Markus Sternlieb

Ein genialer Architekt und Wegbereiter der Bauhausidee in Ludwigshafen a. Rh.

von Walter Braun

* 20. Februar 1877 in Braila (Rumänien)
23. Oktober 1934 in Ludwigshafen a. Rh.

Von der Kritik zur Utopie, von der Utopie zur Realität

In Zeiten einer kritischen Wohnungsversorgung, bitterer Not und Arbeitslosigkeit bemühte sich Markus Sternlieb intensiv um den Wohnbedarf breiter Bevölkerungsschichten, während andere keine Skrupel hatten zu spekulieren, Paläste und Bürgervillen zu bauen, die an Luxus nicht zu überbieten waren. Sternlieb hat viel dazu beigetragen, dass sich in Ludwigshafen der Woh-nungsbau zu Formen entwickelte, die auch heute noch beispielhaft für die Ar-chitektur dieser Zeit sind.

Im Jahre 1905 trat Markus Sternlieb als „Planrevisior“ in den Dienst der Stadt Ludwigshafen. 1911 wurde er zum „Stadtbaumeister“ und 1920 zum „Oberbaudirektor“ befördert. In dieser Funktion war er für das städtische Hochbauwesen zuständig. Im gleichen Jahr (1920) wurde er technischer Vorstand der neugegründeten GAG (Gemeinnützige Aktiengesellschaft für Wohnungsbau, heute Aktiengesellschaft für Wohnungs-, Gewerbe- und Städtebau). Von 1920 bis 1926 übte er diese Tätigkeit ehrenamtlich in Personalunion zu seinem Dienst als Oberbaudirektor der Stadt aus. 1926 beendete er auf eigenen Wunsch seinen Dienst bei der Stadt und konzentrierte sich bis zu seiner Versetzung in den Ruhestand am 31.12.1932 ausschließlich auf die Vorstands- tätigkeit bei der GAG. Markus Sternlieb wurde in die Zeit des zu Ende gehenden Neo-Klassizismus und des Historismus (Jugendstil - in Deutschland war die Zeitschrift „Die Jugend“ Namensgeber) hineingeboren. Während seines Architekturstudiums in München hat er diese Stilepoche kennen gelernt.

Im Jahr 1924 hat Markus Sternlieb mit der in dieser Zeit herrschenden Architektur gebrochen und neue Ansprüche an gesundes, hygienisches und ästhetisches Wohnen formuliert. Damit hat er sich der Idee der Bauhausarchitektur - „Gestaltung von Lebensvorgängen“ - zugewandt und diese mit dem Bau der Ebertsiedlung am Ebertpark (früher Hindenburgsiedlung) realisiert.

Bei der Planung und dem Bau des Westendviertels hat Markus Sternlieb die Bauhausidee weiter entwickelt. Allerdings musste durch die zwischenzeitlich in Kraft getretene „Notverordnung“ die Wohnqualität durch Verkleinerung der Grundrisse erheblich eingeengt werden.

Was ihn von den namhaften Bauhauskollegen unterscheidet, ist, dass er für breite Bevölkerungsschichten geplant und gebaut hat. Er war näher an den Bedürfnissen der Menschen als andere. Markus Sternlieb war ein genialer Bauhausarchitekt mit sozialer Kompetenz. Die „Bauhausschule“ in Dessau (1925 bis 1932), später in Berlin, wurde in der Nazi-Zeit (1933) verboten, ihre Lehrer und Schüler als Staatsfeinde - „undeutsch, artfremd und bolschewistisch“ - verfolgt. Einige, die emigrieren konnten, wurden Professoren an den bekanntesten Universitäten in Moskau, London, Paris und New York. Die Bauhausidee hat erst wieder nach dem 2. Weltkrieg in den 50er und 60er Jahren an den deutschen Hochschulen, diesmal vom Ausland kommend, Einzug gehalten.

Anlässlich eines Besuches der Enkel von Markus Sternlieb bei der GAG am 24. September 2002, haben wir das Wirken des genialen Architekten und ersten Vorstandes der GAG auch baugeschichtlich näher betrachtet und während einer Besichtigungsfahrt in Augenschein genommen.

1. Stadtteil Süd

In den Jahren 1922 und 1923 entstanden an der Bruckner-, Max-Reger- und Rottstraße im Stadtteil Süd 95 GAG-Wohnungen mit Wohnflächen von 80 bis 100 m2; bei den „Franzosenbauten“ an der Ecke Liszt-, Wittelsbachstraße sogar bis 180 m2.

Die Familie Markus und Selma Sternlieb hat ganz in der Nähe im Haus an der Lisztstraße 117 gewohnt.

Die formalen und historischen Elemente der Fassadengestaltung sind auf die Stilepoche des (Neo)Klassizismus und des Historismus (Jugendstil) zurückzuführen. Markus Sternlieb hat diese Art zu bauen bis ins Detail beherrscht. Er studierte bekanntlich in München Architektur. Die Lehrer der „Königlich Bayerischen Bauschule“ des 19. und 20. Jahrhunderts waren in dieser Stilepoche Meister ihres Faches.

Bruckner-, Max-Reger-, Rottstraße
Bauzeit: 1922/1923
Bauherr: GAG, Techn. Vorstand Markus Sternlieb
Architekten: Karl Latteyer und Hans Schneider


In seiner ehrenamtlichen Zeit als Vorstand der GAG von 1920 - 1926 entstanden unter seiner Führung ca. 1.000 Wohnungen dieser Art, überwiegend in den Stadtteilen Süd (Hafen-, Defregger, Lenbach-, Wittelsbach-, Liszt-, Hans-Sachs- und Saarlandstraße sowie in der Christian-Weiss-Siedlung), der Gartenstadt (Heimstätte-Siedlung und Grazer Hof), in Mundenheim (Herder-, Kleist-, Wildermuthstraße), in Friesenheim (Finkennest und Leuschnerstraße) sowie im Hemshof (Blücher- und Kanalstraße, am Rolandsplatz).

2. Gartenstadt „Roter Hof“

In den Jahren von 1919 - 1922 wurden in der Gartenstadt – damals noch Gemarkung Mundenheim – im heutigen Quartier Maudacher-, Hochfeld-, Königsbacher- und Leistadter Straße mit den Innenhöfen „Roter Hof“ und „Grüner Hof“ insgesamt 216 Reihenhäuser für Kriegsheimkehrer (Heimstättesiedlung) nach dem Vorbild der „Englischen Gartenstadt Siedlung“ mit relativ großen Hausgärten gebaut. Das Grundstück von 32.150 m2 stammt aus der Stiftung des Ludwigshafener Industriellen Dr. Friedrich Raschig. Die Stadt hatte die Grundstücke der GAG im Erbbaurecht für die Dauer von 62 Jahren überlassen.

Die Siedlung steht unter Denkmalschutz. Zug um Zug, je nach leer werden, sanieren wir einzelne Häuser. Denkmalpflegerische Gesichtspunkte haben hierbei einen hohen Stellenwert.

Roter Hof
Bauzeit: 1919 bis 1923
Bauherr: GAG, Techn. Vorstand Markus Sternlieb
Architekten: Städt. Hochbauamt, Fritz Brockmann, Wilhelm Scholler
Foto: Immanuel Giel, Wikipedia Commons


Es waren die ersten Häuser der GAG, die sie nach der Firmengründung von der Stadt übernommen und fertig gebaut hat. „Roter“- und „Grüner Hof“ sind die Keimzellen der GAG. Dies, in Verbindung mit der „Raschig-Stiftung“, hat die GAG veranlasst, jegliches Kaufbegehen abzuwehren. Wir wollen die Siedlung als städtebauliches und architektonisches Ensemble und Wohnbaudenkmal, aber auch als Zeitzeuge der Zusammenarbeit von Stadt und ihren Bürgern mit der Industrie erhalten und für die Nachwelt bewahren. Parallelitäten zur Fuggerstiftung in Augsburg (1600 Jahrhundert) und zur Kruppstiftung in Essen (1900 Jahrhundert) sind erkennbar.

 


Grüner Hof
Bauzeit: 1919 bis 1923
Bauherr: GAG, Techn. Vorstand Markus Sternlieb
Architekten: Städt. Hochbauamt, Fritz Brockmann, Wilhelm Scholler

Foto: Immanuel Giel, Wikipedia Commons

3. Ebertpark


Die Stadt brauchte ein positives Signal nach den Wirren des 1. Weltkrieges. Der jungen Industriemetropole fehlten „grüne Lungen“ - dies waren die Argumente, die Ende 1924 den Ludwigshafener Stadtrat bewogen, auf das Angebot des pfälzischen Gartenbauverbandes einzugehen und die süddeutsche Gartenbauausstellung in der Stadt zu veranstalten. So waren Ende 1924, Anfang 1925 zuerst hunderte, dann tausende von Arbeitslosen in städtischen Diensten mit der Auffüllung des sumpfigen Geländes beschäftigt. In nur 75 Tagen, zur Eröffnung der Ausstellung am 28. Mai 1925, wurden die gärtnerischen Anlagen hergerichtet. Später wurde der Park nach Süden erweitert, der Haupteingang entstand 1929.

Großsiedlung am Ebertpark, fertiggestellt 1925
Blick von der Ebertstraße in den Schmuckhof

In den Folgejahren war der Park Schauplatz verschiedener Veranstaltungen, mächtiger Maikundgebungen des DGB, politischer Demonstrationen und der Ort vielseitiger kultureller Freiluftveranstaltungen.

4. Ebertsiedlung

In der Festschrift „Wohnungsbauten der GAG von 1919 - 1924“, herausgegeben am 1. September 1924 von Oberbaudirektor M. Sternlieb (Technischer Vorstand) und Architekt H. Trum (Technischer Prokurist) steht:

„Es soll aber keineswegs hiermit gesagt sein, dass das vorliegende Buch 'Mustergültiges' im landläufigen Sinne enthält. Die Herausgeber sind sich bewusst, dass auf dem Gebiete der Architektur und des Städtebaues in letzter Zeit bedeutendere Schriften über Kleinwohnungsbauten veröffentlicht wurden. Was aber der vorliegenden Schrift gegenüber jenen den Vorzug gibt, ist der Umstand, dass es sich hier um ausgeführte Bauanlagen handelt, die nicht von einer einzigen Stelle entworfen und geleitet wurden, sondern um solche, die sowohl das städtische Hochbauamt Ludwigshafen, als auch Privatarchitekten zum Urheber haben, und dass sich kein einziger Idealentwurf darunter befindet, der angesichts der lokalen Gegebenheiten und herrschenden Schwierigkeiten nur bedingten Wert für den Baulustigen haben könnte.“

Eine in der Form konziliant vorgetragene, aber in der Sache vernichtenden Kritik an der herrschenden Architektur. Sternlieb und Trum sprechen in der Folge auch von Höfen und Gärten von Innenausstattung, Wohnküchen und Wohnkultur, von Hygiene und Ästhetik. Sie kritisieren die unansehnlichen Rückfassaden und Hinterhöfe der neoklassizistischen Zeit und des Historismus.

Sternlieb und Trum tragen neue Gedanken vor, stellen den Menschen und seine Bedürfnisse an gesundes Wohnen in den Mittelpunkt, fordern ganzheitliches Denken, - gestalten von Lebensvorgängen - wie es sich die „Bauhausar-chitekten“ und ihre Folgegenerationen zu Eigen gemacht haben. Ideen, die in der Nazi-Zeit verboten, aber in Amerika, Australien und Südafrika prägend wurden.

Heute, mit dem entsprechenden zeitlichen Abstand, ist uns bewusst, dass die Vordenker der Bauhausidee - Markus Sternlieb gehört zweifelsfrei dazu - in der fast 4000 Jahre dauernden kontinuierlichen Entwicklung der europäischen Baugeschichte - von der Antike bis zum Historismus - einen „Bruch“ erzeugt haben. Durch revolutionäres und geniales Denken wird aus Kritik eine Utopie und aus der Utopie Realität.

Es beginnt eine neue Welt des Planens und Bauens.

Ebertsiedlung erbaut 1925 bis 1929
Bauherr: GAG, Techn. Vorstand Markus Sternlieb
Architekten: H. Trum, W. Scholler

Am Eingang zum Ebertpark entsteht die Ebertsiedlung (früher Hindenburgsiedlung). Von den geplanten 600 Wohnungen wurden in den Jahren 1927 bis 1929 400 Wohnungen dem Betrieb übergeben, außerdem 18 Verkaufsläden, 2 Ma-lerateliers, eine Polizeistation, eine Zentralwaschküche, ein Kindergarten, 2 Spielhöfe mit Planschbecken, 2 Schmuckhöfe als Erholungsplätze, eine Rundfunkvermittlungsstelle und ein Fernheizwerk. - „Ganzheitliches Denken, gestalten von Lebensvorgängen“ . -

Die Wohnungen waren groß geschnitten, ausgestattet mit Bädern, Einbauküchen und Zentralheizung. In mehreren eingerichteten Musterwohnungen wurde den künftigen Mietern das „neue Wohnen“ mit extra geplanten Möbeln näher gebracht.

Die Siedlung war weiträumig, mit vielen gestalteten Grünflächen und Kinderspielplätzen. Die Wohnungen licht- und sonnendurchflutet mit großen Fenstern, alle am richtigen Ort, Balkonen oder Loggien. Es gab keine tristen Rückfassaden und Hinterhöfe mehr, wie sie im Klassizismus und Historismus die Regel waren.

„Neues Wohnen“ in der Ebertsiedlung 1925

Erst jetzt war zu verstehen, was Sternlieb 1924 mit seiner vernichtenden Kritik an der herrschenden Architektur - „...verschiedene Urheber..., kein einziger Idealentwurf darunter...“ - gemeint hat. Plötzlich war alles vorhanden, was der Mensch für ein gesundes, hygienisches und ästhetisches Wohnen benötigt. Alles stand miteinander im Einklang, war sauber und logisch aufeinander abgestimmt.

Aus der ganzen Republik sind in den 30er Jahren Staatsmänner, Kommunalpolitiker, Städteplaner, Architekten und Ingenieure angereist, um von Sternlieb und der Ebertsiedlung zu lernen. Heute zählt die Siedlung 725 Wohnungen mit Wohnungsgrößen von bis zu 110 m2 und steht unter Denkmalschutz. Sie ist 75 Jahre nach Erstbezug sanierungsbedürftig. Für uns ist dies eine große Herausforderung, die wir mit Sachverstand und der gebotenen Sorgfalt angehen müssen. Im nächsten Jahr werden wir in einem Pilotprojekt die ersten 4 Häuser sanieren. Wir schätzen den Investitionsbedarf der Siedlung auf 30 - 35 Mio. €.


5. Westendsiedlung

 

Westendsiedlung
Bauzeit: 1929/1930
Bauherr: GAG, Techn. Vorstand M. Sternlieb
Architekten: M. Sternlieb, H. Trum
Foto: Immanuel Giel, Wikipedia Commons


Im Westendviertel besitzt die GAG heute 850 Wohnungen, 630 davon entstanden vor dem Krieg und davon 450 Wohnungen in den Jahren 1929 bis 1932, also unter der Verantwortung von Markus Sternlieb. Hatten die Wohnungen in der Ebertsiedlung eine Größe von 80 bis 110 m2, so wurden die Wohnungsgrößen im Westendviertel auf 35 bis 50 m2 je Wohnung reduziert Kleinstwohnungen ohne Balkon, ohne Heizung und Kinderzimmer von 6 bis 8m2.

Was war geschehen?

Zwischen der Planung Ebertsiedlung 1926/1927 und der Planung des West-endviertels 1929/1930 haben sich die Rahmenbedingungen für die Wohn-raumförderung grundlegend geändert. Der Reichspräsident Brüning hat mit Wirkung vom 1. Dezember 1930 eine Notverordnung erlassen. Im Teil 7, Kapitel 1, sieht die Neuregelung des öffentlich geförderten Wohnungsbaus zusammengefasst Folgendes vor:

„Kleinstwohnungen mit billigen Mieten durch Verkleinerung des Grundrisses und Herabsetzung der Baukosten.“

Markus Sternlieb schreibt dazu am 16. April 1931:

„Trotz dieser engen Grenzen, werden wir auch in Zukunft bei der Planung und Ausführung unserer Wohnungsbauten die auf dem Gebiete der Hausinstallation gesammelten Erfahrungen verwenden, denn wir wollen auch fernhin nicht nur 'Wohngelegenheiten‘, sondern auch gesunde 'Dauerwohnungen‘ schaffen.“

Ungeachtet der erschwerten Bedingungen hat Sternlieb bei der Planung der Westendsiedlung versucht, seine Ideale, soweit die Notverordnung dies noch ermöglichte, weiterzuentwickeln.

Diese waren:

• Klare, geometrische Formen, Gleichwertigkeit zwischen Funktionsabläufen in den Wohnungen und Fassadengestaltung.
• Konstruktion und Material zeigen: Mauerwerk, Glas, Stahl und Beton blieben sichtbar, nichts vertuschen, nichts verputzen, nichts übertünchen.
• Erstmals wurden im Wohnungsbau Stahlbetondecken eingebaut, was z. B. Eckfenster für eine bessere Belichtung der Wohnräume ermöglichte.
• Der Einbau von Bädern und Küchen wurde ungeachtet der „Notverordnung“ beibehalten.

Sternlieb ließ 1930/1931 die Außenwände im Westendviertel in 50 cm dickem Ziegelsteinmauerwerk erstellen. Die Wärmedämmfähigkeit dieser Wände ent-spricht den seit 2001 verschärften Bedingungen der Energieeinsparverordnung zur Reduzierung des Energiebedarfs und der CO2 Treibhausgase. Das Westendviertel steht heute unter Denkmalschutz, es handelt sich also um ein bewohntes Baudenkmal, nicht um ein Museum. Wir sind dabei, die Häuser zu sanieren und für das neue Jahrhundert herzurichten. Die Häuser werden Zug um Zug leergewohnt und im Innern so umgebaut, dass aus 2 Wohnungen je 50 m2 eine Wohnung von 100 m2 entsteht. Die verbrauchte Haustechnik wird erneuert und auf den Stand der Zeit gebracht, so dass sie derzeitigen und künftigen Ansprüchen an hygienisches Wohnen gerecht wird. Die Fassade wird gereinigt und neu verfugt. Die neu angebrachten Balkone sind aus Stahl, die Eingangsüberdachungen aus Glas - „Konstruktion zeigen“ -.

Wir werden die Idee der Bauhausarchitekten nicht verfälschen, sondern eher vervollständigen und dabei die negativen Folgen der „Notverordnung“, der sich Sternlieb und Trum unterordnen mussten, beheben.

Das Wohnumfeld wird, wie wir es von den Bauhausarchitekten gelernt haben, in die Sanierung einbezogen, mit gestalteten Grünflächen, Kinderspielplätzen und PKW-Stellplätzen. Die Energieversorgung erfolgt über Fernwärme aus der Müllverbrennung, so dass keine fossilen Brennstoffe verbraucht werden. Die Sanierung der Westendsiedlung wird 30 - 35 Mio. € kosten.

Auch Architekten sind „Kinder ihrer Zeit“, eingebunden in die jeweiligen politischen, wirtschaftlichen und gesellschaftlichen Gegebenheiten.

Nach dem 2. Weltkrieg war die Wohnungsnot noch größer als vor dem Krieg. Die nach dem Krieg neu gebildeten Bundesländer - sie sind für die Woh-nungsbauförderung zuständig - haben die Regelungen der „Brüningschen Notverordnung“ in ihren Wohnungsbauförderrichtlinien übernommen. Die Folge war, dass in den 50er und 60er Jahren in Westdeutschland, insbesondere in den großen Städten, hunderttausende dieser Kleinstwohnungen in Großsiedlungen, also in großen Stückzahlen, gebaut wurden. Obwohl sie bilanztechnisch noch nicht einmal abgeschrieben sind, zählen diese Siedlungen schon heute zu den Problemgebieten.

Die Anforderungen von M. Sternlieb und H. Trum aus den 20er Jahren an Qualität, Wohnkultur und Ästhetik in der Ebertsiedlung realisiert und für jedermann einsehbar, schienen vergessen zu sein. Selbst als die Wohnungsnot längst überwunden war, Wirtschaft, Handel und die Industrie prosperierten, die Steuersäckel der öffentlichen Hände gefüllt waren, hielten Politik und die Ministerialbürokratie bei der Wohnungsbauförderung am Geist der „Notverord-nung“ immer noch fest. Stadtflucht, soziale Erosion und Stadtumlandzersiedlung sind einige Folgen. Wir sollten diese absurde Entwicklung durch Wohnqualität in den Städten im Sinne der Bauhausarchitekten korrigieren, bevor die Städte kollabieren. Ernst Bloch, der Ludwigshafener Philosoph schreibt:

„Erst bauen die Menschen Häuser, und dann bauen die Häuser Menschen.“


6. Stadthaus Nord

Wir gehen noch einmal in die Zeit des (Neo)Klassizismus vor dem 1. Weltkrieg zurück. Das Stadthaus Nord - das Ludwigshafener Stadtschloss - wurde 1913 fertiggestellt. Die öffentlichen Bauten wurden in dieser Epoche meist symmetrisch angelegt, aber immer kolossal majestätisch und prachtvoll. Ein Baustil, der in Anlehnung an die Antike, die Strenge der Gliederung und die Gesetzmäßigkeit der Verhältnisse betont. Ein europäischer Baustil, der im 18. Jahrhundert begonnen und im 19. Jahrhundert seine Hochzeit erfahren hat. Man nannte ihn auch den Baustil der Fürsten, Könige und Kaiser.

Der Klassizismus war eine Wiederanknüpfung an die klassische Formensprache der Antike, beginnend in Knossos auf Kreta mit der kretisch minoischen Epoche (1500 v. Chr.),
gefolgt von den Dorier der ältesten griechischen Ordnung (1200 v. Chr.) und der ionischen Ordnung (600 v. Chr. - Hellenen). Im Klassizismus war auch die korinthische
Formgebung (500 v. Chr.) üblich. Sie ist lediglich eine Abart der ionischen Ordnung mit einer neuartigen Kapitellausbildung.

Stadthaus Nord, erbaut 1913
Foto: Immanuel Giel, Wikipedia Commons

Weitere Formgebungen ließ der Klassizismus in Deutschland nicht zu. So gesehen war er die wahre Renaissance (Wiedergeburt der Antike). Das, was in der „Schulgeschichte“ als Renaissance manifestiert ist und in Florenz zur Hochblüte kam (Tizian, Palladio, Leonardo da Vinci, Michelangelo und andere) war nicht die reine Nachbildung der Antike, eher ihre Übersteigerung und Verwilderung, weil den italienischen Universalgenies des 1500 Jahrhundert die Ordnung der Kreter und Griechen noch nicht in ausreichendem Maße bekannt war. Als in Florenz die bedeutendsten Renaissancepaläste entstanden, wurde in Deutschland noch an den gotischen Kirchen in Ulm und Straßburg gebaut. Bis die Renaissance in Deutschland ankam, wurden schon die wulstigen Formen des Barock eingearbeitet (siehe Heidelberger Schloss 1600 n. Chr.).

Die wahre „Widergeburt der Antike“ war in Deutschland der Klassizismus. Aber auch dieser ist Ende des 19. und Anfang des 20. Jahrhunderts verwildert und verfälscht worden („Neo-Klassizismus und Historismus - Jugendstil“ in Deutschland, in Frankreich „Art nouveau“, in England „Modern Style“).
Dies und noch mehr war dem Architekten Sternlieb bekannt. Es ist um so verständlicher, dass er in Zeiten großer Wohnungsnot mit alledem gebrochen hat und sehr früh zur Bauhausarchitektur fand. Die Bauhausarchitekten Walter Gropius, Hannes Meyer, Marcel Breuer, Ludwig Mies van der Rohe sind in der Nazi-Zeit in die Schweiz nach England und Amerika emigriert. Markus Sternlieb blieb; er war näher an den Bedürfnissen der Menschen als andere, ein Architekt mit sozialer Kompetenz.

Er verstarb am 23. Oktober 1934 in Ludwigshafen am Rhein.

Zitat von Markus Sternlieb:

„Die GAG steht auf dem Standpunkt, dass die aufrichtigste Form der Schmeichelei die Nachahmung sei und ist daher außerordentlich befriedigt, dass sie durch ihre Bautätigkeit dem privaten Bau in künstlerischer Hinsicht Richtung gegeben hat.“

Ludwigshafen, 24. September 2002

Architekt Walter Braun
(Vorstand der GAG seit 01. Januar 1989)

(Quelle: Dr. Stefan Mörz, Stadtarchiv)

Literatur:
Stefan Mörz: „Der Baumeister Ludwigshafens”, 25 Euro, im Buchhandel.