von Prof. Dr. Wilhelm Schwendemann (Freiburg)
Du sollst mein Racheengel sein Gott
hilf mir tritt du für mich ein
lass ihn nicht davonkommen diesen ehrbaren Schrebergärtner
erfinde die Hölle neu für ihn
Da schwelt eine Wunde mir auf der Stirn
die kannst auch Du Gott nicht heilen
taube Stelle und Ekel im Munde
noch ///nicht einmal Sehnsucht Liebeswunschleere
getötet die Unschuld verbrannt das Kind
Liebe ZuhörerInnen,
diese beiden Gedichte von Carola Moosbach geben eine Wirkung der so genannten
Rachepsalmen der Bibel wieder. Eine von ihrem Vater als Kind sexuell missbrauchte
Frau findet in den biblischen Psalmen ihre Sprache und formuliert ihr Anliegen,
ihren Schmerz, ihre Verwundung, die sie Gott entgegenschleudert. Die Gedichte
von Carola Moosbach gehören in die lange Rezeptionsgeschichte der biblischen
Psalmen hinein.
Die ausgewählten Gedichte, die sozusagen produktiv mit den biblischen
Bildern umgehen und aggressiven Feindbildern deren Destruktivität nehmen,
sind nicht das typische Beispiel christlicher Feind-und Rachepsalmenrezeption.
In ihrem Sinn müsste das Thema unseres heutigen Abends dahin eigentlich
umgeschrieben werden: Befreiung von menschlichen Alpträumen statt Befreiung
von biblischen Alpträumen.
Eher ist davon auszugehen, dass die aggressive Sprache mancher Psalmen nicht
ausgehalten oder beschönigt oder einfach weggelassen oder totgeschwiegen
wird.
Die Frage, die sich dahinter verbirgt: Darf man als Christ/Christin, wenn man
ausgewählte biblische Psalmen betet, überhaupt so beten? Oder entspricht
der christliche Nicht-Umgang mit einzelnen biblisch-jüdischen Psalmen christlich-kirchlicher
Praxis, das Judentum auszublenden, zu verdrängen, zu verschweigen oder
in früheren Zeiten, denken wir an das Kreuzzugsalter gar auszurotten?
Oder warum sollen wir uns überhaupt noch mit biblischen Gottesvorstellungen
beschäftigen; schnell ist man bei der Hand, einen vermeintlich biblischen
Gott der Vergeltung / der Rache in eine religiöse Schreckenskammer zu verschließen.
Mit so einem Gott wollen wir nichts zu tun haben. Es gibt also eine Menge an
Möglichkeiten, sich zu den biblischen Psalmen zu verhalten.
Vielfach liegt allein schon in der gewählten deutschen Übersetzung
ein Problem, das unerkannt antisemitische Einstellungen begünstigt:
Ein Beispiel (Ps 58,7-12):
Einheitsübersetzung
7
O Gott, zerbrich ihnen die Zähne im Mund! Zerschlage, Herr, das Gebiß
der Löwen!
8
Sie sollen vergehen wie verrinnendes Wasser, wie Gras, das verwelkt auf dem
Weg,
9
wie die Schnecke, die sich auflöst in Schleim; wie eine Fehlgeburt sollen
sie die Sonne nicht schauen.
10
Ehe eure Töpfe das Feuer des Dornstrauchs spüren, fege Gott die Feinde
hinweg, ob frisch, ob verdorrt.
11
Wenn er die Vergeltung sieht, freut sich der Gerechte; er badet seine Füße
im Blut des Frevlers.
12
Dann sagen die Menschen: «Der Gerechte erhält seinen Lohn; es gibt
einen Gott, der auf Erden Gericht hält.»
In vielen Psalmengattungen werden Feinde benannt und Gewaltmuster versprachlicht,
was diese Psalmen auf der einen Seite abstoßend und auf der anderen Seite
scheinbar Gewalt legitimierend macht. Aber schauen wir ein wenig unter die Oberfläche
und abseits unserer Vorurteile.
Das Leben des einzelnen Menschen oder gar des Volkes Israel als Erstproduzenten
und –rezipienten der Psalmen erscheint als täglicher Kampf, als Überlebenskampf
in einer feindlich gesonnenen Welt; die Metaphorik der verwendeten biblischen
Bilder ist reichhaltig und auch die Ausdrücke und Konnotationen, die Hass,
Gewalt, Lieblosigkeit, Rücksichtlosigkeit, Neid, Missgunst usw. beschreiben,
stehen dem nichts nach. Wenn man den Emotionen und Assoziationen dieser Metaphern
nachgibt, entstehen Widerstände, Irritationen, sofern nicht auf den Unterschied
zwischen realer und metaphorisch-resymbolisierter Welt geachtet wird.
Wir müssen uns aber vergegenwärtigen, dass unser christliches Altes
Testament in Hebräisch geschrieben ist und dass jede Übersetzung Interpretation
bedeutet.
Gleichzeitig und bevor wir überhaupt als Christen und Kirche die Bühne
der Weltgeschichte betreten haben, haben das Volk Israel und das nachbiblische
Judentum die Heilige Schrift rezipiert. Die ersten Christen hatten, bevor das
Neue Testament zum Kanon des Alten dazu kam, nichts anderes als die hebräische
Bibel und das Neue Testament ist nicht eine Aufhebung des Alten Testaments zugunsten
einer Theorie der Enterbung, so als könne die Kirche die Verheißungen
der Synagoge beerben. Gottes Bund mit Israel ist nie, auch nicht durch den Neuen
Bund, der gleichsam nicht derselbe ist, aufgehoben oder ausgelöscht worden.
Gottes Bund mit Israel bleibt bestehen, auch wenn das biblische Israel im Lauf
seiner Geschichte immer wieder abtrünnig geworden ist, wie uns die Propheten
eindringlich und eindrücklich vor Augen führen. Wenn wir Christen
also vom Alten Testament reden, meinen wir mit diesem Begriff das Altehrwürdige,
aber Fortbestehende und das Judentum meint damit den Teil der Bibel von Genesis
bis Maleachi als Tora, Nebiim, Ketubim also Weisung, Propheten und Schriften,
kurz auch TENACH oder auch nur SCHRIFT.
Wer sind denn nun die Adressaten des Alten Testaments? Die Antwort liegt auf
der Hand, nicht wir als Kirche. Aber ist denn dann das AT nicht doch für
uns Christen und Christinnen nicht irrelevant? Steht dann das für uns als
Kirche Bindende nicht im Neuen Testament? Gegen diese Frage steht aber die Kanonentscheidung
der Alten Kirche gegen Marcion, einem frühchristlichen Theologen. Marcion
wurde 144 n. Chr. wegen Häresie exkommuniziert. Marcion entwickelte nämlich
eine antithetisch aufgebaute Lehre. Aus dem Gegensatz zwischen Altem Testament
und Neuem Testament schloss er auf zwei Offenbarungsgottheiten, die er als unversöhnlich
gegenüberstellte: den »bekannten« Gott der alttestamentlichen
Schriften, der die Welt geschaffen habe und als strafender Gott (ohne Liebe)
durch Gesetz und Vergeltung regiere, und den »fremden« Gott der
Liebe und des Erbarmens, der Jesus Christus zur Erlösung der Menschen aus
der von dem alttestamentlichen Schöpfergott (Demiurgen) geschaffenen unvollkommenen
Welt gesandt hat. Marcion verwarf das Alte Testament und die »judaistisch
verfälschten« Teile des Neuen Testaments. Die Bibel Israels, so schlussfolgern
wir, ist also nicht nur in den beiden ersten christlichen Generationen, sondern
auch danach Heilige Schrift des Christentums gewesen, aber gewiss verbunden
mit dem Neuen Testament. Ein Christentum – ohne die beiden Teile der Schrift
– ist absurd und Jesu Geschick wird an vielen Stellen des Neuen Testaments
immer wieder durch die Brille der „Schrift“, d.h. des Alten Testaments
interpretiert: das Alte Testament legt den hermeneutischen Maßstab an
zentrale Stellen des Neuen Testaments. Das Neue Testament erschließt sich
unter dieser Perspektive nicht aus sich selbst, sondern vom Alten her, aber
nicht in einer einseitigen Perspektive nach dem Motto, was dort verheißen
wurde, ist hier erfüllt; sondern verändert vor allem und zuerst die
Blickrichtung.
Die ganze Bibel gehört also zur Glaubensgrundlage des Christentums, deswegen
muss auch derjenige, der Evangelium predigen will, hören, verstehen, auslegen,
was in den Texten der Tora an Evangelium bereitgestellt wird und indem der Bibel
und vor allem Psalmen Lesende dieses tut, erweist er den Autoren der alttestamentlichen
Texte und ihrer Rezipienten in Israel Respekt und wird so zum Zeugen des Gottes
Abrahams, Isaaks und Jakobs, der zugleich der Vater Jesu Christi ist. Das, was
der Christ und die Christin im Zeugnis des Alten Testaments vernehmen, ist die
Anrede des lebendigen Gottes, der sie nicht ausweichen können und die sie
nicht aufweichen dürfen, was in gleichem Maß dann natürlich
auch auf die Texte der so genannten Rachepsalmen zutrifft.
Das Christentum hat also nicht das Alte Testament von Israel übernommen,
sondern wird gleichsam selbst zum Zeugen der Botschaft der Schrift, aber unter
anderer Perspektive als Israel. Zudem ist zu bemerken, dass der Respekt vor
den Glaubenszeugnissen alttestamentlicher Literaturen dazu führen wird,
diese nicht in ein christliches Selbstverständnis hin einzuebnen, das sich
dann seiner eigenen Vielstimmigkeit beraubt, weil die neutestamentlichen Zeugnisse
der Bedeutung des Lebens und Sterbens Jesu selbst vielstimmig und nicht uniform
sind. Hören bedeutet immer auch Zulassen des Fremden, nicht Verstehbaren.
Der biblische Gott und die versprachlichten Erfahrungen mit diesem Gott lassen sich also keineswegs so aufteilen, dass man das Anstößige auf das Alte Testament und das Nette, Sympathische auf das Neue Testament verteilt und ebenso mit dem biblischen Gott so verfährt: hier die dunkle Seite Gottes, da die uns Menschen zugewandte Seite in Jesus Christus. Man mag über die gewalttätige Sprache mancher Psalmen erschrecken oder auch über die zuweilen geäußerten Wünsche nach Vernichtung der Feinde, aber man soll sich als Christ / Christin zuerst vor Augen halten, dass das Psalmenbuch durchaus als betende Aneignung von Tora und Prophetie gedacht ist. Allein in 16 Psalmen sind die bedrängenden Feinde Thema des Psalms bei 94 Nennungen von Feinden in den Individualpsalmen, dazu kommen die Auseinandersetzungen zwischen Gerechten / Frevlern, zwischen ohnmächtigen Armen und übermächtigen Reichen oder zwischen Gottesanbetern und Götzendienern. In den Psalmen geht es um das Leben und auch um den Tod, und es wird nicht im zarten Moll gespielt.
Das eigentliche Problem des Psalmenverstehens ist ein Hermeneutisches, das
verschärft wird, wenn die biblischen Psalmen von ihrem Ursprung im biblischen
Israel her verstanden werden müssen, was die Diskontinuität zum Christentum
vergrößert. Die Psalmen werden dann vor den neutestamentlichen oder
christologischen Richterstuhl gezerrt, um dort entweder verchristlicht oder
als unchristlich ausgeschieden zu werden. Ein Beispiel ist Luthers Vorrede zu
den Psalmen: ICH halte aber / Dass kein feineres Exempelbuch oder Legenden der
Heiligen auf Erden gekommen sei oder kommen möge / denn der Psalter ist.
Und wenn man wünschen sollte / dass aus allen Exempeln / Legenden / Historien
/ das Beste gelesen und zusammengebracht / und auf die beste Weise zusammengestellt
würde / so müsste es der jetzige Psalter werden. Denn hier finden
wir nicht allein / was einer oder zwei Heilige getan haben / Sondern was das
Haupt aller Heiligen selbst getan hat / und noch alle Heiligen tun. Wie sie
sich gegen Gott / gegen Freunde und Feinde stellen / Wie sie sich im Leiden
aller Gefahr halten und schicken. Über das / dass allerlei göttliche
heilsame Lehre und Gebote darin stehen.
Eine andere mögliche Reaktion christlicherseits besteht darin, die Feind-
und Rachepsalmen als vorchristlich zu disqualifizieren oder als eben typisch
alttestamentlich hinzustellen. So Alfred Mertens: „Letzten Endes werden
sich christlicher Beter freilich bewußthalten, daß sie sich beim
Beten auf einem vor- und unterchristlichen Ethos bewegen, auf einer Ebene, die
durch die Bergpredigt weit überschritten ist.“ Oder bei Arthur Weiser
können wir zum Psalm 41 lesen: „… Daß der Psalmist seinen
Gegnern zu vergelten hofft, was sie ihm angetan, ist aus seiner Empörung
und Enttäuschung zwar verständlich, zeigt aber deutlich die allzumenschliche
Schranke alttestamentlichen Denkens an dieser Stelle, die unter dem Gericht
des Neuen Testaments steht.“ Auf dem Hintergrund des christlich-jüdischen
Dialogs wirken diese paradigmatischen Aussagen merkwürdig, weil sie in
der Schwebe halten wollen, was nicht schwebt. Entweder gilt die Häresie
Markions oder sie gilt nicht; eine teilweise heimliche Rezeption marcionitischer
Auffassungen wirkt sich verheerend aus.
Um so dringender ist die Frage zu beantworten, wie bestimmte Psalmen und Psalmenteile
zu verstehen sind. Hier ist nicht nur das christlich-jüdische Gespräch
im Allgemeinen als Kontext zu beachten, sondern aus welcher Haltung heraus wir
Texte der Heiligen Schrift lesen und rezipieren. Ins Spiel kommt hierbei eine
gerade unter Christen und Christinnen weitgehend noch wenig ausgebildete Kompetenz:
Ich nenne sie einfach mal Pluralismuskompetenz. Unter Pluralismuskompetenz verstehe
ich die Fähigkeit, in einem bunten Angebot von Möglichkeiten das auszuwählen,
was für die eigene religiöse Sozialisation und eigene Identität
nötig ist, ohne die Identität des Fremden oder anderen zu besetzen
oder zu instrumentalisieren, d.h. eigene Identitätsarbeit ohne Abwertung
anderer leisten zu können. Die Fähigkeit zur Wahrnehmung inmitten
pluraler Verhältnisse setzt als erstes Wahrnehmung der Differenz und des
spezifisch Eigenen voraus. Martin Buber schrieb einmal: »Alle Menschen
haben Zugang zu Gott, aber jeder einen anderen. Gerade in der Verschiedenheit
der Menschen, in der Verschiedenheit ihrer Eigenschaften und ihrer Meinungen
liegt die große Chance des Menschengeschlechts.« Die Verschiedenheit
der Menschen ist in unserer Gesellschaft in Bezug auf Herkunft, Religionszugehörigkeit,
kulturellen Hintergrund längst nicht mehr auffällig, sondern Alltag.
Vor allem die monotheistischen Religionen und auch die fernöstlichen sowie
alle Spielarten religiöser Sinnanbieter sind inzwischen zu Nachbarschaftsreligionen
im Gemeinwesen, im Stadtteil und in sämtlichen Bildungseinrichtungen, von
der Kindertagesstätte bis hin zur Hochschule, Alltag geworden. Überall
böte sich die Möglichkeit der Begegnung im Buberschen Sinn, wenn man
sie zuließe. Das meint übrigens nicht nur das natürliche Zusammentreffen
von Personen, sondern hat einen individuell-persönlichen Charakter und
stellt eine Lernanforderung an jeden Einzelnen dar. Begegnung in diesem Sinn
geht nicht allein in Vermittlung und Sicherung so genannten Informationswissens
über die andere Religion auf, sondern bringt drei Dimensionen religiösen
Lernens überhaupt ins Spiel: Bereitstellen hermeneutischen Wissens über
die eigene Religion, die oft genug schon Hermeneutik des widerständig Fremden
ist, denn die eigene Tradition ist in der Regel heimatlos und fremd geworden
oder zumindest unverständig (Lévinas, Die Spur des Anderen). Die
zweite Dimension ist die Erziehung und das Lernen über Religion und die
Dritte, als Voraussetzung der beiden anderen, ist die Erziehung von der Religion
her, d.h. der Erwerb von Pluralismuskompetenz innerhalb der eigenen religiösen
Tradition, um auch das widerstehende Fremde zuzulassen und auszuhalten.
Die exegetischen, pastoraltheologischen, religionspädagogischen, sprachlichen,
tiefenpsychologischen Probleme, die sich mit der Psalmeninterpretation auftun,
dürfen uns aber nicht dazu verleiten, die Psalmen einfach zu ignorieren
oder sie nach unserem Gutdünken, z.B. für den gottesdienstlichen Gebrauch,
zurechtzustutzen. Ein Beispiel ist die Perikopenabgrenzung entweder der Lese-
oder der Predigttexte. In der Ordnung der Lesungen und Predigttexte der Lutherischen
Liturgischen Konferenz fehlen die Psalmen 12, 44, 58, 59, 83, 109, 137. Der
Psalm 139 sind folgende Verse ausgespart worden:
17 Aber [a] wie schwer sind für mich, Gott, deine Gedanken! Wie ist ihre
Summe so groß!
a) Ps 40,6
18 Wollte ich sie zählen, so wären sie mehr als der Sand: [a] Am Ende
bin ich noch immer bei dir.
a) Ps 63,7
19 Ach Gott, wolltest du doch die Gottlosen töten! Daß doch die Blutgierigen
von mir wichen!
20 Denn sie reden von dir lästerlich, und deine Feinde erheben sich mit
frechem Mut.
21 Sollte ich nicht hassen, HERR, die dich hassen, und verabscheuen, die sich
gegen dich erheben?
22 Ich hasse sie mit ganzem Ernst; sie sind mir zu Feinden geworden.
Es ließe sich noch eine große Zahl Textzerstückelungen präsentieren,
was aber hier zu weit führte, sie darzustellen. Die Gewaltäußerungen
einzelner Psalmen sind aber auch von ihrem Kontext innerhalb des Psalmenbuches
und dann darüber hinaus natürlich auch von anderen Texten her zu interpretieren,
z.B. vom Gebot der Feindesliebe (Lev 19, 17-18) oder Ex 23, 4-5; Dtn 22, 1-4
. Die Äußerungen gegen die Feinde sind also eingerahmt vom Gebot
der Feindesliebe und stehen in Spannung zu diesem; man könnte fast formulieren:
Es gibt einen innerbiblischen Protest schon im ersten Testament gegen die Gewaltäußerungen
in manchen Psalmen; auch die prophetische Gewaltkritik wäre in diesem Zusammenhang
zu nennen: Mi 4, 1-5; Jes 11, 1-10; Gen 1, 29-30. Hüten wir uns also vor
antibiblischen oder gar antijüdischen Klischees. Um die emotionale Tiefendimension
der Feind- und Rachepsalmen nachvollziehen zu können, vergegenwärtigen
wir uns den Anschrei Gottes durch Jesus am Kreuz: Mein Gott, warum hast du mich
verlassen? Gott selbst wird hier ins Gericht genommen, ähnlich die Selbstverfluchung
Hiobs. Das bedeutet, dass wir die anstößigen Texte aus dem Psalter
so nehmen müssen, wie sie sind; was nicht bedeutet, dass wir ihren ärgerlichen
Wortlaut als Legitimationsstrategie für eigene Gewaltäußerungen
missbrauchen dürfen. Die Sprache der Rache- und Feindpsalmen ist gerade
nicht triumphalistisch und eben nicht Aufruf zur Gewaltanwendung gegen Feinde.
Auch hier ist christlicherseits zuerst Buße zu tun. Gerade der Psalm 58
ist oft in der patristischen Zeit gegen Juden verwendet worden. Drei Psalmen
schauen wir uns näher an: Ps 58; 59; 83
Psalm 58
Der Psalm 58 diente in der christlichen Tradition dazu, Juden nicht nur mundtot
zu machen, sondern die jüdische Bevölkerung zumindest verbal auch
zu vernichten;
Übersetzung nach Erich Zenger:
1 Dem Musikmeister. „Verdirb nicht“. Von David. Ein Miktam-Lied
2 Ist es wirklich so, dass ihr in eurem Reden das Recht zum Verstummen bringt,
anstatt in Geradheit Recht zu verschaffen den Menschenkindern?
3 Sogar im Herzen begeht ihr Unredlichkeit, auf Erden bahnt ihr die Gewalttat
eurer Hände an.
4 Abtrünnig sind die Frevler vom Mutterschoße an, es irren ab vom
Mutterleib an die Lügenredner.
5 Ihr Gift gleicht dem Gift der Schlange, wie das einer tauben Kobra, die ihr
Ohr verschließt,
6 damit sie nicht hört auf die Stimme der Schlangenbeschwörer, des
weisen Bannbeschwörers von Beschwörungen.
7 Gott, zerbrich ihre Zähne in ihrem Maul, das Gebiss der jungen Löwen
zerschlage, JHWH!
8 Sie sollen zerfließen wie Wasser, die sich verlaufen. Schießt
er seine Pfeile, dann sollen sie niedersinken.
9 Wie eine Fehlgeburt, die du vergehen lässt, möge er vergehen, wie
die Fehlgeburt der Frau sehen sie nicht die Sonne.
10 Bevor eure Töpfe den Dornstrauch bemerken, sowohl als „Lebendiger“
als auch in Zornesglut wird ER hin hinwegwehen.
11 Es wird sich freuen der Gerechte, denn er sieht Vergeltung,
seine Tritte badet er dann im Blut des Frevlers.
12 Und die Menschheit soll dann sprechen: Ja, es gibt Frucht des Gerechten,
ja, es gibt einen Gott, der Richter ist auf Erden.
Auffällig ist der Sprechrichtungswechsel in V3 / V 4, der aber auch in
der prophetischen Literatur vorkommt. Traditionellerweise wird der Psalm 58
zur Gattung der so genannten Fluchpsalmen gerechnet, was eine irreführende
Bezeichnung darstellt, da er von vorneherein eine bestimmte Intention unterstellt.
Der Psalm selbst stellt eine Mischung von verschiedenen Gattungen dar und ist
so als Lied der Weisheitsliteratur zuzurechnen: also eher eine weisheitliche
Instruktion bzw. ein weisheitlich-prophetisches Lehrgedicht. Der Beter des Psalms
beurteilt Geschehen theologisch-weisheitlich, worauf die beiden „Ja“
in Vers 12 deuten. Die Gliederung ist demnach: eröffnende Anrede (V 2+3)
– Perspektivenwechsel (V 4) – Vorhandensein von Klangpaaren ; in
Strophen: 1. Strophe V 2-3; 2. Strophe V 4-6; 3. Strophe V 7; 4. Strophe V 8-10;
5. Strophe V 11-12.
Die Leitthemen des Psalmes sind Gerechtigkeit; Reden und Schweigen. Ab Vers
4 geht der Psalm in metaphorische Redeweise über, um über Frevler
seit ihrer Geburt nachzudenken; die Tiermetaphern belegen die heimtückische,
gefährliche und chaotische Macht. Das imperativisch formulierte Zentrum
in Vers 7 nimmt Gottesbezeichnungen auf. Gott wird aufgerufen, die Macht der
Frevler zu brechen bzw. zu bestrafen. V 11-12 nehmen das erbetene Gericht vorweg
und schildern die mögliche Reaktion des Gerechten auf den Untergang des
Frevlers. Der gesamte Psalm ist konzentrisch aufgebaut, wobei V 2-3 und V 11-12
die inclusio bilden; V 7 Mittelpunkt darstellt, V 4-6 stehen V 8-10 gegenüber;
V 8-10 und 11-12 stellen eine Art Antwort auf V 2-3/4-6 dar. Eigentlich ist
das Ziel der metaphorischen Redeweise in Psalm 58 die Umkehr des Frevlers, indem
seine mögliche Vernichtung vor Augen gemalt wird. Die Häufung des
Wortfeldes Recht stammt wohl aus der Königsideologie bzw. aus der Bezeichnung
Gottes als Richters und Königs. Das Ideal der königlichen Rechtssprechung
wird auf Gott übertragen und erinnert in V2-3 an die Verantwortung für
das Rechtschaffen. Das Gegenteil ist aber der Fall: in der Gesellschaft entsolidarisieren
sich immer mehr, vor allem die angesprochene Oberschicht (Jes 56, 10-1); die
Vorwürfe zielen auf wahrnehmbares Unrecht, auf soziale Missstände
und blutige Gewalttaten, die nicht näher ausgeführt werden. V 4 deutet
an, dass derjenige, der sich geschildertes Unrecht zuschulden kommen lässt,
sich bereits auf einem Irrweg befindet und natürlich auf Gott nicht hört
(V 5) bzw. IHM den Gehorsam verweigert. Die Frevler sollen deshalb nach der
Talionsformel dort geschädigt werden, wo sie gesündigt haben (V 6).
Die Chaoswasser sind in V 8 Sinnbild der zerstörerischen Macht des Frevlers.
In V 11 + 12 wird die Freude ausgedrückt, die entsteht, wenn die Gerechtigkeit
vollständig wieder hergestellt worden ist. Gottes Handeln ist hier eine
Verschränkung von Gerechtigkeit herstellen im juristischen Sinn und Befreiung
von Unrechtsverhältnissen erfahren in einem existenziellen Sinn. V 12 macht
die sinnlich erfahrene Gerechtigkeit Gottes und sein Recht schaffendes Handeln
zum theologischen Mittelpunkt. Erinnert wird mit diesem Psalm an den weisheitlichen
Tun-Ergehen-Zusammenhang, dass gerechtes Leben Frucht bringt und dass Ungerechtigkeit
ins Chaos führt. Das Ganze wird aber aus der Perspektive des Betenden zu
einer Theodizeefrage: Wo Gott keine Gerechtigkeit mehr schafft, verliert er
sein Gottsein, ist er nicht mehr länger Gott des Betenden (V 4.7.11). Der
Psalm 58 lässt sich durchaus als Schrei eines Menschen nach Gerechtigkeit
sehen, der gerecht leben will und deshalb in einer ungerechten Welt an Leib
und Seele verletzt wird. Es geht also gerade nicht um verzweifelte Omnipotenzgefühle
eines Zukurzgekommenen, sondern vor allem um die Wiederherstellung von Gerechtigkeit.
Psalm 59
11 Der Gott meiner Güte soll mir vorangehen, Gott wird mich schauen lassen
auf meine Gegner.
12 Töte sie nicht, damit es mein Volk nicht vergesse, zerstreue sie durch
dein Heer und wirf sie nieder, unser Schild, mein Herr!
13 Sünde ihres Mundes ist das Wort ihrer Lippen, sie sollen sich verfangen
in ihrem Hochmut und wegen des Fluches und der Lüge, die sie erzählen,
14 vernichte sie im Zorn, vernichte, dass sie nicht mehr sind.Damit man erkennt,
dass Gott in Jakob herrscht bis an die Enden der Erde. Sela.
Psalm 59 stellt den Gipfel der individuellen Feindpsalmen in Ps 52-59 dar, wobei
in ihm die Ebenen individueller und kollektiver Bedrohung sich überschneiden,
aber es gilt: „Weil JHWH der Schützer seines Volkes ist, muß
er auch dem einzelnen Schutz gewähren." Fast unheimlich wirken die
Bilder tödlicher Bedrohung – gegen sie stehen die Bilder, die Gottes
Schutz ausdrücken; wiederum ist in der Feindmetaphorik die Versprachlichung
der Angst, die der Betende als Bedrohung wahrnimmt. Gegen die Dynamik der Bedrohung
setzt der Psalm die Statik des Bildes Schutzburg. Die Bedrohung wird als Vernichtungsfeldzug
empfunden und die einzige Geborgenheit schafft Gott als Schutzburg. Der Psalm
weist die Struktur eines zweiteiligen Bittgebets auf, in dem Klagen (V 7-8;
V 15-16) integriert sind (V 2-10). Die Bewegung des Psalmes ist die: Von der
Bitte zur Klage zur Vertrauensäußerung. Der Psalm selbst hat eine
analoge Strukturgestaltung in seinen beiden Teilen. Innerhalb des Psalters schließt
er als Bitte eines Einzelnen die Reihe der individuellen Feindpsalmen 52-59
ab und leitet über zu den Vertrauenspsalmen in 61-64, die als Kontrast
zu den Psalmen 52-59 fungieren. Die Bedeutung des Psalmes heute liegt in der
Darstellung eines Gebetskampfes gegen Angst und Not und im Aushalten konkreter
Ängste und Leiden der Betenden.
Psalm 83
2 Gott, sei nicht so still, schweige nicht und sei nicht untätig, Gott.
3 Denn siehe, deine Feinde toben, und die dich hassen erheben das Haupt.
4 Gegen dein Volk hecken sie Verschwörung aus und beraten sich gegen deine
Schützlinge.
5 Sie sagen: „Kommt, wir wollen sie ausrotten als Nation, und nie mehr
soll erinnert werden der Name Israel!“
14 Mein Gott, mache sie wie Distelknäuel, wie Strohbüschel vor dem
Wind,
15 wie Feuer, das den Wald verbrennt, wie Lohe, die die Berge entzündet,
16 so verjage sie mit deinem Sturmwind, und mit deinem Wettersturm schrecke
sie.
Der Psalm lässt sich ebenfalls in zwei Teile gliedern: V 2-9 und 10-19.
2-9 sind Klage und Protest gegenüber Gott, der scheinbar unberührt
ist und der zweite Teil ist Bitte und Flehen um einen Gotteserweis. Beide Teile
sind als wirkungsvolle Kontraste gestaltet. Im ersten Teil wird eine gigantisch
sich gegen Israel erhebende Völkerschar geschildert, der selbst Gott in
Besitz nehmen will und im zweiten Teil wird die Völkerschar gerade von
diesem Gott in die Flucht geschlagen. Für uns ist wichtig, dass die Perspektive,
die in dem Psalm eingenommen wird, die des Opfers ist, das nach Vernichtung
und Hoffnung auf Umkehr der Verfolger und Mörder schreit und das Gott gegenüber
tut und es ihm überlässt, wie er handelt. Die Erfahrung des Gottesschweigens
wird in diesem Psalm thematisiert und das Gottesschweigen wird dann virulent,
wenn die Gottesfeinde auf die totale Vernichtung Israels zielen: Der Name Israels
und damit auch seines Gottes soll aus der Geschichte verschwinden. Dieser Plan
wird vom potenziellen Opfer Gott entgegengeschleudert und gleichzeitig wird
in diesem Schrei die Hoffnung formuliert, dass Gott als Sieger über diesen
Plan hervortritt. Die Vernichtungsbitten im zweiten Teil des Psalmes spielen
auf die vorstaatlichen Verhältnisse in der Richterzeit an; die Rettung
dort ist gleichzeitig Sprachhilfe für das Überleben in der Jetztzeit
des Psalmbeters und damit auch Hoffnung auf das Überleben Gottes selbst.
Der Betende schreit Gott an, endlich etwas für sein Überleben etwas
zu tun. Diesem Gedanken, Gott aus seiner Israelvergessenheit zu retten, sind
alle anderen Gedanken des Psalms, auch die Vernichtungsbitten, untergeordnet.
„Die Passion dieses Psalms ist das Leiden Israels an seinem Gott, ja ein
schmerzvolles Gott-Vermissen – angesichts der ambivalenten Geschichtserfahrungen,
die der Psalm aus dem kollektiven Gedächtnis Israels erinnert und beschwört.“
Der Psalm 83 schildert einen mythischen Völkersturm gegen Gott und stellt
Gottes Gottsein durch die Geschichte infrage; d.h. es geht hier um Gottesbilder,
die Gott mit der Erinnerung an seine eigene Geschichte mit Israel bedrängen
und nicht um den sprachlichen Schock auf der menschlichen Seite. Ziel des Psalms
ist die Gotteserkenntnis und die damit verbundene Umkehr aller zu Gott zurück,
d.h. um die Verwandlung der Völker, ähnlich wie in der Vision von
Mi 4. Der Psalm erhofft gegen alle Erfahrung auf das Ende der Gottesfeindschaft.
Was haben wir bei diesem kleinen Durchgang durch die drei Psalmen gelernt? Einmal den Abschied von unseren theologischen Vorstellungen und unserem Lebensgefühl, das möglicherweise dem emotionalen Ausdruck der Feindpsalmen entgegensteht. Zum anderen, dass auch die Feind- und Rachepsalmen authentische Gebete sind, in denen es um Gottes Machtanspruch auf die ganze Welt geht; christliches Missverständnis ist, dass Gott in den Rache- und Feindpsalmen als gewalttätig vorgestellt wird und nicht auf die Forderung der solidarischen Gerechtigkeit Gottes gehört wird. Gottes Gericht hat überhaupt nichts mit sadistischen, destruktiven Gewalttätigkeiten zu tun. Im Gericht Gottes geht es um die Gerechtigkeit, die den Opfern widerfahren wird und darum, dass das Gemeinwesen im Sinn biblischer Gerechtigkeit austariert wird: Dem Recht auf Umkehr wird Recht eingeräumt! In den Feindpsalmen schreien die Opfer das ihnen angetane Unrecht heraus und konfrontieren Gott mit diesem Unrecht und fordern von ihm nichts anderes, als dass er sich selbst gerecht verhält. Gott ist kein Gott der Rache, sondern ahndet Unrecht, was m.E. ein bedeutender Unterschied darstellt, denn das Eine ist eine Wesensaussage, das Andere ist ein Wirkaussage. Das semantische Problem stellt sich also beim hebr. Begriff „neqama“, was im Deutschen mit Rache wiedergegeben wird, was irreführend ist. Gemeint ist eine spezifische Konstruktion des Rechts bzw. der Bewahrung des Rechts. Gott wird durch das menschliche Unrecht selbst infragegestellt, so dass er um seines Namens willen für Recht sorgen muss. Die Feindpsalmen dämonisieren den Feind nicht als Bestandteil einer Achse des Bösen, sondern sie benennen sehr konkret die Gewaltmechanismen, die zwischen Menschen existieren. Der Terror und die Gewalttaten werden beim Namen genannt und destruktive Gewalt wird nicht verharmlost. In der Dynamik der Betenden wird jedoch auch der eigene Anteil des Betenden am Netz der Gewalt deutlich, so dass die Hoffnung auf Umkehr auch den Betenden selbst betrifft. In der Poesie der Psalmen wird an Gott, dem Gerechten, festgehalten, auch wenn alles gegen ihn zu sprechen scheint.
Bücher
von Amazon - direkt bei uns! |
||||
|
||||
In
Deutschland ab 20 € versandkostenfrei! |
![]() |