Eröffnung der Ausstellung
DIE BRAUNE FALLE – Eine rechtsextremistische „Karriere“

In der Heiliggeistkirche in Speyer
Mittwoch, 01. Februar 2006, 16.00 Uhr

Rede des Direktors beim Bundesamt für Verfassungsschutz, Leiter der Abteilung Rechtsextremismus,
Artur Hertwig

Sehr geehrter Herr Kirchenpräsident,
sehr geehrter Herr Bischof,
sehr geehrter Herr Oberbürgermeister,
sehr geehrter Herr Kollege Schmitt,
meine sehr verehrten Damen und Herren,
ich freue mich heute gemeinsam mit Ihnen die Rechtsextremismus-ausstellung des Bundesamtes für Verfassungsschutz hier in Speyer eröffnen zu können. Mein Dank gilt allen, die mitgeholfen haben, diese Ausstellung vorzubereiten.
Meine Damen und Herren,
Ausstellungen sind im Bundesamt für Verfassungsschutz (BfV) seit vielen Jahren ein fester Bestandteil der Öffentlichkeitsarbeit.
Mit unserer Rechtsextremismusausstellung „DIE BRAUNE FALLE“ wollen wir vor allem Jugendliche und insbesondere Schüler ansprechen.
Deshalb wird das Thema auf eine Art und Weise dargestellt, die an die Lebenswelt junger Leute anknüpft. Entsprechend erzählt die Ausstellung die Geschichte eines Jugendlichen und seiner rechtsextremistischen „Karriere“.
Der in mehreren Stationen dargestellte persönliche Werdegang des „Mario S.“ ist gleichsam der „rote Faden“, der den Besuchern die vielfältigen Erscheinungsformen und Gefahren des Rechtsextremismus vermitteln will.

Meine Damen und Herren,
auch wenn nach dem 11. September 2001 das Thema Islamismus und Internationaler Terrorismus in der öffentlichen Diskussion in den Vordergrund getreten ist und auch die Sicherheitsbehörden - selbstverständlich - entsprechende Prioritäten gesetzt haben, bleibt die Bedrohung durch den Rechtsextremismus bestehen. Deshalb ist die Beobachtung des Rechtsextremismus weiterhin ein ganz wesentlicher Arbeitsschwerpunkt der Verfassungsschutzbehörden.
Die rechtsextremistische Szene hat seit den achtziger Jahren einen deutlichen Wandel durchlaufen. Fest steht: Wir haben es heute mit einem jüngeren, aktionistischeren und auch militanteren Rechtsextremismus zu tun.
Zudem tritt er – vor allem in den letzten Monaten – tagespolitisch aktueller und professioneller auf.
Lassen Sie mich einige Bemerkungen zu den Organisationsformen, den Aktionsmitteln und den Agitationsinhalten im Rechtsextremismus machen.

Zunächst zu den Strukturen, wie sie sich in den letzten Jahren entwickelt haben:
Mehr als 10.000 Personen gehören dem Potenzial gewaltbereiter Rechtsextremisten an und stellen somit einen wesentlichen Faktor innerhalb des rechtsextremistischen Spektrums dar. Überwiegend sind dies rechtsextremistische Skinheads, deren Lebensstil subkulturell geprägt und mehr auf Unterhaltung als auf politische Arbeit ausgerichtet ist. Diese jungen Leute haben meist kein - oder noch kein - gefestigtes rechtsextremistisches Weltbild. Ihr Lebensgefühl wird vor allem von fremdenfeindlichen und rassistischen Ressentiments bestimmt. Sie treten immer wieder mit spontanen Gewalttaten und aggressiver, volksverhetzender Musik in Erscheinung.
Über 100 Bands, zahlreiche Vertriebe und Szene-Läden sorgen für die Verbreitung dieses Lebensgefühls. Musik ist dabei der entscheidende Faktor. Deshalb bemühen sich die Sicherheitsbehörden, Konzerte zu unterbinden, bei denen volksverhetzende Lieder gespielt werden. Diese Bemühungen sind in vielen Fällen erfolgreich. Durch Veranstaltungsverbote und Strafverfahren werden Bands und Produzenten verunsichert und ihre Handlungsspielräume eingeschränkt.

Meine Damen und Herren,
die Neonazi-Szene, die sich in ihrem politischen Weltbild auf den historischen Nationalsozialismus bezieht, gliedert sich heute in rund 160 Kameradschaften und einige wenige Aktionsbüros. Mit den Verboten der neunziger Jahre hatte die Neonazi-Szene ihre bundesweit aktiven Organisationen verloren. Diesen Verlust hat man durch die Bildung von Kameradschaften - eine Art „Organisierung ohne Organisation“ - auszugleichen versucht.

In den letzten beiden Jahren ist das neonazistische Potenzial um mehr als 35 Prozent angestiegen und umfasst mittlerweile etwa 4.000 Aktivisten. Ursache dürfte vor allem die von den Neonazis verfolgte Strategie sein, durch eine Vielzahl von Demonstrationen und ähnliche Aktionen auf sich aufmerksam zu machen. Und wenn Sie die Zeitungen aufschlagen, können Sie feststellen, dass ihnen dies auch in den meisten Fällen gelingt. Auch missbrauchen Neonazis vermehrt tagespolitisch aktuelle Themen für ihre Propaganda. Damit haben sie insbesondere Jugendliche und junge Erwachsene für ihre Ideen gewinnen können. Die Übergänge von der Skinhead- zur Neonaziszene sind fließend. Skinheads nutzen die Infrastruktur von Neonazis, um für ihre Veranstaltungen zu werben. Neonazis verfügen mit den aktionsorientierten Skinheads über ein Rekrutierungsreservoir für ihre Demonstrationen. Darüber hinaus hat sich das Verhältnis weiter Teile der Neonazi-Szene zur „Nationaldemokratischen Partei Deutschlands“ gewandelt. Die bisher nur anlassbezogene Zusammenarbeit ist einer stärkeren Annäherung gewichen. So sind bekannte Neonazis der Partei beigetreten, führende Aktivisten gehören inzwischen sogar dem NPD-Parteivorstand an.

Die NPD hat sich zum Kristallisationspunkt für Einigungsversuche des rechtsextremistischen Lagers entwickelt. Bedeutende Teile der Szene haben sich der von der Partei propagierten sogenannten „deutschen Volksfront“ angeschlossen. In Teilen der rechtsextremistischen Szene heißt es, „Konzentration auf die NPD“ sei nun „das Gebot der Stunde“. Der Einzug von NPD und "Deutscher Volksunion“ in die Landtage von Sachsen und Brandenburg hat diese Entwicklung erheblich vorangetrieben. Beide Parteien hatten verabredet, sich bei den Landtagswahlen im September 2004 nicht durch gleichzeitige Kandidaturen zu behindern. Zwischenzeitlich haben NPD und DVU in einem sogenannten „Deutschlandpakt“ vereinbart, bis 2009 auch bei Wahlen auf Europa-, Bundes- und Landesebene nicht gegeneinander anzutreten.

Bei der Bundestagswahl am 18. September letzten Jahres konnte die NPD im Vergleich zur vorhergehenden Bundestagswahl ihr Ergebnis deutlich steigern. Sie errang dem amtlichen Endergebnis zufolge 1,6 Prozent der Stimmen, viermal so viele wie bei der Wahl im Jahr 2002; damals erreichte die NPD nur 0,4 Prozent. Ihr Wahlkampfziel, mit zumindest einem Direktmandat in den Bundestag einzuziehen, verfehlte die Partei jedoch deutlich, Gott sei Dank, wie ich meine.
Im Dezember des letzten Jahres verließen überdies drei führende NPD-Funktionäre, die zudem dem Sächsischen Landtag angehören, Partei und Landtagsfraktion. Sie begründeten ihren Entschluss mit einer „Rückwärtsgewandtheit“ der sächsischen NPD. Die Partei mache sich im Landtag nur noch für ein „Viertes Reich“ stark und kümmere sich kaum noch, wie im Landtagswahlkampf versprochen, um soziale Themen. Die NPD-Landtagsfraktion habe es zudem versäumt, eine „Vergangenheitsbewältigung“ zu betreiben. Scharfe Kritik wurde schließlich am Finanzgebaren der Fraktionsspitze geübt.
Die gegenwärtigen Querelen haben die NPD zumindest vorübergehend politisch und personell geschwächt und könnten ihre Wahlchancen bei den anstehenden Kommunal- und Landtagswahlen schmälern.
Nicht nur die Strukturen haben sich im rechtsextremistischen Lager gewandelt, die Szene handelt auch aktionistischer als früher.

Demonstrationen sind seit den neunziger Jahren ein wichtiges Instrument von Rechtsextremisten, mit dem sie Aufmerksamkeit erregen wollen. Für die NPD sind Demonstrationen – so ein Strategiepapier der Partei – Teil ihres sogenannten „Kampfes um die Straße“. Aber auch Neonazis versuchen - mitunter in Konkurrenz zur NPD – mit eigenen Veranstaltungen Stimmung zu machen und die Vorherrschaft innerhalb der rechtsextremistischen Szene zu erringen. Sie veranstalten sowohl kleinere regionale Kundgebungen als auch größere Aufmärsche mit gelegentlich mehreren tausend Teilnehmern. So beteiligten sich immerhin rund 5.000 Rechtsextremisten an dem Trauermarsch, den sie am 13. Februar des vergangenen Jahres in Dresden zum Gedenken an die Zerstörung der Stadt im Jahre 1945 durchführten. Die Teilnehmerzahl hat sich damit gegenüber dem Vorjahr verdoppelt.

Am 08. Mai 2005 nahmen knapp 5.000 Angehörige der rechtsextremistischen Szene in mehreren deutschen Städten an den Demonstrationen zum 60. Jahrestag des Kriegsendes teil. Allein in Berlin zählte die Polizei ca. 3.300 Rechtsextremisten. Das bedeutendste alljährliche Ereignis für Neonazis und rechtsextremistische Skinheads ist seit Jahren der Gedenkmarsch zum Tod des Hitler-Stellvertreters Rudolf Heß im bayerischen Wunsiedel. Im Jahre 2004 marschierten am 21. August etwa 3.800 Rechtsextremisten durch die Stadt, fast fünfzig Prozent mehr als im Jahr davor. Rund ein Fünftel der Teilnehmer kam aus dem Ausland.

Der für letztes Jahr am 20. August von Rechtsextremisten geplante zentrale Trauermarsch war im Vorfeld vom Landratsamt Wunsiedel verboten worden. Das Verbot gründete sich auf die seit April 2005 geltende neue Rechtslage: Danach macht sich strafbar, wer öffentlich oder in einer Versammlung den öffentlichen Frieden in einer die Würde der Opfer des Nationalsozialismus verletzenden Weise dadurch stört, dass er die nationalsozialistische Gewalt- und Willkürherrschaft billigt, verherrlicht oder rechtfertigt. Ich meine, dies ist ein ganz entscheidender Schritt der Legislative im Kampf gegen den Rechtsextremismus.

Das Bundesverfassungsgericht bestätigte das Verbot in einem Eilverfahren. Ungeachtet des Verbots mobilisierte die rechte Szene weiterhin für den 20. August 2005, allerdings unter Verzicht auf einen direkten Bezug zur Rudolf Heß. Bundesweit nahmen etwa 2000 Rechtsextremisten an mehreren kleineren Veranstaltungen teil.

Gezielte Militanz hingegen ist zur Zeit keine Aktionsvariante im Rechtsextremismus. Die allgemeine Gewaltbereitschaft in der Neonazi- und Skinheadszene ist zwar hoch. Dabei handelt es sich jedoch um die Bereitschaft zu spontaner Gewalt. Terroristische Gewalt wird derzeit – wenn auch aus taktischen Gründen - nahezu einhellig abgelehnt. Dennoch können sich in der Szene nach wie vor militante Gruppierungen bilden oder Einzelpersonen auch schwerste Straftaten begehen.
So verurteilte das Bayerische Oberste Landesgericht am 04. Mai des vergangenen Jahres den Neonazi Martin WIESE und drei weitere Angehörige des ehemaligen inneren Führungszirkels der Münchener „Kameradschaft Süd“ zu mehrjährigen Freiheitsstrafen: Das Gericht sah es als erwiesen an, dass die vier Angeklagten einer terroristischen Vereinigung angehört hatten, deren Ziel es war, eine gewaltsame Revolution herbeizuführen. Sie hatten einen geplanten Sprengstoffanschlag auf die Grundsteinlegung des jüdischen Gemeindezentrums am 09. November 2003 in München gebilligt und unterstützt sowie sich im Vorfeld illegal Waffen und nicht unerhebliche Mengen Sprengstoff beschafft.
Nach dem Urteil des Brandenburger Oberlandesgerichts gegen Angehörige der „Kameradschaft Freikorps“ im März letzten Jahres sind die Schuldsprüche im sogenannten „WIESE-Prozess“ die zweite Verurteilung wegen „Bildung einer terroristischen Vereinigung“.

Diese Einzelfälle bedeuten nach unserer Einschätzung jedoch nicht, dass wir es aktuell mit einem rechtsterroristischen Netzwerk in Deutschland zu tun haben. Die Reaktionen auf diese Vorfälle ließen dementsprechend innerhalb der Neonazi-Szene so gut wie keine Zustimmung erkennen. Gelegentlich thematisieren allerdings einzelne Rechtsextremisten einen militanten Kampf gegen das ihnen verhasste demokratische „System“.

Meine Damen und Herren,
ich erwähnte es bereits: Rechtsextremisten widmen sich heute mehr als früher aktuellen politischen Fragen. So gab es in letzter Zeit verstärkte Versuche, die gegenwärtige Sozialstaatsdebatte – unter dem Stichwort „Hartz IV“ – als öffentlichkeitswirksames Agitationsthema zu besetzen. Auffallend ist dabei das Bemühen, sich mit eigentlich „klassisch linken“ Themen zu positionieren. Die NPD stellte schon vor Jahren die „soziale Frage“ in das Zentrum der Diskussion, und wertet sie als (Zitat) „Dreh- und Angelpunkt“. Dabei ist eine „antikapitalistische Orientierung“ zur Grundposition für viele Rechtsextremisten geworden. Dieser „Antikapitalismus“ zielt aber - im Gegensatz zum linksextremistischen - nicht auf die Veränderung von Eigentumsverhältnissen. Stattdessen unterscheidet er, antisemitisch getönt, zwischen „schaffendem“ und „raffendem“ Kapital und fordert die Aufhebung der „Zinsknechtschaft“ – beides Elemente der NS-Programmatik.
Rechtsextremisten definieren sich heute mitunter sogar als „Antiimperialisten“. Dies mag im ersten Moment befremdlich klingen, schließlich war Adolf Hitler geradezu der klassische Imperialist. In Wahrheit aber ist dieser „Antiimperialismus“ der Rechtsextremisten nur ein notdürftig getarnter Antiamerikanismus und Antisemitismus. Er verneint die universelle Geltung der Menschenrechte und spricht sich – im Sinne eines „Ethnopluralismus“ – für eine Vielzahl getrennt nebeneinander lebender, ethnisch homogener Nationen und Kulturen aus. Eine Intervention sogenannter „raumfremder Mächte“ - gemeint sind die USA – wird abgelehnt. Dabei wird deutlich: Der „Antiimperialismus“ der Rechtsextremisten richtet sich fast ausschließlich gegen die Vereinigten Staaten, die als „jüdisch beherrscht“ definiert werden, und gegen Israel.
Solche Entwicklungen erfordern eine besonders sorgfältige Analyse durch die Verfassungsschutzbehörden, denn Rechtsextremisten sind momentan auf der Suche nach Verbündeten. Sie sehen dies als ein Mittel, ihre gesellschaftliche und politische Marginalisierung zu überwinden. Entsprechende Signale werden nicht nur in Richtung Islamisten und extremistische Palästinenser gesandt, sondern auch zu deutschen Linksextremisten. Insbesondere die NPD sieht die Möglichkeit der Überwindung politischer Lagergrenzen im Sinne einer gemeinsamen „Systemopposition“, wie sie es bezeichnet. Diese Annäherungsversuche von rechtsextremistischer Seite sind jedoch bislang erfolglos und werden das – wenn nicht alles täuscht – auch bleiben. Im Linksextremismus ist niemand zu sehen, der bereit wäre, mit Rechtsextremisten auch nur zu diskutieren.

Einer Zusammenarbeit unterschiedlicher Extremisten steht im Übrigen auch immer der eigene Absolutheitsanspruch entgegen. Gegenüber extremistischen Ausländerorganisationen wird die von vornherein bestehende Hemmschwelle noch durch den Rassismus des deutschen Rechtsextremismus erhöht.

Meine Damen und Herren, lassen Sie mich zum Schluss kommen:
Die politischen Entscheidungsträger unseres Landes haben in den letzten Jahren parteiübergreifend immer wieder zu einem verstärkten Eintreten aller gesellschaftlichen Kräfte gegen den Rechtsextremismus aufgerufen.
Mit der Darstellung seiner Erkenntnisse – hier in Form einer Ausstellung – möchte der Verfassungsschutz es allen politisch Interessierten ermöglichen, sich zu informieren und sich ein Urteil zu bilden.
Ich danke Ihnen sehr, dass Sie durch Ihre Anwesenheit einen Beitrag zum Erfolg der Ausstellung leisten.

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