Rede von Bundesinnenminister Otto Schily
beim 25-jährigen Jubiläum der Hochschule für Jüdische Studien
Heidelberg (HJS) am 30. November 2004 in Heidelberg
Ein Druck der Mischne Thora des Maimonides;
Foto: Felix Gross
(Es gilt das gesprochene Wort.)
Anrede,
25 Jahre Hochschule für Jüdische Studien sind ein bedeutsames Jubiläum
– bedeutsam für die jüdische Gemeinschaft, und bedeutsam für
unsere gesamte Gesellschaft.
Gewiss: 25 Jahre sind für eine Hochschule – zumal in Heidelberg –
noch kein Alter, sondern erst ein Anfang. Aber es ist nicht nur ein Anfang,
sondern auch ein Neubeginn vor dem Hintergrund einer länger zurückreichenden
Tradition. Die Tatsache, dass es seit nunmehr zweieinhalb Jahrzehnten wieder
eine Hochschule für Jüdische Studien in Deutschland gibt, ist in jeder
Hinsicht ein freudiger und hoffnungsvoll stimmender Grund zum Feiern. Ich freue
mich sehr, aus diesem Anlass heute wieder bei Ihnen zu sein.
Jüdisches Leben in Deutschland ist nicht möglich ohne beiderseitige
Erinnerung an die Vergangenheit. Die Suche nach einer deutsch-jüdischen
„Normalität“ (wie immer diese einmal aussehen mag), darf nicht
dazu führen, das Geschehene zu verdrängen. Die Shoah als finsterstes
Kapitel der jüdischen wie der deutschen Geschichte bildet den unauslöschlichen
Hintergrund unseres Miteinanders.
Normalität heißt nicht Vergessen. Normalität im deutsch-jüdischen
Verhältnis bedeutet zuallererst Erinnerung und Verantwortung.
Die Erinnerung darf sich aber nicht allein auf die Zeit der NS-Diktatur beschränken.
Sie reicht weiter zurück und umfasst auch viele Fälle gelungenen Miteinanders,
aus denen wir Hoffnung für die Zukunft schöpfen können. Unsere
Verantwortung besteht darin, jüdischem Leben in Deutschland zu umfassender
Akzeptanz und Respektierung zu verhelfen und freie Entfaltungsmöglichkeiten
für jüdische Kultur zu schaffen.
Die Möglichkeit, gerade in Deutschland Kultur, Geschichte und Religion
des Judentums in seiner ganzen Vielfalt studieren, d.h. wieder studieren zu
können, ist von größter Bedeutung. Herr Dr. Korn hat die jüdischen
Lehr- und Lernstätten als „Kristallisationskerne einer möglichen
zukünftigen jüdischen Kultur in Deutschland“ bezeichnet.
Dieses Bild ist sehr passend, denn Kristalle zeichnen sich nicht nur durch ihre
Individualität und Schönheit aus. Sie brechen das Licht in bunte Farben
und geben dem Betrachter die Möglichkeit, die Dinge und sich selbst in
neuem Licht zu sehen. Kristalle wachsen nach eigenen Gesetzen und sind zugleich
in ihrem Wachstum offen, um auch Fremdes einzubeziehen.
Die Hochschule für Jüdische Studien ist ein solcher Kristallisationskern.
Was hier in 25 Jahren entstanden ist und sich beständig weiter entwickelt,
bereichert nicht nur die jüdische Kultur, sondern das gesamte akademische
Leben in Deutschland.
Die Bedeutung der Hochschule reicht weit über die jüdische Gemeinschaft
hinaus. Sie vermittelt nicht nur Wissen, sie führt auch Menschen unterschiedlichen
Glaubens zusammen. Jüdische wie nichtjüdische Studentinnen und Studenten
lernen miteinander, und sie lernen voneinander in der täglichen Begegnung.
Das gemeinsame Studium ist lebendiger interreligiöser Dialog, der über
die Studierenden als Multiplikatoren hinaus seine Wirkung entfaltet.
Dieser direkte Austausch ist die notwendige Voraussetzung für gegenseitige
Verständigung und ein friedliches Zusammenleben von Angehörigen verschiedener
Kulturen und Religionen. Alle in Deutschland lebenden Menschen sollen sich ungeachtet
ihrer jeweiligen kulturellen und religiösen Herkunft der Gesellschaft zugehörig
fühlen können.
Die jüdischen Mitbürgerinnen und Mitbürger kennen gleichermaßen
die Mühen und die Chancen der Integration. Die Zuwanderung aus den Staaten
der ehemaligen Sowjetunion hat die jüdischen Gemeinden vor eine große
Aufgabe gestellt. Sie hat die Gemeinden nicht nur zahlenmäßig vergrößert,
sondern das jüdische Leben auch verändert. Viele der Zuwanderer sind
im jüdischen Glauben nur wenig oder gar nicht verwurzelt. Zugleich ist
die liberal-progressive Richtung erstarkt.
Solche Veränderungen sind nicht immer frei von Konflikten. Aber die hoffnungsvollen
Zeichen für eine Annäherung mehren sich. Ich bin überzeugt, dass
die Entwicklung der vergangenen Jahre insgesamt zu einer Stärkung der jüdischen
Gemeinschaft in all’ ihrer Vielfalt führen wird.
Gerade angesichts der neuen Aufgaben für die jüdische Gemeinschaft
in Deutschland werden Institutionen benötigt, in denen die ganze Vielfalt
des Judentums gelehrt wird. Besonders wichtig ist es, dass hier in Deutschland
Religionslehrer und Rabbiner für alle Richtungen innerhalb des Judentums
ausgebildet werden. Denn sie kennen dann auch den kulturellen Hintergrund und
die Lebensbedingungen in Deutschland, was die Integration der Zugewanderten
erleichtert. In diesem Sinne dürfte auch eine Zusammenarbeit mit Einrichtungen
wie dem Abraham Geiger Kolleg ertragreich sein.
Anrede,
zuletzt habe ich die Hochschule für Jüdische Studien 2001 zur Einweihung
des Ignatz-Bubis-Lehrstuhls besucht. Seither hat es entscheidende Neuerungen
– weitere Kristallbildungen – gegeben, die ich sehr begrüße.
Mit dem Wintersemester 2001/2002 wurde der Studiengang für Religionslehrer
mit dem Abschluss „Staatsexamen“ eingerichtet. Ebenfalls seit drei
Jahren besteht die Möglichkeit einer Rabbinerausbildung, die durch Stipendien
gefördert wird.
Der „Renaissance des Judentums in Deutschland“, von der Sie, sehr
verehrter Herr Spiegel, gesprochen haben, scheint also auch eine Renaissance
der Rabbinerausbildung zu folgen. Das ist – aus meiner Sicht – ein
wichtiger Schritt zu einer künftigen Normalität jüdischen Lebens
in Deutschland. Ich hoffe sehr, dass bald die ersten in Deutschland ausgebildeten
Rabbiner ihre Arbeit in den Gemeinden aufnehmen können.
Anrede,
bei allen positiven Entwicklungen und neuen Ansätzen zu einem gedeihlichen
Zusammenleben dürfen wir aber nicht nachlassen, den leider immer noch virulenten
Antisemitismus mit allen Mitteln zu bekämpfen. Vor wenigen Tagen hat in
München der Prozess wegen eines geplanten Anschlags während der Grundsteinlegung
für das Jüdische Gemeindezentrum am 9. November 2003 begonnen. Der
Attentatsplan beweist, dass Antisemitismus auf keinen Fall verharmlost werden
darf. Wir alle müssen wachsam bleiben und entschlossen allen Anwandlungen
von Antisemitismus und Intoleranz entgegentreten.
Im Talmud heißt es: „Jeder Einzelne soll sich sagen: Für mich
ist die Welt erschaffen worden, daher bin ich mit verantwortlich.“ Im
vorigen Jahrhundert sind zu wenige Menschen der Verantwortung für ein friedliches
Miteinander gerecht geworden. Das nimmt uns heute umso mehr in die Pflicht.
Anrede,
über die 1870 in Berlin gegründete Hochschule für die Wissenschaft
des Judentums hat einer ihrer letzten Studenten, Nathan Peter Levinson, berichtet:
„In der Tat war diese Hochschule eine Insel innerhalb eines brandenden
Meeres. Draußen war die Gewalt, der Schrecken, die Einschüchterung,
die Entrechtung. Innerhalb der Mauern und Lehranstalt fühlte man sich wie
in einer anderen Welt, der Welt des Geistes, die nicht bezwungen werden kann.“
Diese unbezwingbare Kraft des Geistes verkörpert exemplarisch Leo Baeck,
der letzte Oberrabbiner vor 1933 und gleichzeitig letzte Rektor der Hochschule
für die Wissenschaft des Judentums. Levinson erzählt, wie Baeck in
Zeiten höchster Bedrängnis, im Wintersemester 1940, über Grundgedanken
des Judentums dozierte. Er sprach über die Macht, die nur dazu da ist,
um zugrunde zu gehen; jede Idee dagegen bleibe, denn die Idee ist unvergänglich
auch in Katastrophen.
Die noch junge Jüdische Hochschule hier in Heidelberg trägt dazu bei,
die unzerstörbare Idee des Judentums und die Traditionen jüdischen
Geistes lebendig zu halten. Ich wünsche der Hochschule für Jüdische
Studien weiterhin eine fruchtbare Entwicklung, viele engagierte Studenten und
erfolgreiche Absolventen.
Mehr über die Geschichte der Hochschule
Zur Homepage der Hochschule: http://www.hjs.uni-heidelberg.de/
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