* 20. Februar 1877 in Braila (Rumänien)
23. Oktober 1934 in Ludwigshafen a. Rh.
Von der Kritik zur Utopie, von der Utopie zur Realität
In Zeiten einer kritischen Wohnungsversorgung, bitterer Not und Arbeitslosigkeit
bemühte sich Markus Sternlieb intensiv um den Wohnbedarf breiter
Bevölkerungsschichten, während andere keine Skrupel hatten zu
spekulieren, Paläste und Bürgervillen zu bauen, die an Luxus
nicht zu überbieten waren. Sternlieb hat viel dazu beigetragen, dass
sich in Ludwigshafen der Woh-nungsbau zu Formen entwickelte, die auch
heute noch beispielhaft für die Ar-chitektur dieser Zeit sind.
Im Jahre 1905 trat Markus Sternlieb als „Planrevisior“ in
den Dienst der Stadt Ludwigshafen. 1911 wurde er zum „Stadtbaumeister“
und 1920 zum „Oberbaudirektor“ befördert. In dieser Funktion
war er für das städtische Hochbauwesen zuständig. Im gleichen
Jahr (1920) wurde er technischer Vorstand der neugegründeten GAG
(Gemeinnützige Aktiengesellschaft für Wohnungsbau, heute Aktiengesellschaft
für Wohnungs-, Gewerbe- und Städtebau). Von 1920 bis 1926 übte
er diese Tätigkeit ehrenamtlich in Personalunion zu seinem Dienst
als Oberbaudirektor der Stadt aus. 1926 beendete er auf eigenen Wunsch
seinen Dienst bei der Stadt und konzentrierte sich bis zu seiner Versetzung
in den Ruhestand am 31.12.1932 ausschließlich auf die Vorstands-
tätigkeit bei der GAG. Markus Sternlieb wurde in die Zeit des zu
Ende gehenden Neo-Klassizismus und des Historismus (Jugendstil - in Deutschland
war die Zeitschrift „Die Jugend“ Namensgeber) hineingeboren.
Während seines Architekturstudiums in München hat er diese Stilepoche
kennen gelernt.
Im Jahr 1924 hat Markus Sternlieb mit der in dieser Zeit herrschenden
Architektur gebrochen und neue Ansprüche an gesundes, hygienisches
und ästhetisches Wohnen formuliert. Damit hat er sich der Idee der
Bauhausarchitektur - „Gestaltung von Lebensvorgängen“
- zugewandt und diese mit dem Bau der Ebertsiedlung am Ebertpark (früher
Hindenburgsiedlung) realisiert.
Bei der Planung und dem Bau des Westendviertels hat Markus Sternlieb
die Bauhausidee weiter entwickelt. Allerdings musste durch die zwischenzeitlich
in Kraft getretene „Notverordnung“ die Wohnqualität durch
Verkleinerung der Grundrisse erheblich eingeengt werden.
Was ihn von den namhaften Bauhauskollegen unterscheidet, ist, dass er
für breite Bevölkerungsschichten geplant und gebaut hat. Er
war näher an den Bedürfnissen der Menschen als andere. Markus
Sternlieb war ein genialer Bauhausarchitekt mit sozialer Kompetenz. Die
„Bauhausschule“ in Dessau (1925 bis 1932), später in
Berlin, wurde in der Nazi-Zeit (1933) verboten, ihre Lehrer und Schüler
als Staatsfeinde - „undeutsch, artfremd und bolschewistisch“
- verfolgt. Einige, die emigrieren konnten, wurden Professoren an den
bekanntesten Universitäten in Moskau, London, Paris und New York.
Die Bauhausidee hat erst wieder nach dem 2. Weltkrieg in den 50er und
60er Jahren an den deutschen Hochschulen, diesmal vom Ausland kommend,
Einzug gehalten.
Anlässlich eines Besuches der Enkel von Markus Sternlieb bei der
GAG am 24. September 2002, haben wir das Wirken des genialen Architekten
und ersten Vorstandes der GAG auch baugeschichtlich näher betrachtet
und während einer Besichtigungsfahrt in Augenschein genommen.
1. Stadtteil Süd
In den Jahren 1922 und 1923 entstanden an der Bruckner-, Max-Reger-
und Rottstraße im Stadtteil Süd 95 GAG-Wohnungen mit Wohnflächen
von 80 bis 100 m2; bei den „Franzosenbauten“ an der Ecke Liszt-,
Wittelsbachstraße sogar bis 180 m2.
Die Familie Markus und Selma Sternlieb hat ganz in der Nähe im Haus
an der Lisztstraße 117 gewohnt.
Die formalen und historischen Elemente der Fassadengestaltung sind auf
die Stilepoche des (Neo)Klassizismus und des Historismus (Jugendstil)
zurückzuführen. Markus Sternlieb hat diese Art zu bauen bis
ins Detail beherrscht. Er studierte bekanntlich in München Architektur.
Die Lehrer der „Königlich Bayerischen Bauschule“ des
19. und 20. Jahrhunderts waren in dieser Stilepoche Meister ihres Faches.
Bruckner-, Max-Reger-, Rottstraße
Bauzeit: 1922/1923
Bauherr: GAG, Techn. Vorstand Markus Sternlieb
Architekten: Karl Latteyer und Hans Schneider
In seiner ehrenamtlichen Zeit als Vorstand der GAG von 1920 - 1926 entstanden
unter seiner Führung ca. 1.000 Wohnungen dieser Art, überwiegend
in den Stadtteilen Süd (Hafen-, Defregger, Lenbach-, Wittelsbach-,
Liszt-, Hans-Sachs- und Saarlandstraße sowie in der Christian-Weiss-Siedlung),
der Gartenstadt (Heimstätte-Siedlung und Grazer Hof), in Mundenheim
(Herder-, Kleist-, Wildermuthstraße), in Friesenheim (Finkennest
und Leuschnerstraße) sowie im Hemshof (Blücher- und Kanalstraße,
am Rolandsplatz).
2. Gartenstadt „Roter Hof“
In den Jahren von 1919 - 1922 wurden in der Gartenstadt – damals
noch Gemarkung Mundenheim – im heutigen Quartier Maudacher-, Hochfeld-,
Königsbacher- und Leistadter Straße mit den Innenhöfen
„Roter Hof“ und „Grüner Hof“ insgesamt 216
Reihenhäuser für Kriegsheimkehrer (Heimstättesiedlung)
nach dem Vorbild der „Englischen Gartenstadt Siedlung“ mit
relativ großen Hausgärten gebaut. Das Grundstück von 32.150
m2 stammt aus der Stiftung des Ludwigshafener Industriellen Dr. Friedrich
Raschig. Die Stadt hatte die Grundstücke der GAG im Erbbaurecht für
die Dauer von 62 Jahren überlassen.
Die Siedlung steht unter Denkmalschutz. Zug um Zug, je nach leer werden,
sanieren wir einzelne Häuser. Denkmalpflegerische Gesichtspunkte
haben hierbei einen hohen Stellenwert.
Roter Hof
Bauzeit: 1919 bis 1923
Bauherr: GAG, Techn. Vorstand Markus Sternlieb
Architekten: Städt. Hochbauamt, Fritz Brockmann, Wilhelm Scholler
Foto: Immanuel Giel, Wikipedia Commons
Es waren die ersten Häuser der GAG, die sie nach der Firmengründung
von der Stadt übernommen und fertig gebaut hat. „Roter“-
und „Grüner Hof“ sind die Keimzellen der GAG. Dies, in
Verbindung mit der „Raschig-Stiftung“, hat die GAG veranlasst,
jegliches Kaufbegehen abzuwehren. Wir wollen die Siedlung als städtebauliches
und architektonisches Ensemble und Wohnbaudenkmal, aber auch als Zeitzeuge
der Zusammenarbeit von Stadt und ihren Bürgern mit der Industrie
erhalten und für die Nachwelt bewahren. Parallelitäten zur Fuggerstiftung
in Augsburg (1600 Jahrhundert) und zur Kruppstiftung in Essen (1900 Jahrhundert)
sind erkennbar.
Grüner Hof
Bauzeit: 1919 bis 1923
Bauherr: GAG, Techn. Vorstand Markus Sternlieb
Architekten: Städt. Hochbauamt, Fritz Brockmann, Wilhelm Scholler
Foto: Immanuel Giel, Wikipedia Commons
3. Ebertpark
Die Stadt brauchte ein positives Signal nach den Wirren des 1. Weltkrieges.
Der jungen Industriemetropole fehlten „grüne Lungen“
- dies waren die Argumente, die Ende 1924 den Ludwigshafener Stadtrat
bewogen, auf das Angebot des pfälzischen Gartenbauverbandes einzugehen
und die süddeutsche Gartenbauausstellung in der Stadt zu veranstalten.
So waren Ende 1924, Anfang 1925 zuerst hunderte, dann tausende von Arbeitslosen
in städtischen Diensten mit der Auffüllung des sumpfigen Geländes
beschäftigt. In nur 75 Tagen, zur Eröffnung der Ausstellung
am 28. Mai 1925, wurden die gärtnerischen Anlagen hergerichtet. Später
wurde der Park nach Süden erweitert, der Haupteingang entstand 1929.
Großsiedlung am Ebertpark, fertiggestellt 1925
Blick von der Ebertstraße in den Schmuckhof
In den Folgejahren war der Park Schauplatz verschiedener Veranstaltungen,
mächtiger Maikundgebungen des DGB, politischer Demonstrationen und
der Ort vielseitiger kultureller Freiluftveranstaltungen.
4. Ebertsiedlung
In der Festschrift „Wohnungsbauten der GAG von 1919 - 1924“,
herausgegeben am 1. September 1924 von Oberbaudirektor M. Sternlieb (Technischer
Vorstand) und Architekt H. Trum (Technischer Prokurist) steht:
„Es soll aber keineswegs hiermit gesagt sein,
dass das vorliegende Buch 'Mustergültiges' im landläufigen Sinne
enthält. Die Herausgeber sind sich bewusst, dass auf dem Gebiete
der Architektur und des Städtebaues in letzter Zeit bedeutendere
Schriften über Kleinwohnungsbauten veröffentlicht wurden. Was
aber der vorliegenden Schrift gegenüber jenen den Vorzug gibt, ist
der Umstand, dass es sich hier um ausgeführte Bauanlagen handelt,
die nicht von einer einzigen Stelle entworfen und geleitet wurden, sondern
um solche, die sowohl das städtische Hochbauamt Ludwigshafen, als
auch Privatarchitekten zum Urheber haben, und dass sich kein einziger
Idealentwurf darunter befindet, der angesichts der lokalen Gegebenheiten
und herrschenden Schwierigkeiten nur bedingten Wert für den Baulustigen
haben könnte.“
Eine in der Form konziliant vorgetragene, aber in der Sache vernichtenden
Kritik an der herrschenden Architektur. Sternlieb und Trum sprechen in
der Folge auch von Höfen und Gärten von Innenausstattung, Wohnküchen
und Wohnkultur, von Hygiene und Ästhetik. Sie kritisieren die unansehnlichen
Rückfassaden und Hinterhöfe der neoklassizistischen Zeit und
des Historismus.
Sternlieb und Trum tragen neue Gedanken vor, stellen den Menschen und
seine Bedürfnisse an gesundes Wohnen in den Mittelpunkt, fordern
ganzheitliches Denken, - gestalten von Lebensvorgängen - wie es sich
die „Bauhausar-chitekten“ und ihre Folgegenerationen zu Eigen
gemacht haben. Ideen, die in der Nazi-Zeit verboten, aber in Amerika,
Australien und Südafrika prägend wurden.
Heute, mit dem entsprechenden zeitlichen Abstand, ist uns bewusst, dass
die Vordenker der Bauhausidee - Markus Sternlieb gehört zweifelsfrei
dazu - in der fast 4000 Jahre dauernden kontinuierlichen Entwicklung der
europäischen Baugeschichte - von der Antike bis zum Historismus -
einen „Bruch“ erzeugt haben. Durch revolutionäres und
geniales Denken wird aus Kritik eine Utopie und aus der Utopie Realität.
Es beginnt eine neue Welt des Planens und Bauens.
Ebertsiedlung erbaut 1925 bis 1929
Bauherr: GAG, Techn. Vorstand Markus Sternlieb
Architekten: H. Trum, W. Scholler
Am Eingang zum Ebertpark entsteht die Ebertsiedlung (früher Hindenburgsiedlung).
Von den geplanten 600 Wohnungen wurden in den Jahren 1927 bis 1929 400
Wohnungen dem Betrieb übergeben, außerdem 18 Verkaufsläden,
2 Ma-lerateliers, eine Polizeistation, eine Zentralwaschküche, ein
Kindergarten, 2 Spielhöfe mit Planschbecken, 2 Schmuckhöfe als
Erholungsplätze, eine Rundfunkvermittlungsstelle und ein Fernheizwerk.
- „Ganzheitliches Denken, gestalten von Lebensvorgängen“
. -
Die Wohnungen waren groß geschnitten, ausgestattet mit Bädern,
Einbauküchen und Zentralheizung. In mehreren eingerichteten Musterwohnungen
wurde den künftigen Mietern das „neue Wohnen“ mit extra
geplanten Möbeln näher gebracht.
Die Siedlung war weiträumig, mit vielen gestalteten Grünflächen
und Kinderspielplätzen. Die Wohnungen licht- und sonnendurchflutet
mit großen Fenstern, alle am richtigen Ort, Balkonen oder Loggien.
Es gab keine tristen Rückfassaden und Hinterhöfe mehr, wie sie
im Klassizismus und Historismus die Regel waren.
„Neues Wohnen“ in der Ebertsiedlung 1925
Erst jetzt war zu verstehen, was Sternlieb 1924 mit seiner vernichtenden
Kritik an der herrschenden Architektur - „...verschiedene Urheber...,
kein einziger Idealentwurf darunter...“ - gemeint hat. Plötzlich
war alles vorhanden, was der Mensch für ein gesundes, hygienisches
und ästhetisches Wohnen benötigt. Alles stand miteinander im
Einklang, war sauber und logisch aufeinander abgestimmt.
Aus der ganzen Republik sind in den 30er Jahren Staatsmänner, Kommunalpolitiker,
Städteplaner, Architekten und Ingenieure angereist, um von Sternlieb
und der Ebertsiedlung zu lernen. Heute zählt die Siedlung 725 Wohnungen
mit Wohnungsgrößen von bis zu 110 m2 und steht unter Denkmalschutz.
Sie ist 75 Jahre nach Erstbezug sanierungsbedürftig. Für uns
ist dies eine große Herausforderung, die wir mit Sachverstand und
der gebotenen Sorgfalt angehen müssen. Im nächsten Jahr werden
wir in einem Pilotprojekt die ersten 4 Häuser sanieren. Wir schätzen
den Investitionsbedarf der Siedlung auf 30 - 35 Mio. €.
5. Westendsiedlung
Westendsiedlung
Bauzeit: 1929/1930
Bauherr: GAG, Techn. Vorstand M. Sternlieb
Architekten: M. Sternlieb, H. Trum
Foto: Immanuel Giel, Wikipedia Commons
Im Westendviertel besitzt die GAG heute 850 Wohnungen, 630 davon entstanden
vor dem Krieg und davon 450 Wohnungen in den Jahren 1929 bis 1932, also
unter der Verantwortung von Markus Sternlieb. Hatten die Wohnungen in
der Ebertsiedlung eine Größe von 80 bis 110 m2, so wurden die
Wohnungsgrößen im Westendviertel auf 35 bis 50 m2 je Wohnung
reduziert Kleinstwohnungen ohne Balkon, ohne Heizung und Kinderzimmer
von 6 bis 8m2.
Was war geschehen?
Zwischen der Planung Ebertsiedlung 1926/1927 und der Planung des West-endviertels
1929/1930 haben sich die Rahmenbedingungen für die Wohn-raumförderung
grundlegend geändert. Der Reichspräsident Brüning hat mit
Wirkung vom 1. Dezember 1930 eine Notverordnung erlassen. Im Teil 7, Kapitel
1, sieht die Neuregelung des öffentlich geförderten Wohnungsbaus
zusammengefasst Folgendes vor:
„Kleinstwohnungen mit billigen Mieten durch
Verkleinerung des Grundrisses und Herabsetzung der Baukosten.“
Markus Sternlieb schreibt dazu am 16. April 1931:
„Trotz dieser engen Grenzen, werden wir
auch in Zukunft bei der Planung und Ausführung unserer Wohnungsbauten
die auf dem Gebiete der Hausinstallation gesammelten Erfahrungen verwenden,
denn wir wollen auch fernhin nicht nur 'Wohngelegenheiten‘, sondern
auch gesunde 'Dauerwohnungen‘ schaffen.“
Ungeachtet der erschwerten Bedingungen hat Sternlieb bei der Planung
der Westendsiedlung versucht, seine Ideale, soweit die Notverordnung dies
noch ermöglichte, weiterzuentwickeln.
Diese waren:
• Klare, geometrische Formen, Gleichwertigkeit zwischen Funktionsabläufen
in den Wohnungen und Fassadengestaltung.
• Konstruktion und Material zeigen: Mauerwerk, Glas, Stahl und Beton
blieben sichtbar, nichts vertuschen, nichts verputzen, nichts übertünchen.
• Erstmals wurden im Wohnungsbau Stahlbetondecken eingebaut, was
z. B. Eckfenster für eine bessere Belichtung der Wohnräume ermöglichte.
• Der Einbau von Bädern und Küchen wurde ungeachtet der
„Notverordnung“ beibehalten.
Sternlieb ließ 1930/1931 die Außenwände im Westendviertel
in 50 cm dickem Ziegelsteinmauerwerk erstellen. Die Wärmedämmfähigkeit
dieser Wände ent-spricht den seit 2001 verschärften Bedingungen
der Energieeinsparverordnung zur Reduzierung des Energiebedarfs und der
CO2 Treibhausgase. Das Westendviertel steht heute unter Denkmalschutz,
es handelt sich also um ein bewohntes Baudenkmal, nicht um ein Museum.
Wir sind dabei, die Häuser zu sanieren und für das neue Jahrhundert
herzurichten. Die Häuser werden Zug um Zug leergewohnt und im Innern
so umgebaut, dass aus 2 Wohnungen je 50 m2 eine Wohnung von 100 m2 entsteht.
Die verbrauchte Haustechnik wird erneuert und auf den Stand der Zeit gebracht,
so dass sie derzeitigen und künftigen Ansprüchen an hygienisches
Wohnen gerecht wird. Die Fassade wird gereinigt und neu verfugt. Die neu
angebrachten Balkone sind aus Stahl, die Eingangsüberdachungen aus
Glas - „Konstruktion zeigen“ -.
Wir werden die Idee der Bauhausarchitekten nicht verfälschen, sondern
eher vervollständigen und dabei die negativen Folgen der „Notverordnung“,
der sich Sternlieb und Trum unterordnen mussten, beheben.
Das Wohnumfeld wird, wie wir es von den Bauhausarchitekten gelernt haben,
in die Sanierung einbezogen, mit gestalteten Grünflächen, Kinderspielplätzen
und PKW-Stellplätzen. Die Energieversorgung erfolgt über Fernwärme
aus der Müllverbrennung, so dass keine fossilen Brennstoffe verbraucht
werden. Die Sanierung der Westendsiedlung wird 30 - 35 Mio. € kosten.
Auch Architekten sind „Kinder ihrer Zeit“, eingebunden in
die jeweiligen politischen, wirtschaftlichen und gesellschaftlichen Gegebenheiten.
Nach dem 2. Weltkrieg war die Wohnungsnot noch größer als
vor dem Krieg. Die nach dem Krieg neu gebildeten Bundesländer - sie
sind für die Woh-nungsbauförderung zuständig - haben die
Regelungen der „Brüningschen Notverordnung“ in ihren
Wohnungsbauförderrichtlinien übernommen. Die Folge war, dass
in den 50er und 60er Jahren in Westdeutschland, insbesondere in den großen
Städten, hunderttausende dieser Kleinstwohnungen in Großsiedlungen,
also in großen Stückzahlen, gebaut wurden. Obwohl sie bilanztechnisch
noch nicht einmal abgeschrieben sind, zählen diese Siedlungen schon
heute zu den Problemgebieten.
Die Anforderungen von M. Sternlieb und H. Trum aus den 20er Jahren an
Qualität, Wohnkultur und Ästhetik in der Ebertsiedlung realisiert
und für jedermann einsehbar, schienen vergessen zu sein. Selbst als
die Wohnungsnot längst überwunden war, Wirtschaft, Handel und
die Industrie prosperierten, die Steuersäckel der öffentlichen
Hände gefüllt waren, hielten Politik und die Ministerialbürokratie
bei der Wohnungsbauförderung am Geist der „Notverord-nung“
immer noch fest. Stadtflucht, soziale Erosion und Stadtumlandzersiedlung
sind einige Folgen. Wir sollten diese absurde Entwicklung durch Wohnqualität
in den Städten im Sinne der Bauhausarchitekten korrigieren, bevor
die Städte kollabieren. Ernst Bloch, der Ludwigshafener Philosoph
schreibt:
„Erst bauen die Menschen Häuser, und
dann bauen die Häuser Menschen.“
6. Stadthaus Nord
Wir gehen noch einmal in die Zeit des (Neo)Klassizismus vor dem 1. Weltkrieg
zurück. Das Stadthaus Nord - das Ludwigshafener Stadtschloss - wurde
1913 fertiggestellt. Die öffentlichen Bauten wurden in dieser Epoche
meist symmetrisch angelegt, aber immer kolossal majestätisch und
prachtvoll. Ein Baustil, der in Anlehnung an die Antike, die Strenge der
Gliederung und die Gesetzmäßigkeit der Verhältnisse betont.
Ein europäischer Baustil, der im 18. Jahrhundert begonnen und im
19. Jahrhundert seine Hochzeit erfahren hat. Man nannte ihn auch den Baustil
der Fürsten, Könige und Kaiser.
Der Klassizismus war eine Wiederanknüpfung an die klassische Formensprache
der Antike, beginnend in Knossos auf Kreta mit der kretisch minoischen
Epoche (1500 v. Chr.),
gefolgt von den Dorier der ältesten griechischen Ordnung (1200 v.
Chr.) und der ionischen Ordnung (600 v. Chr. - Hellenen). Im Klassizismus
war auch die korinthische
Formgebung (500 v. Chr.) üblich. Sie ist lediglich eine Abart der
ionischen Ordnung mit einer neuartigen Kapitellausbildung.
Stadthaus Nord, erbaut 1913
Foto: Immanuel Giel, Wikipedia Commons
Weitere Formgebungen ließ der Klassizismus in Deutschland nicht
zu. So gesehen war er die wahre Renaissance (Wiedergeburt der Antike).
Das, was in der „Schulgeschichte“ als Renaissance manifestiert
ist und in Florenz zur Hochblüte kam (Tizian, Palladio, Leonardo
da Vinci, Michelangelo und andere) war nicht die reine Nachbildung der
Antike, eher ihre Übersteigerung und Verwilderung, weil den italienischen
Universalgenies des 1500 Jahrhundert die Ordnung der Kreter und Griechen
noch nicht in ausreichendem Maße bekannt war. Als in Florenz die
bedeutendsten Renaissancepaläste entstanden, wurde in Deutschland
noch an den gotischen Kirchen in Ulm und Straßburg gebaut. Bis die
Renaissance in Deutschland ankam, wurden schon die wulstigen Formen des
Barock eingearbeitet (siehe Heidelberger Schloss 1600 n. Chr.).
Die wahre „Widergeburt der Antike“ war in Deutschland der
Klassizismus. Aber auch dieser ist Ende des 19. und Anfang des 20. Jahrhunderts
verwildert und verfälscht worden („Neo-Klassizismus und Historismus
- Jugendstil“ in Deutschland, in Frankreich „Art nouveau“,
in England „Modern Style“).
Dies und noch mehr war dem Architekten Sternlieb bekannt. Es ist um so
verständlicher, dass er in Zeiten großer Wohnungsnot mit alledem
gebrochen hat und sehr früh zur Bauhausarchitektur fand. Die Bauhausarchitekten
Walter Gropius, Hannes Meyer, Marcel Breuer, Ludwig Mies van der Rohe
sind in der Nazi-Zeit in die Schweiz nach England und Amerika emigriert.
Markus Sternlieb blieb; er war näher an den Bedürfnissen der
Menschen als andere, ein Architekt mit sozialer Kompetenz.
Er verstarb am 23. Oktober 1934 in Ludwigshafen am Rhein.
Zitat von Markus Sternlieb:
„Die GAG steht auf dem Standpunkt, dass
die aufrichtigste Form der Schmeichelei die Nachahmung sei und ist daher
außerordentlich befriedigt, dass sie durch ihre Bautätigkeit
dem privaten Bau in künstlerischer Hinsicht Richtung gegeben hat.“
Ludwigshafen, 24. September 2002
Architekt Walter Braun
(Vorstand der GAG seit 01. Januar 1989)
(Quelle: Dr. Stefan Mörz, Stadtarchiv)
Literatur:
Stefan Mörz: „Der Baumeister Ludwigshafens”, 25 Euro,
im Buchhandel.
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