Das Doppelgebot der Liebe

von Stefan Meißner

v.l.n.r.: David Seldner, Stefan Meißner, F.M.Hofmann

1. Das Doppelgebot der Liebe als Proprium des Christlichen?

„Christentum im vollen Sinne kann nicht sein ohne Gottes- und Nächstenliebe“, so heißt es in einem christlichen Evangelienkommentar. Und tatsächlich: Das Doppelgebot der Liebe gehört zum Urgestein der christlichen Glaubensüberlieferung. Es findet sich nicht nur in den drei synoptischen Evangelien, sondern auch in der Briefliteratur des NT (Gal 5,14; Röm 13,9; Jak 2,8). Diese breite Bezeugung macht es wahrscheinlich, dass es in seinem Kern auf den historischen Jesus zurück geht. Doch hat er dieses Gebot schwerlich selbst erfunden. Seine beiden Bestandteile finden sich bereits im AT und haben im späteren Judentum eine reiche Auslegungsgeschichte erfahren. Auch die Kombination der beiden Einzelelemente Gottes- und Nächstenliebe ist, wie wir später noch sehen werden, nicht erst durch Jesus erfolgt, sondern ist bereits im jüdischen Schrifttum nachzuweisen.

Das hinderte christliche Ausleger nicht, immer wieder das gegenüber dem Judentum Besondere am christlichen Liebengebot hervorzuheben. Nicht, dass Unterschiede zwischen christlicher und jüdischer Überlieferung a priori ausgeschlossen wären. Ein ehrlicher Dialog erfordert auch die Wahrnehmung von Fremdem, vielleicht sogar Trennendem. Was mich freilich stört, sind die fast zwanghaften Versuche, das Wesen des Christlichen auf Kosten des Judentums zu definieren. Oder sagen wir es deutlicher: Um die eigene christliche Identität in einem möglichst positiven Licht darzustellen, wird die jüdische Mutterreligion zu einer Karikatur verunstaltet, die mit dem wirklichen Judentum kaum mehr eine Ähnlichkeit hat. Diese Tendenz, die F.W. Marquardt einmal als „Identitätsbefangenheit“ bezeichnet hat, soll an zwei Kommentaren zum christlichen Liebesgebot kurz demonstriert werden.

Das erste Beispiel stammt aus einem Handbuch zum NT aus dem Jahr 1929. Es stammt nicht aus der Feder eines Antisemiten, sondern von zwei liberalen Religionswissenschaftlern (Johannes Weiß und William Bousset), die zum besten gehörten, was die christliche Bibelwissenschaft damals zu bieten hatte. In ihrer Auslegung von Mk 12 heißt es:

„....auch ein ehrlicher und nach dem Heil verlangender Schriftgelehrter konnte wissen, dass dies (das Gebot der Gottes- und der ächstenliebe; S.M.) die wichtigsten Gebote des alten Bundes waren, dass nicht jeder Buchstabe des Gesetzes, zumal das Zeremonial-Gesetz, gleich wichtig sei, wie diese großen religiösen und sittlichen Grundforderungen“ (gemeint sind die beiden Gebote der Gottes- und Nächstenliebe).

Er „konnte“ (!) es wissen. Der Folgesatz beginnt mit einem „Aber“, was deutlich macht, dass dieses Wissen (nach Ansicht der Verfasser) nur eine theoretische Möglichkeit darstellt, dass in der Praxis das Judentum defizitär blieb, dass also erst Jesus zur wahren Erkenntnis vordrang. Doch hören wir weiter:

„Aber die einzelnen ernsten Rabbinen haben nicht vermocht, diese Erkenntnis für die Welt fruchtbar zu machen; erst dadurch, dass Jesus für diese Anschauung eintrat, hat er gewissermaßen die Seele der alten Religion entdeckt, aus der Umklammerung einer tausendgliedrigen Gesetzes-Überlieferung befreit und ihren edelsten Gehalt in die neue Religion hinübergeführt. Der ganze Wust des Zeremonial-Gesetzes aber mit seinen zahllosen Einzelheiten ist damit zurückgedrängt und zum Absterben gezwungen“ (Die Schriften des NT, Bd.1, 1929, 186).

Das Judentum erscheint hier als die alte, ja im Grunde veraltete Religion, für die in der Weltgeschichte kein Platz mehr zu sein scheint. Denn was an dieser Religion edel und wertvoll war, ihre „Seele“, wurde durch Jesus von seinen nationalen Fesseln befreit und hinübergerettet ins Christentum. Der Rest ist dem Untergang geweiht, „zum Absterben gezwungen“.

Es liegen nicht einmal 10 Jahre zwischen diesem theologischen Abgesang auf das Judentum und der physischen Vernichtung von Jüdinnen und Juden durch den Nationalsozialismus. Obwohl die Autoren dieser Sätze diese schrecklichen Gräueltaten sicher verurteilt hätten, wäre es andererseits naiv, jeden Zusammenhang zu leugnen zwischen dem, was diese sagten und was jene später in die Tat umsetzten. Bousset und Weiß riefen nicht zum Völkermord auf, aber ist es sicher nicht zu viel gesagt, wenn wir vermuten: Solche Worte schwächten die Abwehrkräfte der deutschen Christenheit gegen das Gift eines Jahrhunderte alten Antijudaismus, der mit dem Rassenantisemitismus der Nazis damals eine unheilvolle Allianz einging. Der verbalen folgte die reale Hinrichtung der Juden und – Gott sei es geklagt - die Kirchen waren daran nicht unbeteiligt.

Nun sollte man meinen, diese Zeiten seien längst vorüber, die Theologie habe ihre Lehren aus den Ereignissen der Vergangenheit gezogen und ihr tendenziöses Zerrbild von Judentum korrigiert. Doch weit gefehlt. Bis in unsere Tage hält sich hartnäckig das Gerücht vom Judentum als einer verknöcherten Gesetzesreligion, in der der Kern des Gotteswillens durch ein Gestrüpp von Einzelgeboten überwuchert und unkenntlich gemacht wurde. So behauptet W. Schrage in seiner „Ethik des NT“ (1982), „dass ein Hauptkennzeichen jüdischer Ethik die Kasuistik und die Parzellierung des göttlichen Willens ist“ (62). Zwar erwähnt auch er Versuche, „über die Zersplitterung und Zerspaltenheit der ethischen Forderung hinauszukommen“, aber allen Ansätzen, über das nivellierende Vielerlei hinauszukommen, sei letztlich kein Erfolg beschieden (ebd.). So kommt Schrage zu dem Schluss: „Die Zusammenfassung des Gesetzes im Doppelgebot der Liebe ist wahrscheinlich eine Besonderheit der Verkündigung Jesu“ (ebd.).

Man achte auch hier auf die Sprache: „Kasuistik“, „Parzellierung“, „Zersplitterung“, „Zerspaltenheit“, nivellierendes Vielerlei“. Eine solche Charakteristik des Judentums ist nicht nur ahnungslos, sondern zugleich lieblos. Sie ist ahnungslos, weil sie die Fülle der Belege ignoriert, die es im rabbinischen wie im hellenistischen Judentum gibt für das Bestreben, die Tora auf ein oberstes Prinzip – ja, nun nicht (wie es im Christentum dann passiert ist) zu reduzieren, sondern: sie in ihm zusammenzufassen und inhaltlich zuzuspitzen. Diese Charakterisierung ist lieblos, weil sie völlig unbeeindruckt ist vom Selbstverständnis von Jüdinnen und Juden, die ein ganz anderes Bild ihres Glaubens entwerfen.

Um wenigstens einen Juden selbst zu Wort kommen zu lassen, möchte ich Leo Baeck zitieren, den großen Vertreter des Liberalen Judentums der Weimarer Zeit. In seinem Buch „Das Wesen des Judentums“ (1922) betont er, „dass wir in den Wegen Gottes wandeln sollen, indem wir Gutes üben, indem wir gerecht, barmherzig und liebevoll zu sein streben, wie der Ewige es ist. Was wir am Mitmenschen tun, ist Gottesdienst. Das Soziale ist hier Religiosität, und die Religiosität ein Soziales“ (214). Vorwürfen von christlicher Seite wie den gerade gehörten, hält er entgegen: Das Gebot der Nächstenliebe ist der „Innbegriff der Tora“, „das Gebot, in dem alles gegeben ist“ (ebd.). Es handle sich dabei „nicht um ein einzelnes Gebot“, sondern es stelle „den ganzen Reichtum dessen [dar], was Gott von uns verlangt“ (..), „den Innbegriff der Pflicht“ (213).

Noch immer glauben christliche Theologen das Judentum besser zu kennen als die Juden selbst. Dabei sind ihre Kenntnisse des klassisch-jüdischen Schrifttums allzu oft rudimentär. Die wenigen rabbinischen Zitate - oft ganz aus dem Zusammenhang gerissen -, die man zum Beleg der eigenen Position anführen kann, stammen häufig aus dem veralteten und tendenziösen Kommentar von Strack und Billerbeck - zwei christlichen Judaisten, die unter Fachleuten heute einen zweifelhaften Ruf genießen. Dieser Umstand lässt es mir geboten erscheinen, zunächst einige jüdische Quellen zu betrachten, bevor wir im NT übergehen. Das Ziel dabei muss angesichts der geäußerten Vorwürfe gegenüber dem Judentum ein doppeltes sein: Erstens soll gezeigt werden, dass es sehr wohl Versuche gibt, die Essenz der Tora in prägnanten Zusammenfassungen festzuhalten. Sodann soll die These von der angeblichen Analogielosigkeit des Liebesgebotes widerlegt werden. Erst zum Schluss wollen wir uns dem Doppelgebot selbst widmen, wie es uns in den synoptischen Evangelien in drei unterschiedlichen Fassungen entgegen tritt.

Eine erste Gruppe von Belegen fasst den Gehalt der Tora im ersten Dekaloggebot zusammen, wo es heißt: „Ich bin der Herr Dein Gott, der ich dich aus Ägyptenland, aus der Knechtschaft, geführt habe. Du sollst keine anderen Götter neben mir haben“ (Ex 20,2-3). Nicht umsonst steht dieses Gebot an der Spitze der 10 Gebote, die ihrerseits bereits einen frühen Versuch darstellen, den Menschen einen überschaubaren Katalog wichtiger ethischer Anweisungen an die Hand zu geben. Das erste, darin sind sich die meisten Ausleger einig, ist das wichtigste der 10 Gebote und damit der alttestamentlichen Ge- und Verbote überhaupt. Philo, ein jüdischer Zeitgenosse Jesu aus Alexandria, steht für viele andere Autoren, wenn er meint: „So wollen wir denn das erste und heiligste Gebot in uns befestigen, Einen für den höchsten Gott zu halten und zu verehren“ (Decal.. 65). Andere Juden wie Rabbi Akiva haben den Kern der Tora im Gebot der Nächstenliebe gesehen, von dem er gesagt haben soll: „Das ist ein großer Grundsatz in der Tora“ (Talmud Jeruschalmi, Nedarim 9,4; vgl. auch SLev 19,18). Schließlich gibt es bereits im Judentum Schriftsteller, die Gottes- und Nächstenliebe mit einander kombinieren. So schärft TestDan 5,3, ein: „Liebet den Herrn in eurem ganzen Leben und einander mit wahrhaftigem Herzen“ (ähnlich Test Iss 7,6). Der bereits erwähnte Philo spricht von „zwei Grundlehren, denen die zahllosen Einzellehren untergeordnet sind: in Bezug auf Gott das Gebot der Gottesverehrung und Frömmigkeit, in Bezug auf Menschen das der Menschenliebe und Gerechtigkeit“ (SpecLeg II,63). Diese Beispiele mögen deutlich machen, dass weder das Doppelgebot der Liebe noch seine einzelnen Bestandteile analogielos sind. Sie sind im Gegenteil im Judentum gut bezeugt als prägnante Zusammenfassungen des alttestamentlichen Gesetzes.

2. Das Doppelgebot der Liebe im Neuen Testament

Nach diesem kurzen Durchgang durch die jüdische Überlieferung wollen wir das Doppelgebot der Liebe im NT untersuchen. Wir werden uns dabei im wesentlichen an der Fassung des Mk-Evangeliums orientieren, dem ältesten der drei Synoptiker (um 70 n.Chr.). Von dort ausgehend werden dann auch andere Varianten (also Mt und Lk) in den Blick zu nehmen sein. Das Doppelgebot der Liebe wird formuliert als Antwort auf die Frage nach dem „höchsten Gebot“ (Mk 12,28b) bzw. dem „größten Gebot“ (Mt 22,36). Lukas, für eine heidenchristliche Leserschaft schreibend, lässt Jesu Gesprächspartner fragen: „Meister, was muss ich tun, damit ich das ewige Leben erbe?“ (Lk 10,25b). Hier scheinen mir Mk und Mt näher am ursprünglichen Wortlaut zu sein als Lk, für den das jüdische Gesetz keine aktuelle Bedeutung mehr zu haben scheint. Alle drei Evangelien sind sich im Grunde einig darin, dass es ein jüdischer Gesprächspartner war, der Jesus befragte, auch wenn sie die Person mit unterschiedlichen Begriffen beschreiben (Mk: Schriftgelehrter; Mt: Pharisäer/ Gesetzeskundiger; Lk: Gesetzeskundiger). Wir sehen also, bereits hier im NT, dass die Juden zur Zeit Jesu sehr wohl zu gewichten wussten zwischen den einzelnen Torageboten, dass von einem „nivellierenden Vielerlei“ nicht die Rede sein kann.

Die Antwort Jesu besteht bei Mk und Mt aus einer einer Kombination zweier atl. Zitate: „Dtn 6,5: „Du sollst den Herrn, deinen Gott lieben mit...“ (es folgt eine bei Mk u. Mt abweichende Aufzählung menschlicher Kräfte); Lev 19,18: „Du sollst deinen Nächsten lieben wie dich selbst“. Der ältere Text (Mk 12,29a) platziert vor dieses Doppelgebot noch die Gebetsanrede „Höre Israel“ (Dtn 6,4), die die Einheit und Einzigkeit Gottes betont. Dieses gebet wird von frommen Jüdinnen und Juden bis heute täglich gebetet. Es ist das Letzte, was ihm über die Lippen kommt, bevor er stirbt und seine Seele zu ihrem Schöpfer zurück kehrt. Die Antwort Jesu verrät also eine intime Kenntnis der jüdischen Gebets- und Glaubenspraxis und der jüdische Gesprächspartner scheint auch voll und ganz damit einverstanden zu sein: „Trefflich, Meister!“, lobt ihn der Schriftgelehrte bei Mk. Eine bemerkenswerte Harmonie in einem Evangelium, das zahlreiche Streitgespräche zwischen Jesus und Repräsentanten des Judentums überliefert hat. Bei Mt fehlt das Lob des Gesetzeslehrers, dessen ursprüngliche Absicht, Jesus zu versuchen (22,34), damit als gescheitert angesehen werden muss. Eine auffällige Abweichung bietet der Lk-Text, der nicht Jesus die Frage beantworten lässt, sondern den Schriftgelehrten selbst. Jesus hatte ihn dazu mit seiner Gegenfrage herausgefordert: „Was steht im Gesetz?“, wodurch auch bei Lk der Dialog den Charakter einer Gesetzesdiskussion annimmt.

Am grundsätzlichen Konsens zwischen Jesus und seinem Gesprächspartner ist kaum zu zweifeln. „Du bist nicht fern von der Gottesherrschaft“, bestätigt Jesus in der Mk-Version (12,34) seinem Gegenüber. Heißt „nicht fern“ wirklich, wie manche Ausleger meinen, „auf dem richtigen Weg, aber noch nicht angekommen“? Ich glaube, so skeptisch muss man nicht sein. Auch Lk lässt Jesus zustimmend antworten: „“Du hast recht geantwortet; tue das so wirst du leben!“ (10,28). Auch hier finden sich Exegeten, die bezweifeln, ob der jüdische Hörer des Wortes auch zum Täter wird. Doch dürfte dieser Zweifel eher von antijüdischen Ressentiments her rühren als von einer nüchternen Textbetrachtung.

3. Verengung der Nächstenliebe im Judentum?

Mit allen Mitteln sucht man einen Keil zwischen Jesus und dem Judentum zu treiben – aus dem durchsichtigen Motiv, den christlichen „Mehrwert“ sicher zu stellen. So hat man beispielsweise von einer Verengung des Begriffs des Nächsten im Judentum gesprochen. Während Jesus den Begriff des „Nächsten“ auf den Feind, und damit die ganze Menschheit, ausweitet, habe ihn das Judentum auf eigenen Volksgenossen eingeengt. Als Beleg für diese These dient häufig das Gleichnis vom Barmherzigen Samariter (10,25-37), das im Lk-Ev. unmittelbar auf das Doppelgebot folgt. Hier will der Gesetzeslehrer von Jesus wissen: „Wer ist denn mein Nächster?“. Jesus antwortet mit dem Gleichnis, mit dem er (in auffälliger Umkehrung der ursprünglichen Fragestellung) verdeutlicht: Der ungläubige Samariter, von dem man es am wenigsten erwartet hätte, ist dem Opfer am Wegrand zum Nächsten geworden. Priester und Levit hingegen haben versagt. Viele Ausleger haben darin einen Angriff auf das Judentum gesehen. Doch kritisiert wird hier allenfalls das damalige religiöse Establishment, nicht das Judentum als Ganzes.

Eine Verengung des Begriffes des Nächsten mag man bei Maimonides heraushören, wenn er in seinem großen Tora-Kommentar ("Mischne Tora") schreibt: "Jeder Einzelne hat die Pflicht, einen jeden Juden wie seinen eigenen Körper zu lieben, wie es heißt: Liebe deinen Nächsten wie dich selbst" (Gesetze der Erkenntnisse, 6,3). Doch auch im johanneischen Schrifttum wird die Nächstenliebe auf die Bruderliebereduziert. Es scheint in beiden Religionen, Christentum wie Judentum, immer wieder Tendenzen zu geben, das ursprüngliche Gebot in seinem Geltungsbereich einzuschränken. Ein Wesensmerkmal allein des Jüdischen scheint mir diese eher partikularistische Lesart hingegen nicht zu sein.

Eine Verengung des Begriff des Nächsten ist von vornherein ausgeschlossen, wenn man das Gebot der Nächstenliebe mit der allen Menschen gemeinsamen Gottesebenbildlichkeit begründet. Dieser Gedanke kommt zum Ausdruck in der Übersetzung der beiden jüdischen Religionsphilosophen M. Buber und F. Rosenzweig: „Liebe deinen Nächsten, denn er ist wie Du!“. Weil alle Menschen gleichermaßen nach Gottes Bilde geschaffen sind, - das ist hier die Pointe - ist jeder Mensch mein Nächster und soll von mir geliebt werden. Die Übersetzung ist hier unklar, weil das hebräische Wort "kamocha" in der Tat vieldeutig ist. Raw Jakow Zwi Meklenburg übersetzt hier übrigens noch einmal anders: "Liebe deinen Nächsten, so wie du es für dich ersehnst". Diese Deutung steht in der Nähe zur Goldenen Regel, wie Jesus sie in Übereinstimmung zu talmudischen Traditionen (bSchab 31a) formuliert hat (Mt 7,12).

Ein letzter Versuch, eine moralische Höherwertigkeit des Christentums gegenüber dem Judentum zu behaupten, bezieht sich auf das Gebot der Feindesliebe. Doch wenn Jesus in der Bergpredigt (Mt 5,43f.) sagt: „Ihr habt gehört, dass gesagt ist: "Du sollst deinen Nächsten lieben’ und deinen Feind hassen." Ich aber sage euch: "Liebt eure Feinde’“, ist das nicht als Korrektur eines Toragebots zu verstehen. Die Forderung, den Feind zu hassen, kennt das alttestamentliche Gesetz nämlich gar nicht. Es gibt sie allerdings in den Schriften der Qumran-Sekte vom Toten Meer (1QS 1,9f. u.ö.). Jesus korrigiert hier also nicht ein Toragebot, sondern ein mögliches Missverständnis desselben. Dass das Gebot der Nächstenliebe im Judentum der Zeit Jesu auch den Feind mit einschließt, mag ein Zitat des jüdischen Historikers dem Flavius Josephus verdeutlichen. In seinem Werk "Contra Apionem" (2,212-214) schreibt er:

"Die Pflicht des Teilens mit anderen wurde durch unseren Gesetzgeber auch in anderen Belangen eingeprägt. Wir müssen Feuer, Wasser und Essen zur Verfügung stellen für alle, die darum bitten. Wir müssen sogar erklärten Feinden den Weg zeigen, ihre Körper nicht unbegraben lassen und Anteilnahme zeigen. Gott erlaubt uns nicht, ihre Felder zu verbrennen und ihre Obstbäume zu fällen. Er verbietet sogar das Behelligen von gefallenen Kriegern. Er hat Maßnahmen getroffen, um Grobheiten an Kriegsgefangenen und besonders an Frauen zuvorzukommen. Eine derart gründliche Lektion in Freundlichkeit und Menschenliebe hat er uns gegeben, dass er sogar das einfache Vieh nicht übersieht. Er erlaubt dessen Nutzung nur in Übereinstimmung mit dem Gesetz und verbietet alle andere Verwendung desselben. Bei jedem einzelnen Wesen achtete er auf die Barmherzigkeit, indem er darüber ein Gesetz herausgab, um die Prinzipien durchzusetzen und um Übertreten ohne Entschuldigung strafen zu können."

Hier wird das Gebot der Nächstenliebe über die Forderung der Feindesliebe bis hin zum Gebot der Liebe und Barmherzigkeit gegenüber allen Mitgeschöpfen ausgeweitet. Kann ein Liebesgebot offener und umfassender formuliert sein als hier? Vergeblich sucht man in vielen christlichen Lehrbüchern qualifizierte Ausführungen zu einer Tierethik. Die Ethik des NT von Schrage stellt hier übrigens keine Ausnahme dar. Worauf beruft sich also der Anspruch des Christentums auf eine moralische Höherwertigkeit? Das Doppelgebot der Liebe, wie Jesus es formuliert hat, ist durch und durch jüdisch. Hier einen Gegensatz zum Judentum zu konstruieren zu wollen, ist völlig abwegig. Jeder Versuch des Christentums, seine eigene Identität auf Kosten der jüdischen Mutterreligion definieren zu wollen, ist verfehlt. Wir Christen sollten nach 2000 Jahren endlich lernen, zu sagen, wer wir sind und was wir wollen, ohne den Glauben unserer jüdischen Brüdern und Schwestern damit herabzuwürdigen. Sind wir dazu heute noch immer nicht in der Lage, haben wir die Lehren aus Auschwitz noch nicht verstanden.

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Literatur:
L. Baeck: Das Wesen des Judentums, II,2b („Der Glaube an den Nebenmenschen“)
G.Theißen/A.Merz: Der historische Jesus, §12.5. („Das Liebesgebot als Zentrum der Ethik Jesu“), weitere Lit. dort!

Links:
http://www.christen-und-juden.de/html/seldner.htm
http://religion.orf.at/projekt02/religionen/judentum/fachartikel/re_ju_fa_fremde_schuldner.htm#3
http://www.hagalil.com/judentum/torah/zwi-braun/kedoschim-0.htm