von Göran Larsson
Toraschild Synagoge Mainz
Das Schadensgesetz im Buch Exodus
" Entsteht ein dauernder Schaden, so sollst
du geben Leben um Leben, 21,24 Auge um Auge, Zahn um Zahn, Hand um Hand,
Fuß um Fuß, 21,25 Brandmal um Brandmal, Beule um Beule,
Wunde um Wunde."
(2 Mose 21,23 a )
Zunächst geht es um den Fall einer Körperverletzung während
einer Auseinandersetzung: Der Täter ist haftbar zu machen und hat
für die Zahlung des durch Lohnverlust und Arztkosten entstandenen
Schadens aufzukommen.... Der nächste Fall dreht sich um eine Schwangere,
die infolge eines Traumas eine Frühgeburt erlitten hat. Ihr wird
eine Entschädigung zugesprochen, auch wenn sie und das Kind keinerlei
bleibenden Schaden davongetragen haben...
Das darauf folgende Strafprinzip ist wohl das bekannteste, meist diskutierte
und mißverstandene der gesamten Bibel. Es wird manchmal als "Vergeltungsgesetz"
oder, in juristischer Fachsprache, als ius (oder lex) talionis, nach dem
lateinischen Wort für "Gesetz" und talio, d.h. Vergeltung,
bezeichnet. "Auge für Auge, Zahn für Zahn" ist für
viele Menschen die knappe Wesensbeschreibung des sogenannten alttestamentlichen
Gottes und einer der Gründe für die Charakterisierung des Alten
Testaments und der jüdischen Ethik als hart, brutal und unmenschlich.
Dieses Gesetz hat endlose antijüdische Ausbrüche auf den Kirchenkanzeln
und in der theologischen Literatur entfacht. Es ist auch die Grundlage
für Shakespeares Shylock in "Der Kaufmann von Venedig",
einem boshaften Porträt, das den Massen für viele Jahrhunderte
das Image des mythologischen, habgierigen Juden und seines angeblich unbeugsamen,
harten Gerechtigkeitsverständnisses eingeprägt hat...
In der Bibel und in jüdischer Tradition
Ungeachtet des Prinzips "Auge für Auge, Zahn für Zahn"
ist die Verstümmelung eine praktisch in der Bibel unbekannte Bestrafung.
Nur an einer Textstelle wird eine derartige Strafmaßnahme erwähnt:
Dtn. 25,11-12. In diesem Fall gelangt jedoch offensichtlich nicht die
Regel "Auge für Auge, Zahn für Zahn"... zur Anwendung.
In jüdischer Tradition geht es bei "Auge für Auge, Zahn
für Zahn" ausschließlich um finanzielle Kompensation und
nichts anderes. Es gibt verschiedene Gründe, warum diese Interpretation
das Vergeltungsprinzip (wenn dies überhaupt jemals zur Anwendung
gelangte) ersetzt hat. Rabbinische Kommentare führen ebenso biblische
wie humanitäre Argumente an, um nachzuweisen, daß die wortwörtliche
Anwendung dieses Gesetzes unbiblisch, ungerecht, absurd und unmöglich
ist.
Die Auslegung des Schadensgesetzes im Talmud
"Wer seinem Nächsten eine Verletzung zufügt,
ist ihm hinsichtlich von fünf Dingen (Ersatz) schuldig: Schadensersatz,
Schmerzensgeld, Kurkosten, Versäumnisgeld und Beschämungsgeld.... Rabbi
Dostai ben Jehuda sagte: "Auge für Auge: eine Geldentschädigung!"
- (Gegenrede:) "Du sagst: Geldentschädigung. Oder nicht doch vielleicht
das wirkliche Auge?" - (Entgegnung Dostais:) "Siehe, wenn
das Auge des einen (des Verletzten) groß war und das Auge des anderen
(des Verletzers) klein ist, wie kann man dann das Schriftwort aufrechterhalten
’Auge für Auge’?" ... "Für das Leben eines Mörders darf man
kein Lösegeld nehmen (vgl. 4. Mose 35,31), aber man darf für nicht nachwachsende,
vorstehende Gliedmaßen Lösegeld annehmen."
(bBK 83a/b)
Im Hinblick auf den sprachlichen Aspekt des Problems gilt festzuhalten,
daß die hebräische Präposition, die mit "für"
in "Auge für Auge" (tachat) übersetzt wird, auch "anstelle
von" und "als Entschädigung für" übersetzt
werden kann (siehe z.B. Gen. 4,25). Gleiches gilt für die griechische
Präposition anti, die in der Septuaginta verwendet wird.
Die Regel erscheint darüber hinaus in einem breiteren Kontext, in
dem es um Schaden und Beschädigungen, nicht um Vergeltung geht (siehe
21,18-22, 26-36). In Ex. 21,26-27 ist ganz eindeutig, daß der Verlust
des Auges und des Zahns zu einer Entschädigung führt, mit anderen
Worten, der Sklave muß freigelassen werden. Man kann dieses Prinzip
der Entschädigung daher auch mit Recht verallgemeinern und auf die
vorangehenden Verse beziehen.
Auch in Lev. 24,17-21 kann eine Verbindung zwischen dem Gesetz ("Auge
für Auge, Zahn für Zahn") und der Kompensation im Schadensfall
erkannt werden. Im Vers 18 bringt die Wendung "Leben für Leben"
das Prinzip zum Ausdruck, daß jemand, der ein Stück Vieh aus
der Herde eines anderen tötet, eine Entschädigung zahlen muß.
In Vers 21 wird weiterhin betont, daß die Regel der Entschädigung
nur bei der Tötung eines Tieres zur Anwendung gelangt, nicht im Falle
eines Mordes an Menschen. Menschliches Leben ist jenseits jeden materiellen
Wertes, für den eine Entschädigung geleistet werden kann. In
gleicher Weise legt Num 35,31 fest, daß es kein Lösegeld "für
das Leben eines Mörders" gibt. Hieraus kann abgeleitet werden,
daß die Bibel die Möglichkeit offenläßt, in allen
anderen Fällen eine Entschädigung zu zahlen, d.h. in Fällen,
in denen es ausschließlich um Körperverletzung geht.
Die Rabbiner betonen darüber hinaus, daß es ungerecht und unmöglich
ist, "Auge für Auge" wörtlich anzuwenden. Ungerecht,
da das Auge und jeder andere Körperteil von individueller Bedeutung
für jeden Einzelnen ist. Die Bestrafung, z.B., wäre unfair,
wenn sie an einer Person vollzogen wird, die bereits auf einem Auge blind
ist, und es wäre übermäßig hart für eine behinderte
Person, ein Bein oder eine Hand zu verlieren. Der Schaden, der durch verschiedene
Verletzungen verursacht wird, hängt weiterhin auch mit dem Beruf
eines Menschen zusammen. Die Hand ist für einen Handwerker naturgemäß
wichtiger als für einen Lehrer. Mit anderen Worten: Dem strikten
Gerechtigkeitswillen des Gebotes würde durch eine wörtliche
Interpretation und Anwendung nicht entsprochen werden...
Es sollte schließlich auch betont werden, daß "Auge für
Auge" niemals zur Rechtfertigung privater Vergeltung angewendet werden
kann. Dies leitet sich aus dem einfachen, aber grundsätzlichen Prinzip
der Interpretation der Schrift durch die Schrift ab. Das Liebesgebot in
Lev. 19,18 wird durch das Verbot eingeleitet "Du sollst dich nicht
rächen, noch Zorn bewahren." Es wird hier eindeutig, daß
"Auge für Auge" nicht für jemanden gilt, der eine
Verletzung erlitten, sondern für jemanden, der sie zugefügt
hat. Wir könnten sogar sagen, das biblische Gebot ist die Grundlage
der goldenen Regel: "Alles nun, was ihr wollt, daß euch die
Leute tun sollen, das tut ihnen auch! Das ist das Gesetz und die Propheten."
(Mt. 7,12)
Trotzdem wurde in späteren Zeiten der Grundsatz "Auge für
Auge, Zahn für Zahn" für viele Christen zum Inbegriff jüdischen
Gesetzes und jüdischer Ethik, ein Prinzip, das als Rechtfertigung
für Vergeltung und Rache galt. Hauptursache dafür ist ohne Zweifel
die Art und Weise, in der der Vers in der Bergpredigt zitiert wird: "Ihr
habt gehört, daß gesagt worden ist: 'Auge für Auge, Zahn
für Zahn'. Ich aber sage euch: Leistet dem, der euch etwas Böses
antut, keinen Widerstand." (Mt. 5,38 -39)
Aus den sog. Antithesen der Bergpredigt
5,38 Ihr habt gehört, daß gesagt ist (2.
Mose 21,24): «Auge um Auge, Zahn um Zahn.» 5,39 Ich aber sage
euch, daß ihr nicht widerstreben sollt dem Übel, sondern: wenn
dich jemand auf deine rechte Backe schlägt, dem biete die andere
auch dar. 5,40 Und wenn jemand mit dir rechten will und dir deinen Rock
nehmen, dem laß auch den Mantel. 5,41 Und wenn dich jemand nötigt,
eine Meile mitzugehen, so geh mit ihm zwei. 5,42 Gib dem, der dich bittet,
und wende dich nicht ab von dem, der etwas von dir borgen will.
5,43 Ihr habt gehört, daß gesagt ist (3. Mose 19,18): «Du
sollst deinen Nächsten lieben» und deinen Feind hassen. 5,44
Ich aber sage euch: (a) (b) (c) Liebt eure Feinde und (d) (e) bittet für
die, die euch verfolgen,* 5,45 damit ihr (a) Kinder seid eures Vaters
im Himmel. Denn er läßt seine Sonne aufgehen über Böse
und Gute und läßt regnen über Gerechte und Ungerechte.
5,46 Denn wenn ihr liebt, die euch lieben, was werdet ihr für Lohn
haben? Tun nicht dasselbe auch die Zöllner? 5,47 Und wenn ihr nur
zu euren Brüdern freundlich seid, was tut ihr Besonderes? Tun nicht
dasselbe auch die Heiden? 5,48 Darum sollt ihr (a) vollkommen sein, wie
euer Vater im Himmel vollkommen ist.
Nach der allgemein üblichen christlichen Interpretation hebt Jesus
hier das Gesetz der Vergeltung auf und ersetzt es mit dem Gesetz der Liebe.
Ein derartiges Verständnis jedoch widerspricht Jesu eigenen Worten
über "das Gesetz" zwanzig Verse zuvor (Mt. 5, 17-18 - siehe
Kästchen), die von einem jüdischen Gelehrten bedeutsam wie folgt
charakterisiert wurden: "In der gesamten rabbinischen Literatur kenne
ich keine unmißverständlichere, glühendere Anerkennung
der Heiligen Schrift Israels als diese Eröffnung der Unterweisung
auf dem Berge."
Der griechische Urtext liest eigentlich kein "aber" zwischen
Jesu Bibelzitat ("Ihr habt gehört, daß gesagt worden ist...")
und seiner Erklärung des Zitats ("Ich sage euch..."). Eine
angemessenere Übersetzung, die der griechischen Syntax eher gerecht
wird, sollte lauten "Und ich sage euch sogar." In dieser Hinsicht
sind nahezu alle Übersetzungen irreführend. Sie reflektieren
wahrscheinlich das allgemeine Vorurteil, Jesus habe sich gegen "das
Gesetz" gestellt. Wenn dies aber nicht der Fall ist, was meint er
dann in den Versen Mt. 5,38-39? Zunächst wird deutlich, daß
er sich gegen ein vulgäres, wörtliches Verständnis von
Ex. 21,24 stellt. Nichts liegt ferner als der Versuch, Jesu Lehre in einen
Gegensatz zur jüdischen Tradition zu stellen oder gar zu behaupten,
Jesus widerspreche den Geboten als solchen. Seiner Meinung nach sind die
Gebote vollkommen: Wie könnte es auch angesichts seiner Worte in
Mt. 5,17-18 anders sein! Er spricht vielmehr die menschliche Interpretation
und Implementation der Gebote an. In diesem Fall denkt er wohl an Gruppen
und Einzelne, ... die die Gebote als Vorwand für persönliche
Vergeltung mißbrauchen. Wie wir gesehen haben, wurde ein derartiges
Verständnis des "Auge für Auge" im Judentum niemals
normativ. Es ist in der Tat bedauerlich, daß so viele Bibelinterpreten
Jesu Worte benutzt haben, um dem jüdischen Volk Ansichten zuzuschreiben,
denen das Judentum selbst konsequent widerspricht. Nur allzu oft werden
die Verse Mt. 5, 21-48 als "Antithesen" bezeichnet. (...) Die
einzigen "Antithesen", die hier aufgestellt werden, sind die
zwischen einer guten Lehre "des Gesetzes" und einem menschlichen
Mißbrauch der göttlichen Offenbarung zu eigennützigen
Zwecken. In dieser Hinsicht teilen Juden und Christen noch immer die gleiche
Sorge wie Jesus und die Rabbiner vor zweitausend Jahren.
Auszug aus Göran Larsson "Zur Freiheit berufen";
Quelle: www.jcrelations.net
Bild: Stefan Meißner
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