mehrheit des jüdischen Volkes repraesentierten, hatten Ex 21,24 in Sinn eines Schadensersatzanspruches gedeutet und damit den Grund gelegt, auf dem die Gelehrten der Mischna die entsprechende verbindliche Entscheidung trafen (M Baba Kamma VIII,1). Um der Gerechtigkeit willen erkannten die Rabbinen das Prinzip der Vergeltung an: "Mit dem Mass, mit dem der Mensch misst, misst man (Gott) ihm" (M Sota I,7). Auch Hillels Regel ist aus dem gleichen Prinzip abgeleitet: "Was dir nicht lieb ist, das tue auch deinem Nächsten nicht" (b Schabbat 31a). Ein zu praktizierendes Recht der Wiedervergeltung dagegen verwarfen sie; es wurde im Judentum der Antike ohne jeden Zweifel geächtet (vgl. auch den Midrasch Mechilta zu Ex21,24).

Die rabbinische Argumentation lässt erkennen, wie verantwortungsbewusst man über den Unterschied zwischen Prinzip und Rechtswirklichkeit nachdachte: Eine genaue Gerechtigkeit, die den ursprünglichen Zustand wiederherstellen will, müsste Wiedervergeltung dadurch erzielen, dass dem Mass des Verbrechens exakt das Strafmass entspricht. Die Rabbinen bewiesen nun, dass diese Gerechtigkeitsvorstellung unvermeidbare Ungerechtigkeit nach sich zieht: "Siehe, wenn das Auge des einen (des Verletzten) gross war und das Auge des anderen (des Verletzenden) klein ist, wie kann ich da auf diesend as Schriftwort anwenden: 'Auge um Auge'!?" Also folgerten sie: "damit ist Geldentschädigung gemeint" im Sinn: Wert des Auges für das Auge (b BabaKamma 84a). Die buchstäbliche Anwendung würde die talionische Gerechtigkeit in ihr Gegenteil verwandeln und sogar die biblische Einschärfung eines einheitlichen Rechts für alle (Lev 24,22) missachten (ebd. 84 84a). Aus Num 35,31 zogen die Weisen den Schluss: Man darf "Bedeckungsgeld" für die Verstümmelung von Gliedern nehmen, nicht aber für das Leben eines Mörders (b Baba Kamma 84a). Zugleich verlangten sie jedoch vom Richter, dass er ein Todesurteil vermeiden müsse: "Ein Gerichtshof, der einmal in einer Jahrwoche (Dan 9, 24ff) eine Hinrichtung vollzieht, wird ein
Verderber genannt. Eleasar... sagt: Einmal in 70 Jahren. R. Tarphon und R. Akiba sagen: Wenn wir im Synhedrion gesessen haetten, so würde nie ein Mensch hingerichtet worden sein" (M Makkot I,10, vgl. bMakkot 7a).
Die jüdischen Gelehrten des Mittelalters (vor allem Raschi, gest. 1105,Maimonides, gest. 1204, Sforno, gest. 1550) bestätigten die Auslegung der Rabbinen der mischnaisch-talmudischen Zeit. Einen bemerkenswerten Gesichtspunkt trug schliesslich Rabbi Löw aus Prag (Jehuda ben Bezalel, gest. 1609) bei: Auch wenn einer "bezahle", also der Täter dem Opfer finanzielle Wiedergutmachung leiste, sei für Gott der Fall so lange nicht abgeschlossen, bis der Täter sein Opfer um Vergebung gebeten habe. Aus diesem Grund fehle in Ex 21,24 das Wort "bezahlen", damit niemand meine, sich durch Geldersatz seiner Verantwortung für das Wohl seines Nächsten entziehen zu können. Das Ergebnis der Untersuchung lautet:

Das Judentum kennt sowenig ein Wiedervergeltungsrecht wie das Christentum. Der Gegensatzspruch Mt 5,38ff bestreitet dies auch gar nicht. Aber während Jesu Erwartung der nahen Gottesherrschaft zur Verkündigung der kommenden neuen Menschengemeinschaft führte, in der alle, "die hungern und dürsten nach der Gerechtigkeit", auch "satt werden" (Mt 5,6), richtet sich die jüdische Bereitschaft zur Verwirklichung des Willens Gottes auch nach der Zerstörung Jersusalems und des Tempels auf diese Welt und ihre Veränderung auf die Gottesherrschaft hin. Dazu gehört nach jüdischem Verständnis, dass angemessene finanzielle Wiedergutmachungen verhindern sollen, dass körperlich Verletzte auch noch sozial Geschädigte werden. So finden wir in dem alten, häufig verunglimpften Bibelwort "Auge um Auge, Zahn um Zahn" die Grundgestalt eines Invaliditätsanspruches.

aus: KNA - Oekumenische Information Nr. 6, 3. Februar 1988