Marcel Reich-Ranitzki

Marcel Reich Ranicki wurde 1920 in der polnischen Kleinstadt Wloclawek an der Weichsel geboren. Sein Vater sprach polnisch, seine Mutter deutsch. Beide Eltern waren Juden, die an Sabbat und hohen Feiertagen regelmäßig die Synagoge besuchten. Obwohl der Literaturkritiker später der jüdischen Religion distanziert bis ablehnend gegenüber stand, setzte er sich doch immer wieder gegen Judenfeindschaft und für jüdische Institutionen ein.

Nach dem geschäftlichen Bankrott seines Vaters 1929 zog Marcel Reich zusammen mit seinen Eltern nach Berlin, ins „Land der Kultur“, wie seine Grundschullehrerin damals sagte. Dort waren 1933 die Nazis an die Macht gekommen und machten den Juden das Leben zunehmend schwer. 1938 bestand Reich zwar das Abitur, durfte aber als Jude nicht studieren. Noch im selben Jahr wurde seine Familie, wie andere Ostjuden auch, nach Polen deportiert.

Als im September 1939 Deutschland Polen überfiel und damit den Zweiten Weltkrieg provozierte, verschlimmerte sich die Lage der Reichs fast täglich. Die Familie musste immer neue Willkürakte über sich ergehen lassen, einmal wurde der junge Marcel von einem Nazisoldaten völlig grundlos zusammengeschlagen. Ende 1940 wurden die über 400.000 Juden Warschaus in ein Ghetto zusammen gepfercht und eingemauert. Aufgrund seiner guten Deutschkenntnisse arbeitete Reich damals für die jüdische Kultusgemeinde („Judenrat“), die mit den deutschen Besatzern schwierigste Verhandlungen füh-ren musste. Zusammen mit seiner Frau Teofila, die er im Ghetto kennen gelernt und 1942 geheiratet hatte, gelang Marcel Reich die Flucht. Sie hielten sich bei einem polnischen Schriftsetzer in einem Vorort Warschaus versteckt, bis die Russische Rote Armee 1944 endlich Polen von der Naziherrschaft befreite. Seine Eltern hatten weniger Glück: Sie starben nach der gewaltsamen Auflösung des Ghettos in den Gaskammern von Treblinka.

Nach dem Krieg trat Reich der kommunistischen Arbeiterpartei bei, bei der er zunächst Karriere machte als Mitarbeiter der Zensurbehörde und des Auslandsgeheimdienstes. Als er 1948 Chef des polnischen Generalkonsulats in London wurde, legte er sich den Doppelnamen Reich-Ranicki zu, den er noch heute trägt. Zum Zerwürfnis mit der Partei kam es, weil der junge Diplomat sich über die antisemitische Haltung der Partei beschwerte. Er wurde daraufhin ausgeschlossen und vorübergehend inhaftiert, fand dann aber wieder eine Anstellung als Lektor bei einem polnischen Verlag. Seit dieser Zeit widmete er sich ganz der deutschen Literatur – eine Passion, die auf seine Schulzeit zurückging, wo er nicht nur im Aufsatz zu imponieren wusste.

Von einer Reise 1958 von Warschau nach Deutschland kehrt er nicht mehr in seine alte Heimat zurück. Er fasste im Westen sehr schnell Fuß und publizierte bei so renommierten Zeitungen wie die „Frankfurter Allgemeine Zeitung“ oder „Die Zeit“. Einer breiten deutschen Öffentlichkeit wurde der Schriftsteller und Literaturkritiker durch das „literarische Quartett“ bekannt. In dieser Kultursen-dung beeindruckte Reich-Ranicki durch sein unerbittliches Nachhaken, seine Zuspitzungen und seine unverblümte Direktheit, die ihm nicht immer nur Freunde eintrug. Nicht nur im Fernsehen, sondern auch an zahllosen Universitäten vermittelte Reich-Ranicki, der selbst am liebsten Thomas Mann und Goethe mochte, deutsche Literatur. Sein gerolltes „R“, sein Lispeln, sein wildes Gestikulieren reizte immer wieder Karikaturisten und Imitatoren, das Original aber bleibt bis heute unerreicht.Mit seiner Autobiografie „Mein Leben“, 1999 erschienen, gelang dem Kritiker selbst ein Bestseller, der sich als ein bewegtes Stück deutsch-jüdische Zeitgeschichte lesen lässt.

Text: Stefan Meißner

Bild: WIkipedia Commons

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