von Stephanie Westwood
Bertha
Pappenheim kann als eine bedeutende Kämpferin für die Rechte der Frau
und eine besonders das jüdische Frauenbild in der ersten Hälfte des
20. Jahrhunderts prägende Persönlichkeit gesehen werden. Dennoch ist
„eine angemessene Würdigung von Bertha Pappenheims Leben und Werk
[...] bisher nach 1945 nicht erfolgt.“
Die zu Bertha Pappenheim erschienenen Publikationen befassen sich in erster
Linie mit ihrer ersten Lebensphase, in der sie Patientin des Wiener Arztes und
Kollegen von Sigmund Freud, Dr. Breuer, war, und als an Hysterie erkrankte „Anna
O.“ in die Geschichte der Entwicklung der Psychoanalyse einging. Ihr Lebenswerk
als Führungspersönlichkeit der jüdischen Frauenbewegung wird
entweder falsch dargestellt, da einseitig von ihrer frühen Krankheitsgeschichte
her interpretiert, oder nur am Rande erwähnt.
Der vorliegende Aufsatz soll einen kleinen Beitrag leisten zur Richtigstellung
dieses einseitigen und verzerrten Bildes und zugleich die beeindruckende Persönlichkeit
Bertha Pappenheims sowie ihr Lebenswerk kurz vorstellen.
Bertha Pappenheim wurde am 27. Februar 1859 als dritte Tochter einer wohlhabenden jüdischen Familie geboren. Ihr Vater stammte aus einer streng orthodoxen Familie und war von Beruf Kaufmann, die Mutter kam aus einer alteingesessenen Familie aus Frankfurt am Main.
Bertha Pappenheim musste mit sechzehn Jahren die Schule verlassen und lebte dann das typische Leben einer „höheren Tochter“ aus gutbürgerlichem, jüdisch-orthodoxem Hause: Sie erging sich in häuslichen Pflichten und typisch weiblichen Beschäftigungen wie Sticken; sich intellektuell bilden „durfte“ sie nun nicht mehr, sondern sollte sich auf die von ihr erwartete zukünftige Rolle als Ehefrau vorbereiten, wodurch sie geistig völlig verarmte. Als ihr Vater erkrankte, war es selbstverständlich, dass sie ihn pflegen würde. Dabei verausgabte sie sich so, dass sie selbst krank wurde. Der hinzugezogene Arzt Dr. Joseph Breuer diagnostizierte „Hysterie“. Dies sollte der Anfang der später berühmt gewordenen Krankheitsgeschichte der „Anna O.“ werden. Dr. Breuer behandelte Bertha Pappenheim von 1880 bis 1882 und berichtete seinem Wiener Kollegen Sigmund Freud von dem Fall, der ihr das Pseudonym „Anna O.“ gab und sie oftmals in seinen Studien zur Hysterie als Beispiel heranzog, ohne sie selbst jemals getroffen zu haben.
Um der Monotonie ihres Alltags zu entgehen, hatte „Anna O.“ sich quasi einen zweiten Bewusstseinszustand zugelegt, der aus Tagträumen bestand, die die Patientin als „Privattheater“ bezeichnete. Ihre Tagträume nahmen aber mit der Zeit pathologische Züge an und können wohl, mit Sibylle Dudas Worten, als Sprache ihrer „kognitive[n], emotionalen[n] und soziale[n] Unterdrückung“ angesehen werden. So erfüllte „Anna O.“ zwar einerseits die an sie gestellten Erwartungen als pflichtbewusste Tochter, war aber zugleich geistig unterfordert und körperlich überfordert durch die selbstlose Pflege ihres Vaters. Ihr Krankheitsbild war äußerst vielschichtig und reichte von Sprachstörungen über Lähmungen mehrerer Gliedmaßen bis hin zu Halluzinationen und schizophrenen Bewußtseinsstörungen.
Zusammen
mit ihrem Arzt Dr. Breuer entwickelte sie die sogenannte „talking cure,“
eine Behandlungsart, bei der die Patientin über belastende Erlebnisse und
Zustände der Vergangenheit spricht und durch das nochmalige Durchleben
der damaligen, die Krankheit auslösenden Situationen Besserung findet.
Heilen konnte Dr. Breuer „Anna O.“ allerdings nicht: Erst sieben
Jahre nach Abschluß der Behandlung (Breuer hatte seine Patientin aufgrund
der Eifersucht seiner Frau auf die junge und attraktive Frau nicht weiter behandelt),
nach zahlreichen Rückfällen und Aufenthalten in Sanatorien schaffte
es „Anna O.“ durch einen Ortswechsel, unter völlig neuen Lebensbedingungen
ihr zweites, völlig vom ersten abgetrenntes Leben als Bertha Pappenheim,
der zentralen Figur der jüdischen Frauenbewegung in den ersten drei Jahrzehnten
des 20. Jahrhunderts, zu beginnen: Sie zog mit ihrer inzwischen verwitweten
Mutter in deren Geburtsstadt Frankfurt am Main und widmete sich fortan sozialen
Tätigkeiten, die bald ihr ganzes Leben ausfüllen sollten.
Es ist schwierig, zwischen ihrem ersten Leben als zunächst pflichtbewusstem
und dann aber mehr und mehr durch Krankheit gezeichneten Mädchen und der
selbstbewußten Kämpferin für die Rechte der jüdischen Frauen
eine durchgängige Linie zu ziehen, zumal Bertha Pappenheim in ihrem späteren,
„zweiten“ Leben ihre Krankheit stets verschwiegen hat.
Nachdem die Identität der „Anna O.“ von dem Sigmund-Freud-Biographen
Ernest Jones im Jahr 1953 enthüllt worden war, erschienen in den 1960er
und 1970er Jahren zahlreiche Schriften von Psychologen, die versuchten, ihren
Feminismus als eine andere Erscheinungsform der früheren Krankheit „Hysterie“
oder als unterdrückte Sexualität darzustellen. Solche Versuche sind
sicher mit Vorsicht zu betrachten, da sie die Gefahr in sich bergen, das Lebenswerk
der Frauenrechtlerin als pathologische Erscheinung herabzuqualifizieren. Gewisse
Charaktereigenschaften, wie Willensstärke und soziales Verantwortungsgefühl
lassen sich jedoch wie ein roter Faden durch ihr ganzes Leben hindurch beobachten.
Allgemein kann man feststellen, daß Bertha Pappenheim sich durch ihre
Krankheit, sei es bewusst oder unbewusst, der traditionellen Frauenrolle entzogen
zu haben scheint: Sie war bis zu ihrem 29. Lebensjahr krank und hatte so zum
Zeitpunkt ihrer Genesung, wie Sibylle Duda richtig bemerkt, das damals in ihren
Kreisen gängige heiratsfähige Alter überschritten. Somit wurde
sie „frei“ für andere Aufgaben. Dies war der Anfang ihres „zweiten“
Lebens.
In Wien publizierte sie zunächst unter dem Pseudonym Paul Berthold Märchen und Novellen und übersetzte 1899 das Buch der englischen Feministin Mary Wollstonecraft (1759-1797) Vindication of the Rights of Women ins Deutsche. Die Gedanken Mary Wollstonecrafts zur Gleichstellung und Ausbildung der Frau scheinen sie nachhaltig beeinflusst zu haben.
In von ihr verfaßten Artikeln und einem Schauspiel mit dem Titel Frauenrechte
(1899) aus dieser frühen Frankfurter Zeit greift sie soziale und feministische
Fragestellungen auf, sicherlich auch inspiriert von der in den neunziger Jahren
des 19. Jahrhunderts aufkommenden Frauenbewegung in Deutschland.
Ihre Arbeit in der jüdischen Gemeinde in Frankfurt lenkte ihr Interesse
auf die Stellung speziell der jüdischen Frau. 1890 arbeitet sie ehrenamtlich
in einer Suppenküche für jüdische Ostflüchtlinge. In dieser
Zeit organisierte sie auch Nähkurse, gründete einen jüdischen
Kindergarten und einen Mädchenverein. 1895 übernahm sie die Leitung
eines jüdischen Waisenhauses; eine Stellung, die sie zwölf Jahre innehaben
sollte. Seit der Jahrhundertwende widmete sie sich dem Schicksal jüdischer
Frauen aus Galizien, Polen und Russland, die in ihren Heimatländern, in
Deutschland, aber auch anderen Ländern als Prostituierte ihr Dasein fristeten.
Sie besuchte über Jahrzehnte alle Konferenzen zum Thema Mädchenhandel
und Prostitution, leistete selbst unermüdlich Aufklärungsarbeit zu
diesem in der Öffentlichkeit weitgehend tabuisierten Thema und bereiste
die Länder, aus denen die meisten Prostituierten stammten, um sich von
der wirtschaftlich und sozial schlechten Ausgangssituation der oft naiven und
ungebildeten Mädchen selbst ein Bild zu machen. Nachdem sie Anfang des
Jahrhunderts durch die Flugschriften Zur Judenfrage in Galizien und Zur Lage
der jüdischen Bevölkerung in Galizien auf das Elend der Mädchen
aufmerksam gemacht hatte, fasste sie die Ergebnisse ihrer Arbeit in dem zweibändigen
Buch Sisyphus-Arbeit zusammen.
Bertha Pappenheim konzentrierte sich im Kampf gegen die Unmoral auf jüdische
Kreise und wurde dabei von der männlichen intellektuellen und geistlichen
jüdischen Oberschicht eher kritisch beäugt; bei ihren Anhängern
galt sie jedoch unumstritten als „Vorkämpferin und Kennerin auf diesen
dunklen Gebieten“ und „Stimme des jüdischen Gewissens.“
Ein Hauptgrund für das Vertuschen-Wollen der jüdischen Beteiligung
am Mädchenhandel war in jüdischen Kreisen die Angst, dass durch das
Bekanntwerden der Zustände antisemitische Tendenzen geschürt werden
könnten. Tatsächlich benutzten die Nationalsozialisten 1935 frühe
Aufsätze Bertha Pappenheims über die Beteiligung der Juden am Mädchenhandel,
um in Der Stürmer die antisemitische Hetze in Deutschland zu untermauern.
Dieses
Argument des möglichen Schürens des Antisemitismus hatte Bertha Pappenheim
nie akzeptiert. So gelte es, die Behauptung, der Mädchenhandel sei „ein
jüdisches Gewerbe“ entweder „als feindselig übertrieben
nachzuweisen“ oder „freimütig zu[zu]geben und ab[zu]helfen.“
Sie forderte die Solidarität aller Juden im Kampf gegen die jüdische
Beteiligung am Mädchenhandel. Sie fordert besonders von den jüdische
Frauen mit „moralische[m] Mut“ die schlimmen Zustände aufzudecken.
Bald muss sie aber die Aussichtslosigkeit der umfassenden Bekämpfung dieses
gesellschaftlichen Phänomens erkennen, wie der Buchtitel Sisyphus bezeugt,
ebenso ihre Bezeichnung ihrer Arbeit als „Kampf gegen Windmühlen.“
1902 gründete sie den Verein Weibliche Fürsorge in Frankfurt. Im Gegensatz
zu traditionellen Wohlfahrtsverbänden hoffte Bertha Pappenheim, mit diesem
Verein moderne, sozialwissenschaftliche Methoden wie Fallstudien, Statistiken
und effektive Organisation, wie sie die bürgerliche deutsche Frauenbewegung
anwandte, mit den speziellen Bedürfnissen jüdischer Bedürftiger
verbinden zu können. Im selben Jahr schrieb sie eine Novelle mit dem Titel
Der Schwächling, die sich mit dem von ihr nicht gebilligten, aber häufig
vorkommenden Phänomen der Konversion von Juden zum Christentum auseinandersetzt.
1904 gründete sie den Jüdischen Frauenbund (JFB), wurde Vorsitzende
des 1929 50 000 Mitglieder zählenden Vereins und prägte dessen Arbeit
bis zu ihrem Tode und noch darüber hinaus. Der Verein war die Erfüllung
ihres Wunsches nach einem überregional organisierten und von Frauen geleiteten
Verein, der von Männern geleiteten Vereinen gleichgestellt sein und sich
speziell für die Not jüdischer Menschen sowie die Erhaltung des jüdischen
Kulturguts einsetzen sollte. In den Blättern des JFB veröffentlichte
sie zahlreiche Artikel zu sozialen und ethisch-reilgiösen Fragen sowie
Berichte über Reisen in soziale Brennpunkte und über Konferenzen und
Projekte.
Bertha Pappenheim bemühte sich, jüdische Identität und emanzipatorische
Gedanken, wie sie zu Beginn des 20. Jahrhunderts von der Frauenbewegung ausgingen,
im JFB zu vereinen: So schreibt sie schon 1901 in dem frühen Aufsatz „Die
„Immoralität der Galizierinnen:““„Vielleicht haben
sie zwischen meinen Erörterungen die verzweigten Wurzeln der Frauenfrage
gesehen, vielleicht auch in dämmriger Ferne die Ziele der Frauenbewegung.“
Die Rolle der jüdischen Frau ist zugleich religiös geprägt;
ihr Wirken nennt Bertha Pappenheim „heilige Kleinarbeit:“ Es ist
die jüdische Frau, die verantwortlich für den Erhalt jüdischen
Lebens innerhalb der Familie ist: „[...] die jüdische Mutter lasse
diese Gedanken lebendig werden in der jüdischen Familie.“ Sie vergleicht
den von der Frau gepflegten jüdischen Geist in einem Haus mit einem Licht,
das jüdische Haushalte seit der Zeit Sarahs erleuchtet hat und dies auch
in Zukunft tun soll: „Auch über dem Zelt der jüdischen Frau
von heute soll ein Licht sein, und durch ihre Nachkommen soll es sich immer
wieder entzünden.“ Sie schafft also eine enge Verbindung zwischen
der jüdischen Frau und der religiös-spirituellen Durchdringung der
Familie, die innerhalb der jüdischen Gemeinschaft Kontinuität und
Stärke schafft und gleichzeitig Schutz vor der feindlichen Umgebung spendet.
So ist die Gründung des JFB 1904 auch eine Form der jüdischen Reaktion
auf den aufkommenden Antisemitismus.
1907 gründete sie ein Heim für Waisenkinder, gefährdete Mädchen und uneheliche Mütter in Neu-Isenburg bei Frankfurt, das sie auch finanziell aus ihrem privaten Vermögen stützte. Hier waren für Bertha Pappenheim konkrete Erfolge des von ihr vertretenen Konzeptes der „sozialen Mutterschaft,“ der von der rein biologischen Mutterschaft abgetrennten Aufgabe einer jeden Frau, für bedürftige Kinder zu sorgen, erkennbar: In Neu-Isenburg konnte vielen Müttern und Kindern deutlich sichtbar geholfen werden; im Gegensatz zu dem Kampf gegen den Mädchenhandel, den Bertha Pappenheim selbst als „Sisyphus-Arbeit“ bezeichnet hatte.
Nicht nur ermöglichte sie, in Not geratenen jüdischen Mitmenschen
ein neues Zuhause in Neu-Isenburg zu finden, sondern sie bereicherte das Leben
der Heimbewohner, indem sie persönlich für die geistig-spirituelle
Durchdringung des gesamten Heimlebens durch jüdischen Glauben, jüdische
Kultur und Tradition sorgte.
Ihr Interesse an jüdischer Kultur zeigt sich auch in der Tatsache, dass
sie jiddische Schriften wie die Memoiren der Glückel von Hameln, die Lebensgeschichte
der tapferen und gläubigen Jüdin Glückel (1645-1724), Mutter
von dreizehn Kindern und entfernte Verwandte von Bertha Pappenheim, ins Deutsche
übersetzte, um sie den deutschen Juden, die oft kein Jiddisch mehr verstanden,
zugänglich zu machen. Weiter übersetzte sie das Massebuch, eine Sammlung
mittelalterlicher Volkssagen sowie Erzählungen aus der Bibel und dem Talmud
und das Zenne-Renne-Buch, eine Frauenbibel und Paraphrase der Thora, sowie weiterer
alttestamentlicher Schriften.
In zahlreichen Erzählungen setzt sie sich mit den Themen Konversion zum
Christentum, jüdisches Leben in Osteuropa und Antisemitismus auseinander.
In dem Theaterstück Tragische Momente (1913) thematisiert sie ihre ablehnenden
Einstellung zum Zionismus.
Seit 1917 war sie eines der führenden Mitglieder der Zentralwohlfahrtsstelle
der Juden in Deutschland.
Sie war bis ins hohe Alter im Dienste der „sozialen Mütterlichkeit“
tätig; diesen Begriff prägte Bertha Pappenheim. Er beschreibt die
von ihr angemahnte Verpflichtung, die alle jüdischen Frauen, unabhängig
von ihrer biologischen Mutterschaft, ihrer Meinung nach haben: nämlich
für alle jüdischen Kinder auf der ganzen Welt zu sorgen.
Ihr Plan, eine „Weltsammelvormundschaft“ zum Schutz verlassener
und vernachlässigter jüdischer Kinder ins Leben zu rufen, die die
Kinder effektiver schützen sollte als Pflege- und Adoptiveltern dies leisten
können, schlug fehl, obwohl sich der JFB mit ihren Plänen zumindest
in der Theorie auseinandergesetzt hatte.
Die von den Nationalsozialisten ausgehende Gefahr unterschätzte sie lange.
Sie schlug als Schutzmaßnahme den Rückzug in die jüdischen Religion
und Kultur vor; so etwa in der Erzählung Die Erbschaft (1933), die von
einem getauften jüdischen Professor handelt, der zum jüdischen Glauben
zurückkehrt. Sie sah sich, wie viele Juden, durch die Verfassung geschützt
und verstand sich, trotz der Wahrung der jüdischen Identität, zugleich
als Deutsche.
Sie forderte von den im in zunehmendem Maße vom Nationalsozialismus geprägten
Deutschland lebenden Juden, eine defensive Haltung der feindlichen Umwelt gegenüber
anzunehmen: So verlangte sie von den deutschen Juden „in stärkster
Selbstbesinnung äußerste Zurückhaltung zu üben,“
„weise[] Ueberlegung [sic!]“ und „besonnene[] Bescheidenheit“
an den Tag zu legen, und weiter: “Wir wollen alles vermeiden, was Aufsehen
erregt und aufreizend wirkt, und was den besten Kulturforderungen widerspricht:
in Sprache und Ton, in Kleidung und Auftreten [...];“ es sei eine „Pflicht,“
die „oft zu selbstbewußte Jugend zu Hemmungen zu erziehen.“
Die äußere Zurückhaltung und abwartende Haltung soll von einer
verstärkten Hinwendung zum jüdischen Leben und zur Familie begleitet
werden:
Abgewogene Rede in mäßigem Tone werde uns zur Gewohnheit; abwartendes
maßvolles Verhalten in der Beurteilung geistiger Werte, Respekt vor unserer
eigenen alten Kultur wollen wir von uns verlangen, und die nächste Zeit,
die uns bewußt von Theater und Kino, Festlichkeiten, Vergnügungen,
öffentlichen Lokalen, Stätten lauter Freude und Luxusorten fernhalten
soll, soll uns auch die Zeit sein, die unsere Familienbindungen und religiösen
Leben wieder stärkt, im Alltag, an Sabbat und Festtagen [...].
Diesem Rückzug aus dem gesellschaftlichen Leben kann sie, trotz „von
außen [gebrachter] Entwürdigung und Schmach“ dennoch etwas
Positives abgewinnen: so kann die durch den Rückzug gewonnene „Zeit
und Kraft“ zum „Dienst [am] Nächsten“ genutzt werden,
was „eine ungeahnte Entwicklung der Persönlichkeit bringen [kann]“
und die Zeit kann „zu einer Zeit der Selbstachtung, der religiösen
Verinnerlichung und der würdigen Selbstbestimmung werden [...].“
Sie fordert also einen Rückzug in die innere Emigration des jüdischen
Lebens, eine Belebung kulturellen und spirituellen Daseins als Juden und soziale
Verantwortung für die Gemeinschaft durch Dienst am Nächsten. Nach
außen gerichtet fordert sie eine defensive, abwartende Haltung, ohne jegliche
Anzeichen für die Aufforderung zu irgendwelcher Aktivität wie etwa
politischem Aktivismus oder für die Aufforderung zur Auswanderung.
Die regelmäßige Besucherin der „Dienstag-Abend-Einladungen“
bei Bertha Pappenheim im Neu-Isenburger Kinderheim, Sara Eisenstädt, erinnert
sich 1936 in einem Nachruf auf Bertha Pappenheim an ein Gespräch, bei dem
Bertha Pappenheims Einstellung zur Frage des (Wohn-) Raums für Juden klar
wird: „“Wir sind nicht im Ghetto“, [Sara Eisenstädt zitiert
hier Bertha Pappenheim] und auf unseren Einwand: „Fräulein Pappenheim,
wir Juden haben keinen Raum“, deren Antwort: „Wir brauchen keinen
Raum, wir haben einen geistigen Raum, und der ist unbegrenzt.“ Sara Eisenstädt
schreibt weiter: „Nach diesem Ausspruch ist verständlich, warum diese
Abende durch die Erlebnisse der letzten Jahre keine Veränderungen erfahren
haben.“
Dieses unbeirrte Ignorieren politischer Veränderungen und das Beharren
auf dem „geistigen Raum,“ der wenigstens innerliche Freiheit schenkt
und die Pflege jüdischen Lebens zumindest innerhalb der jüdischen
Gemeinschaft garantiert, sind bezeichnend für Bertha Pappenheims ablehnende
Haltung dem Zionismus gegenüber und für ihre tragische Fehleinschätzung
der Situation in Deutschland allgemein.
Ihre antizionistische Haltung bewahrte sie lebenslang. Ob ihre Reise nach Glasgow
1934, bei der sie, obwohl schon schwer krank, jüdische Kinder in ein dortiges
Kinderheim brachte, als Erkennen der Gefahr durch die Nationalsozialisten gedeutet
werden kann, ist unsicher. Kurz vor ihrem Tod wurde sie von der Gestapo verhört,
da eines der Kinder des Isenburger Heims sich angeblich abfällig über
Hitler geäußert hatte. Am 28. Mai 1936 starb sie in Isenburg.
In der sogenannten „Reichkristallnacht“ wurden zwei der vier Häuser
des Kinderheims in Neu-Isenburg zerstört und die Kinder in ein Frankfurter
Kinderheim gebracht; 1942 wurden die verbleibenden älteren Mädchen
und ihre Betreuerinnen in das Konzentrationslager Theresienstadt überführt.
Ihre Fehleinschätzung der Gefahr durch die Nationalsozialisten, die u.a. an ihrer ablehnenden Haltung gegenüber Zionismus und Auswanderung zu beobachten ist, gibt ihrem Lebensende zwar einerseits eine tragische Note, zeigt aber andererseits auch ihr beharrliches Festhalten an Wertvorstellungen, die ihr den größten Teil ihres Lebens zu eindrucksvollen Erfolgen ihrer Arbeit verholfen hat. So konnte sie zwar ihre globalen Ziele wie die Eliminierung des Mädchenhandels nicht umsetzen, veränderte jedoch durch „heilige Kleinarbeit,“ das im Glauben verankerte soziale Wirken, das Schicksal vieler Jüdinnen. Stets reflektierte sie ihr Tun und hatte eine Rolle als geistige Vorreiterin inne: So trug sie neben der Modernisierung der jüdischen Sozialarbeit zur Emanzipation der jüdischen Frau im zwanzigsten Jahrhundert bei. Sie sprach der Frau neben ihrer biologischen Mutterrolle als Hüterin kultureller und religiöser Tradition eine besondere Bedeutung innerhalb der jüdischen Gemeinschaft zu. Wie ihr Vorbild, die englische Feministin Mary Wollstonecraft, sah sie die beschriebene Schlüsselrolle der Frau als Kulturträgerin innerhalb der Familie als Legitimation für ihre Forderungen bzgl. gleichberechtigter Bildungschancen für Mann und Frau an sowie bzgl. der freien Entfaltung der Frau innerhalb ihres Lebensbereiches. Somit war sie maßgeblich beteiligt an der Schaffung eines neuen Bildes des jüdischen Frau, der als Trägerin von Kultur, Religion und moralischen Werten eine den Männern gleichgestellte Bedeutung zukommt.
Folgende Aussage Mary Wollstonecrafts klingt wie ein Motto von Bertha Pappenheims
Arbeit:
Es ist an der zeit, dass in weiblicher art und weiblichem wesen eine große
veränderung platz greife, an der zeit, den frauen ihre verlorene würde
wieder zu geben, ihnen ihre richtige stellung als mensch einzuräumen und
sie so auszubilden, dass sie an der verbesserung der welt teilnehmen können.
(I, 57).
Es scheint, als habe Bertha Pappenheim sich von den Anfragen Mary Wollstonecrafts
direkt angesprochen gefühlt und sich bemüht, in ihrem Schaffen den
Forderungen der frühen englischen Feministin gerecht zu werden.
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