Jugendliteratur zum Thema Holocaust
Wie unterhaltsam darf oder muss sie sein?

von Ursula Kliewer
Ursula Kliewer, 76829 Landau, Raiffeisenstr. 28

erscheint in der Zeitschrift "Fundevogel" 2002

Bücher zum Thema von unserem Partner www.amazon.de.
Bei Interesse klicken Sie einfach auf das Bild!
Reise im August
von Gudrun Pausewang
(Ab 14 J.)
DM 9,90
EUR 5,06
Das Menschen-geschlecht.
von Robert Antelme
DM 24,90
EUR 12,73
Anna gibt es noch.
( Ab 10 J.).
von Ida Vos
DM 12,89
EUR 6,59
Erzählt es euren Kindern.
Der Holocaust in Europa. ( Ab 12 J.).
von S. Bruchfeld,
P. A. Levine
DM 15,00
EUR 7,67

Dass die folgenden Überlegungen weitgehend didaktisch ausgerichtet sein werden, wenn man darunter angeleitetes und begleitendes Lesen versteht, ist schon am Titel zu erkennen. Bei kaum einem anderen Thema sind Kinder und Jugendliche bei ihrer Lektüre so auf die Begleitung durch Erwachsene angewiesen wie beim Thema Holocaust. Die Bereitschaft dazu wurde in der Vergangenheit von Eltern und auch von Lehrern allerdings weitgehend verweigert, denn so wie es in der Gesellschaft der alten Bundesrepublik an dem Willen gefehlt hat, sich mit der unliebsamen Vergangenheit zu beschäftigen, war es noch in den späten siebziger und auch in den achtziger Jahren nicht unbedingt erwünscht, dass Kinder oder Jugendliche im Unterricht Jugendliteratur zu diesem Thema kennen lernten. Allenfalls wurde das in der Forschung heute umstrittene Buch von Hans Peter Richter "Damals war es Friedrich" gelesen oder Willi Fährmanns "Es geschah im Nachbarhaus", in dem das Thema Antisemitismus in zeitliche Ferne gerückt ist, so dass es nicht unbedingt als Lektüre zum Thema Judenverfolgung wahrzunehmen war. Nach den Debatten um die Vergangenheitsbewältigung und die Erinnerungskultur in den 90er Jahren mag sich im Bewusstsein der Gesellschaft einiges geändert haben; zumindest gibt es heute einen gewissen Konsens darüber, dass auch künftige Generationen sich erinnern sollten an die Verbrechen der Nazis. Die israelische Literaturwissenschaftlerin Zoar Shavit macht diesen Zeitgeist verantwortlich für die Art der Jugendliteratur zu diesem Thema, die in einer Gesellschaft entsteht und gelesen wird. Sie meint, dass die Darstellung des Holocaust bestimmten gesellschaftlichen Verstehenskonzepten entspricht.

Stellen wir uns einmal folgende Modell-Situation vor: Einem sieben- oder achtjährigen Kind wollen wir den Holocaust nahe bringen, es aber nicht nur bei allgemeinen Informationen belassen. Dies wird uns vor erhebliche Probleme stellen, weil wir zögern, ihm allzu viel Belastendes aufzubürden, wir nicht wissen, wie viel oder wie wenig Bedrückendes wir ihm zumuten können. Was sollen wir auswählen, wie sollen wir das absurde Verhalten jener Zeit begründen, mit welchen Dokumenten, Fotos wollen wir die historischen Ereignisse veranschaulichen usw. Nicht nur im Inhaltlichen tun sich Probleme auf, sondern auch bei der Frage, was mit diesen Mitteilungen gerade bei diesem Kind bewirkt werden soll, welche Gefühle und Reflexionen damit angestoßen werden können. Dieses Beispiel soll meine These belegen, dass Literatur zum Holocaust unter didaktischen Gesichtspunkten zu betrachten ist, die sich zu folgenden Fragen bündeln:

1. Was wird aus der Fülle der historischen Wirklichkeit ausgewählt?
2. In welcher Weise könnte das Thema vermittelt werden?
3. Welche Wirkungen sind zu erwarten oder werden beabsichtigt?

Diese Zielsetzungen sollen nicht den Eindruck vermitteln, dass Rezeption präzise planbar sei, aber sie führen zu grundsätzlichen Überlegungen, ohne die ich mir die Lektüre dieser problematischen Literatur nicht vorstellen kann. Kinder oder auch Jugendliche ganz damit allein zu lassen, halte ich für nicht vertretbar. Deshalb genügt es nicht, Literatur zu diesem Thema in die Schaufenster der Buchläden zu legen, sondern es braucht außer den Eltern engagierte Lehrer, die sie vermitteln wollen.

Neben diesen didaktischen Erwägungen möchte ich der Frage nach der Darstellbarkeit dieses Themas nachgehen, wie dies auch in der Erwachsenenliteratur diskutiert wird. Ähnlich wie Primo Levi und Elie Wiesel reflektiert Robert Antelme in seinem Bericht über die Zeit in einem deutschen Konzentrationslager. Das 1957 in Frankreich entstandene Buch wurde erst 1987 unter dem deutschen Titel: Das Menschengeschlecht übersetzt: "Wir hatten es also tatsächlich mit einer jener Wirklichkeiten zu tun, von denen es heißt, dass sie die Vorstellung übersteigen. Damit war klar, dass wir nur durch Auswählen, und das heißt wiederum durch unsere Vorstellungskraft versuchen konnten, etwas über sie auszusagen."(Antelme 2001:7) Dies deckt sich mit den Ausführungen des Amerikaners James Edward Young, der von dem Bedürfnis der Überlebenden spricht, die Fakten möglichst authentisch darzustellen, andererseits von ihrem Unvermögen, diese Fakten zu dokumentieren, da ihnen im wörtlichen Sinne die Worte dazu fehlen. Im Titel und Untertitel seines Buchs Beschreiben des Holocaust. Darstellung und Folgen der Interpretation (1988, dt. 1992) klingt schon das Ergebnis seiner Untersuchungen an, dass bei aller Realitätstreue immer auch Tendenzen der Fiktionalisierung, der Interpretation dieser Ereignisse wahrzunehmen sind.

Mit dem Phänomen der Fiktionalisierung nähern wir uns unserem eigentlichen Thema, der Frage nämlich, ob es in der Literatur zu diesem Sujet so etwas geben kann wie Unterhaltung. Bei diesen Überlegungen kann es durchaus zu einander teilweise widersprechenden Thesen kommen.


I. Wie ist Unterhaltsamkeit in diesem thematischen Bereich zu verstehen?

Unterhaltung könnte zunächst als thematisches Element des Textes gesehen werden, was in diesem Zusammenhang nicht denkbar ist, denn das Bedrohliche ist aus dieser Lektüre nie auszublenden. Auch die Lust am Spaß als Grundbedürfnis jugendlichen Freizeitverhaltens kann hier auf keinen Fall befriedigt werden. An die LeserInnen ergeht vielmehr ein hoher Anspruch, sich auch reflektierend mit dieser Lektüre auseinander zu setzen. Gerade bei der Rezeption von Holocaust- Literatur gelten eigene Wertungen und Gesetze. So sollte uns nicht nur die Wirkung interessieren, die sich beim Lesen wie in der allgemeinen Literatur einstellt, beispielsweise die der Spannung bzw. Entspannung, sondern wir gehen auch der Frage nach, ob möglichst Authentisches in der Form des Dokumentarischen oder andererseits Fiktionales oder Biographisches dieses Thema am besten vermitteln können. Was ist es, was schließlich bei den jugendlichen LeserInnen ausgelöst werden kann: Zunahme von Kenntnissen über historische Fakten, Betroffenheit oder möglicherweise auch Reflexionen darüber, dass die Personen in diesem Geschehen gegen Entmenschlichung und Selbstaufgabe gekämpft haben. Dabei ist die Erfahrung für Jugendliche sicher wichtig, dass einzelne Menschen sich tapfer für die Rettung anderer eingesetzt haben und somit als Vorbild gelten können. Positive und Hoffnung vermittelnde Eindrücke sind sicher notwendig für die Erfahrungen jugendlicher LeserInnen. Der Gewöhnungseffekt, der entsteht, wenn Schrecken und Greuel gehäuft auf die Lesenden einwirken, sollte auf jeden Fall bedacht werden.


II. Holocaust und Unterhaltung sind unvereinbar

Wenn SchülerInnen sich eine Lektüre zum Thema Judenverfolgung wünschen, ist zunächst Vorsicht geboten. Was erwarten sie von diesem Stoff? Ist es die Faszination des Grauens, die wir als Kinder spürten, wenn wir Äußerungen der Erwachsenen über die Schicksale von Juden aus der Umgebung aufschnappten? Möglicherweise erhoffen sich heutige Jugendliche Horrordarstellungen, wie sie sie sonst überall konsumieren können. In diesem Sinne darf das Thema nicht zur Unterhaltung herabsinken. Der Schrecken darf nicht zum Horror werden, nur um der Triebbefriedigung zu dienen. Hier wird deutlich, dass vorsichtiges Dosieren unbedingt notwendig ist ebenso wie das nachbereitende Gespräch über das Gelesene. Dieser Aspekt zeigt die Notwendigkeit psychoanalytischer Verstehenszugänge.

Wichtig ist das Kennenlernen von Biografien, die vor dem Inkrafttreten der Rassegesetze völlig normal und glücklich gewesen waren und dann einen völlig anderen Verlauf genommen haben. Diese Menschen waren nicht immer diese gedemütigten, verdreckten und ausgehungerten Gestalten, von denen die Nazis glaubten, dass man sie ungestraft vernichten müsse. In diesen Schicksalen können Jugendliche erkennen, dass unter dem Zwang entfremdender Verhältnisse das ursprüngliche Bedürfnis des Menschen nach Güte und Hilfsbereitschaft zum Bösen denaturiert. Ihr eigenes Glücksverlangen kann bei der Lektüre dieser erschreckenden Biografien die Sehnsucht nach gelingendem Leben wachrufen, auch wenn sie erkennen, dass immer wieder Menschen einander ungeheures Leid antun können, wie dies auch in der Gegenwart geschieht und unter dem Einfluss eines blinden Rassismus ähnliche Formen wie im letzten Jahrhundert annehmen könnte. Damit wird jeder naive Fortschrittsglaube ad absurdum geführt. Diese Spannung auszuhalten ist für Jugendliche sicher nicht leicht. Die ins Philosophische reichenden Reflexionen könnten dem eigentlich sinnlosen Geschehen jener Zeit doch noch einen Sinn abverlangen.

Wir sehen, dass es sich bei der Holocaust-Literatur um ein ganz anderes Leseverhalten handeln sollte, als dies bei der gängigen zeitgenössischen Jugendliteratur üblich ist, bei der die Sinnfrage bekanntlich nicht unbedingt wichtig zu sein scheint.


III. Über den Holocaust kann nicht erzählt werden

Der erste Impuls, über den Holocaust zu schreiben, war sicherlich mit der Absicht verbunden, anderen etwas von dem Leiden mitzuteilen, das man selbst erlebt hatte, möglicherweise andere Länder zum Handeln gegenüber Deutschland aufzufordern. Über die Wirkungslosigkeit dieser Versuche des Dokumentierens und Informierens war man sich bald im Klaren. Überlebende der Konzentrationslager begannen teilweise erst Jahrzehnte nach Kriegsende und Emigration mit der Niederschrift ihrer Geschichte, nachdem ein gewisses Interesse in Israel, später auch in Deutschland sie dazu angeregt hatte. Diesem Berichten lag vielfach das Bedürfnis zugrunde, sich von psychischen Verletzungen zu befreien, die Erinnerung an ermordete Freunde und Verwandte wach zu halten und die Leiden möglichst lückenlos darzustellen. Überlebende, die das schreckliche Geschehen als Kinder erlebt hatten, konnten dies nur aus der Perspektive des Nicht-Verstehens wiedergeben wie beispielsweise Uri Orlev in seinem Buch mit dem deutschen Titel Bleisoldaten. Im Akt des Erzählens war kein Sinn aus dem Geschehenen zu erschließen. Es handelt sich eher um eine Reihe von Zufällen, die schließlich für den zu einem guten Ausgang führten, der schreibend von all dem berichten konnte. Das wirft die grundsätzliche Frage auf, ob überhaupt erzählt werden kann, wenn Sinnbezüge nicht mehr herstellbar sind. Erzählen und Moral ist der Titel eines im letzten Jahr erschienenen Buches, in dem Literaturwissenschaftler und Theologen nachdenken über 'Narrativität im Spannungsfeld von Ethik und Ästhetik' , so der Untertitel. Darin wird immer wieder deutlich, dass es nicht um moralisierende Inhalte geht, sondern um die ästhetische Wirkung, die Reflexivität nicht nur zulässt, sondern geradezu provoziert. "Die ästhetische Erfahrung hat eine reflexive Dimension, insofern sie uns mit möglichen Sichtweisen der Welt, mit Erlebnisweisen und Empfindungsqualitäten konfrontiert." (Düwell 2000:21)

Auch der Diskurs, der in den 60er und 70er Jahren über die Möglichkeit einer Literatur nach Auschwitz geführt wurde und in dem eine Reihe von namhaften Schriftstellern Stellung nimmt zu Adornos These, dass es nach Auschwitz keine Lyrik mehr geben könne, ist in diesem Zusammenhang wichtig. Für viele andere sollen hier Wolfgang Hildesheimer und Peter Härtling zu Wort kommen. Hildesheimer behauptet, dass "nach Auschwitz der Roman nicht mehr möglich sei. (Kiedaisch 1995:99) und Peter Härtling meint: "Wir haben keine Poetik gefunden, die das Entsetzen unserer Zeitgenossenschaft reflektiert. Die überkommenen Formen reichen nicht."(Kiedaisch 1995:103)

Auch in der Jugendliteratur gibt es diese Probleme der Darstellbarkeit des Holocaust. Jeder Versuch, die Sinnlosigkeit dieses Ereignisses zu erklären, muss bald als Verharmlosung erscheinen. Während es in der Erwachsenenliteratur möglich ist, Tabus der Verständigung ästhetisch zu brechen, ist dies in der Jugendliteratur wegen der Begrenztheit der literarischen Mittel zum Scheitern verurteilt. Um einen vordergründigen Mitleidseffekt zu umgehen, ist es hier vielleicht nur möglich, jugendliche LeserInnen über ein unterhaltsames Erzählen an das Thema zu fesseln und ihnen damit Details über Judenverfolgung und Vernichtung zu erschließen. Die Vermittlung dieses Inhalts und der dazu notwendigen Informationen kann jedoch letztlich nicht das Ziel sein, Jugendbücher dürfen nicht nur deshalb gelesen werden, weil sie den Nationalsozialismus leichter fasslich darstellen als Geschichtsbücher, sondern die Einheit von Inhalt und dessen literarischer Gestaltung sollte im Mittelpunkt stehen., wie es Norbert Hopster fordert. Die vollkommene Negation "guten Lebens", wie sie in Erzählungen über Holocaust begegnet, sollte auch in ihrer ethischen Dimension reflektiert werden. "Die Ethik hat ganz allgemein die Aufgabe, die von Personen in ihrem Handeln geforderte Verantwortung zu benennen und in der jeweils konkreten Lebensgestaltung beratend oder auch normierend Stellung zu nehmen. Dazu bedarf es der existentiellen Lebensgeschichten als solcher Konkretionen, und sie bedarf auch der Literatur als einer Expermentierform im Umgang mit Wirklichkeit."(Haker 2000:63)

IV. Dokumentarisches bzw. Informierendes kann allein nicht zur Identifikation führen

Als Negativbeispiel möchte ich das Buch der französischen Historikerin Annette Wieviorka "Mama, was ist Auschwitz?" (2000) bezeichnen, die in einem fiktiven Gespräch ihrer Tochter Einzelheiten der Judenverfolgung erklärt. Obwohl eine befreundete Frau als leidende Person erwähnt wird, ist die Erklärung über weite Strecken abstrakt belehrend und für Jugendliche nicht interessant genug gestaltet.

"... die Wahrheit anzuhören kann ermüdender sein als eine erfundene Geschichte. Ein Stück Wahrheit würde genügen, ein Beispiel, eine Vorstellung." schreibt Robert Antelme am Schluss seines Berichts. Damit wenden wir uns wieder der didaktischen Dimension unseres Themas zu. Das Zitat macht deutlich, dass das richtige Auswählen, das Andeuten, das Beispielhafte nicht nur für Erwachsene, sondern gerade für Kinder und Jugendliche notwendig ist ebenso wie biografische Elemente. Selbst die Dokumentation des Holocaust im israelischen Kindermuseum der Gedenkstätte "Beit Lohamei Haghetaot" bedient sich phantasievoller Formen der Vergegenwärtigung vergangenen Geschehens: Die Kinder werden in Szenarien des damaligen Ghettos versetzt mit Hilfe von bedeutsamen Requisiten und Kulissen. Angesichts dieser Absicht, nicht nur zum Erinnern, sondern auch zu Identifikation aufzufordern, mag man geteilter Meinung sein, denn es hat ein wenig den Anschein von Event-Kultur, die das Authentische mit Hilfe von Installationen zeigen will. In diesem didaktischen Konzept gibt es aber auch das einfache Erzählen und Dokumentieren von Lebensgeschichten geretteter Kinder ebenso wie Zeugnisse über ermordete Jugendliche. Dokumentarisches kann durchaus ergänzend neben das Biografische treten, aber sich mit dem einzelnen leidenden Menschen identifizieren zu können, dazu bedarf es eines Erzählzusammenhangs. Als Beispiel mag einerseits Rabinovicis Dank meiner Mutter gelten, das die gesamte Leidenszeit in Ghetto und Konzentrationslager und auch die Monate nach der Befreiung zu erfassen versucht. Die dargestellten Schrecken sind in ihrer Fülle unerträglich und als Literatur für Jugendliche kaum zu empfehlen. Im Gegensatz dazu sind Niza Ganors Erinnerungen in einen straffen Zusammenhang gebracht und dadurch spannend und interessant erzählt, ohne dass auf die Reflexion des Geschehenen verzichtet wird. Sie will mit ihrer Biografie gerade auch zeigen, dass der Wille, am Ende nicht Opfer der Unmenschlichkeit zu werden, sie am Leben gehalten hat. Die teils biografischen, teils fiktionalen Erzählungen von Ida Vos zeigen, wie meisterhaft hier ausgewählt und angedeutet wird, wobei die Beispiele eindringlich ausgestaltet sind. Komposition und Kohärenz des Erzählten gewährleisten offenbar eine fesselnde Lektüre für jugendliche LeserInnen.


V. Die Vermittlung des Themas verlangt auch unterhaltsame Elemente

Die fiktionale Gestaltung des Themas macht es notwendig, die Handlung auf dem düsteren Hintergrund mithilfe von Spannung und Entspannung wirkungsvoll darzustellen. Schon in den sogenannten Überlebensgeschichten, die noch weitgehend Biografisches verarbeiten, verfolgen LeserInnen mit Spannung, welchen Bedrohungen die Schreibenden ausgesetzt waren, wohl wissend, dass sie schließlich gerettet wurden, wenn sie all dies in der Ich-Form schreiben können. In fiktionalen Geschichten könnte das anders sein. So richtet sich die Leseerwartung auf das Geschehen, das darin besteht, alle Gefahren wie Abenteuer zu bestehen und wohlbehalten aus ihnen hervorzugehen, wie es beispielsweise in dem neuen Buch Malka Mai (2001) von Mirjam Pressler geschieht. Darin wird in einer parallelen Handlungsführung einerseits die Rettung eines siebenjährigen Mädchens aus einer hoffnungslosen Situation erzählt, andererseits die Flucht ihrer Mutter und ihrer Schwester aus Polen nach Ungarn. Damit gestaltet Mirjam Pressler einen Entwurf der wirklichen Malka Mai aus, die die Geschichte ihrer Rettung für Yad Vashem dokumentiert hatte. In einem Interview zu diesem Buch wird die Autorin auch nach dem Gehalt an Aberteuer und Spannung befragt, und sie äußert sich dazu folgendermaßen: "Jede Geschichte, die von einer Flucht erzählt, hat von vornherein eine gewisse Spannung" und die Autorin glaubt, mithilfe der personalen Erzählweise verhindert zu haben, dass die Geschichte zu einer "reinen Abenteuergeschichte" geworden ist, "und das wollte ich nicht. Dagegen habe ich so hart angekämpft wie ich nur konnte." Dennoch sieht sie nicht nur in ihrem Buch, sondern auch in Uri Orlevs Geschichte Bleisoldaten, dass Kinder eine Verfolgung dieser Art eine zeitlang als Abenteuer verstehen können. Die Interviewerin Monika Osberghaus stellt ihr die Frage, die uns in diesem Zusammenhang interessiert: "Wenn eine Geschichte mit diesem Hintergrund so spannend ist, dass es einfach auch Spaß macht sie zu lesen, dann folgt sie nicht gerade den Konventionen für ein gutes Jugendbuch über den Nationalsozialismus. Denn dann müsste sie doch vor allem betroffen machen, auch belehrender sein, mehr historischen Hintergrund bringen". Darauf erwidert Mirjam Pressler: "Mir ging es aber überhaupt nicht um das Betroffen-Machen ... Ich wollte nachvollziehen, wie ein solches Kind urplötzlich Strategien entwickelt, die es befähigen zu überleben. Diese Vitalität und dieser Lebenswille haben mich erstaunt." Fraglich ist natürlich, ob alle LeserInnen in gleicher Weise diesen Spaß empfinden, ob es nicht doch auf den unterschiedlichen Blickwinkel ankommt, mit dem die sich verschärfenden Bedrohungen für das Kind wahrgenommen werden. Erwachsene LeserInnen haben wohl im allgemeinen eine größere literarische Erfahrung, deshalb hält der Text für sie möglicherweise noch mehr Schrecken bereit, als dies auf der vordergründigen Handlungsebene scheint. Für Kinder und Jugendliche könnte beim Lesen durchaus der Gedanke vorherrschen: Wie würde ich jetzt handeln, wie mich verstecken? Möglicherweise mit einer Art Bewunderung für die kleine Heldin, die aus einer behüteten Kindheit unerwartet sich in schlimmsten Gefahren bewähren muss. Da in diesem Buch auch die Perspektive der Mutter eingenommen wird, die ihre Fehleinschätzungen und falschen Entscheidungen reflektiert, ist der Adressatenbezug nicht eingegrenzt.

Die Frage nach der Angemessenheit der Darstellung wird uns auch hier wieder beschäftigen ähnlich wie im Zusammenhang mit Gudrun Pausewangs Erzählung Reise im August, über die Dagmar Grenz nach einer genauen Analyse folgendes abschließende Urteil abgibt: "Die Erzählung trägt aber nicht nur dem Bedürfnis nach Identifikation und Spannung Rechnung, sondern nimmt auch Rücksicht auf pädagogische Konventionen: Selbst im Grauen gibt es noch Humanität und Sinnhaftigkeit, die in einer Geschichte erzählt werden können. Wie andere Kinder-und Jugendliteratur, wenn auch auf in der Tat erzählerisch neue Weise, stellt Reise im Augus" den Holocaust auf humanisierend-unterhaltsame Art dar." (Grenz 2000:324)

Dieses Urteil gründet auf dem Vorwurf, dass die Erzählung starke emotionale Betroffenheit auslöst, die keine Reaktion mehr zulasse. Im Gegensatz zu anderen Jugendbüchern dieses Themenbreichs kann sie keinen glücklichen Ausgang haben, sondern sie schildert das tatsächliche Schicksal von Millionen, die dem Holocaust zum Opfer fielen. Hier aber liegt gerade das Problem des Erzählens: Wie soll ein solches Schicksal fiktional und dennoch authentisch so gestaltet werden, dass jugendliche LeserInnen nicht von diesem Geschehen völlig überwältigt sind? Der Anspruch an ein Buch mit diesem Inhalt lässt sich nur von der ästhetischen Erfahrung legitimieren, der Frage also, ob sinnliche Wahrnehmung und Reflexion über das Gelesene ausgelöst werden. Dieser Schluss ist furchtbar, das Allerschlimmste wird aber noch nicht einmal dargestellt, sondern in das Bewusstsein der LeserInnen verlegt. Es handelt sich hier nicht um einen tragischen Unglücksfall, dem junge Menschen zum Opfer fallen, sondern, wie es in einer Rezension von 1994 heißt: "Gudrun Pausewang hat in einer sowohl handlungs- wie reflexionsintensiven Weise das Geschehen im Waggon in Beziehung gesetzt zu seinen Ursachen, hat die entsetzliche Gegenwart als Endprodukt jener stufenweisen, in ihrer Gefahr noch gar nicht erkennbaren einzelnen Maßnahmen der Jahre davor beschrieben." (Kettler, S. 187) Dies nachzuvollziehen verlangt Aufmerksamkeit beim Lesen, für den Schluss ist ganz einfach Ruhe notwendig, um diese Eindrücke auszuhalten. Geschwätz, wie es in allen Bereichen unseres Lebens überhand nimmt, scheint mir hier absolut überflüssig. Und weiterhin: Kann eine solche Handlung überhaupt ohne unterhaltsame Elemente auskommen, wenn man die Geschehnisse in dem Waggon als solche ansehen möchte? Möglicherweise lässt das Unterhaltsame die LeserInnen nicht los, hilft also , den Inhalt zu vermitteln, andererseits lässt es dem Leser die Luft, die er braucht, um das Unerträgliche doch zu ertragen.. Diese Fragen kann ich nur aufwerfen, aber nicht beantworten.

VI. Komik bzw. Humor als Annäherung an den Schrecken.

Taboris Groteske über Hitler (Mein Kampf 1987), in der sich der Autor auf eine damals ungewöhnliche Weise diesem Thema zuwandte, lässt mit Hilfe der Komik eine ästhetische Distanzierung zu den Schrecken des Hitler-Regimes zu. Jurek Becker gibt seinem Roman Jakob der Lügner eine Form, bei der Lachen und Weinen eng beieinander liegen. Auch bei Hilsenrath, in Der Nazi und der Frisör gibt es diese ironische Brechung, die Nichtjuden nicht mit dieser Unbefangenheit ins Spiel bringen können. Man denke in diesem Zusammenhang an den jüdischen Witz, in dem es eben diese Selbstkritik in ironischer Form geben kann. Der im Jahr 1997 entstandene Film von Roberto Benigni "La vita e bella" (Das Leben ist schön ) bringt eine neue Variante in die Diskussion um die angemessene Form der Holocaust-Darstellung. "Wo bleibt Auschwitz?" heißt es in einer der zahlreichen Kritiken und "Kann man eine Komödie über Konzentrationslager drehen?" Als Fazit dieser Kontroverse kann gelten: Benignis Film ist trotz aller Kritik fast durchweg positiv aufgenommen worden und lässt sich in den Worten einer der vielen Filmkritiken so beurteilen: "Das Unbeschreibbare wird fassbar und so zum Subjekt unserer Beschäftigung und unseres aktiven Erinnerns. Und diese Erinnerungen, die frei sind von starren Bildern, die sich einem dogmatischen Holocaust- Kanon entziehen, bilden die Basis für eine bleibende Auseinandersetzung mit der Shoah, auch über das Leben der Träger 'authentischer' Erinnerungen hinaus". (Filmkritik "Das Leben ist schön") Verhängnisvoll wäre freilich der Eindruck, dass alles nicht so schlimm gewesen sei, wenn man darüber lachen kann.
Dass das Thema in der Kinder- und Jugendliteratur auch in einer humorvollen und vielleicht idealisierenden Weise gestaltet werden kann, zeigt ein Beispiel aus Frankreich, das noch nicht übersetzte Le grandpère tombe du ciel (1997) von Yael Hassan. Darin wird der verschlossene und streng wirkende Großvater von der Enkelin zunächst abgelehnt, dann nach und nach behutsam "entschlüsselt", d.h. sie gewinnt Erkenntnisse über ihn und das Schicksal seiner Familienangehörigen, die im KZ. umgekommen waren und kann den Großvater nun besser verstehen, ja sich mit ihm anfreunden. Lustig wirkt der jiddische Akzent im Französisch des Großvaters. Möglich, dass man in anderen Ländern anders und unbeschwerter mit dem Thema umgehen kann als in Deutschland.

Alle Zugänge und Annäherungen an das Thema bieten die Möglichkeit, sich erinnernd und reflektierend mit dem Thema Holocaust zu beschäftigen, vielleicht für heutige Jugendliche, die verwöhnt von Wohlstand und Ablenkungen sind, eine Herausforderung. Gelberg schlägt am Ende seines radikalen Plädoyers, Jugendlichen nicht Jugendliteratur, sondern gute Literatur anzubieten, die Volte zur Holocaust-Literatur. "Kindern und Jugendlichen muß mehr zugemutet werden, etwas, das ihre Erfahrungen überschreitet." Er beruft sich dabei auf Mirjam Pressler mit ihrer These: "Wir, unsere Kinder, meine Kinder, können es mit vollem Bauch in einem warmen Zimmer lesen. Was heißt da zumuten?" (Gelberg 2001:107)

 

Weitere Literatur

TEXTE
Antelme, Robert: Das Menschengeschlecht (1957). Aus dem Französischen von Eugen Helmlé.- München: Hanser 1987, Frankfurt: Fischer 2001
Bruchfeld, Stéphane/ Paul A. Levine: Erzählt es euren Kindern. Der Holocaust in Europa (1998). Übersetzung (aus dem Schwedischen) und Bearbeitung der deutschen Ausgabe von Robert Bohn und Uwe Danker.- München: Bertelsmann 2000
David, Francois: Ein kleines Licht in der Nacht.(1996) Aus dem Französischen von Eva Ludwig.- Frankfurt: Fischer 1999
Ganor, Niza: Wer bist du, Anuschka? Aus dem Hebräischen von Wolfgang Jeremias.- München: Beck 1996
Hassan, Yael: Un grand père tombé du ciel.- Paris: Casterman 1997
Orlev, Uri: Die Bleisoldaten (1956). Aus dem Hebräischen von Mirjam Pressler.- Weinheim: Beltz&Gelberg 1999
Pausewang, Gudrun: Reise im August.- Ravensburg: Ravensburger Buchverlag 1992
Pressler, Mirjam: Malka Mai.- Weinheim: Beltz&Gelberg 2001
Rabinovici, Schoschana: Dank meiner Mutter (1991).Aus dem Hebräischen von Mirjam Pressler.- Frankfurt: Alibaba 1994
Rogasky, Barbara: Der Holocaust. Ein Buch für junge Leser (1988). Aus dem Amerikanischen von Alan Posener..- Berlin: Rowohlt 1999
Vos, Ida: Wer nicht weg ist, wird gesehen (1981). Aus dem Niederländischen von Mirjam Pressler. Aarau: Sauerländer 1989
Vos, Ida: Anna gibt es noch (1986).Aus dem Niederländischen von Mirjam Pressler- Aarau: Sauerländer 1987, Frankfurt: Fischer 1997 (= Fischer Taschenbuch 80248)
Vos, Ida: Tanzen auf der Brücke von Avignon (1990). Aus dem Niederländischen von Mirjam Pressler.- Aarau: Sauerländer 1992
Wieviorka, Annette: Mama, was ist Auschwitz?.(1999) Aus dem Französischen von Manfred Flügge.- München: Ullstein 2000

SEKUNDÄRLITERATUR
Appel, Sabine: Rückkehr des Mythischen? Zu den Bedingungen des Erzählens in "postmodernen" Zeiten. In: Sabine Appel u.a. (Hrsg.): Annäherungen. Rheinland-pfälzisches Jahrbuch für Literatur 7.- Frankfurt: Brandes&Apsel 2000, S. 272-277
Düwell, Marcus: Ästhetische Erfahrung und Moral. In: Mieth (2000) S.11-35
Ewers, Hans-Heino: Unterhaltung - eine ernste Angelegenheit im Zeitalter multimedialen Entertainments. Eine Aufforderung, sich mit einem alten Reizthema der Literaturpädagogik neu zu befassen (Manuskript)
Gelberg, Hans-Joachim: Lesen als Biographie - Vom Einfluß der Literatur.- Beiträge Jugendliteratur und Medien 53 (2001) 97-111
Glasenapp, Gabriele von: Ansichten und Kontroversen über Kinder- und Jugendliteratur zum Thema Nationalsozialismus und Holocaust. In: Hans-Heino Ewers u.a. (Hrsg.): Kinder- und Jugendliteraturforschung 1998/99.- Stuttgart: Metzler 1999, S.141-181
Grenz, Dagmar: Kinder- und Jugendliteratur, die den Holocaust interpretiert, interpretieren. Am Beispiel von Gudrun Pausewangs "Reise im August". In: Henner Barthel u.a. (Hrsg.): Aus "Wundertüte" und "Zauberkasten". Über die Kunst des Umgangs mit Kinder- und Jugendliteratur. Festschrift zum 65. Geburtstag von Heinz-Jürgen Kliewer.- Frankfurt: Lang 2000, S. 319-330
Heckmann, Herbert (Hrsg.): Angst vor Unterhaltung? Über einige Merkwürdigkeiten unseres Literaturverständnisses.- München: Hanser 1986
Haker, Hille: Narrative und moralische Identität. In: Mieth (2000) S.37-65
Hopster, Norbert: Umgang mit der Literatur über den Nationalsozialismus im Deutschunterricht.- Beiträge Jugendliteratur und Medien 46 (1994) Heft 3, S.140-150
Kaminski, Winfred: Reise im August (Rezension).- Fundevogel 107 (1993) 52-53
Kettler, Harro: Gudrun Pausewangs 'Reise im August'.- Beiträge Jugendliteratur und Medien 46 (1994) Heft 3, S.187 f.
Kiedaisch, Petra (Hrsg.): Lyrik nach Auschwitz? Adorno und die Dichter.- Stuttgart: Reclam 1995
Kliewer, Ursula: Schoschana Rabinovici Dank meiner Mutter. Unterrichtsentwurf in: Schatzinseln für die Schule 2. Unterrichtsentwürfe für die Jahrgangsstufen 6 - 11.- Frankfurt: Fischer 1997, S. 151 - 170
Kliewer, Ursula: Ida Vos Anna gibt es noch. In: Schatzinseln für die Schule 3.- Frankfurt: Fischer 1999, S. 39 - 60
Kliewer, Ursula: Der Holocaust in der israelischen Jugendliteratur.- Beiträge Jugendliteratur und Medien 10. Beiheft 1999, S. 64-82
Kliewer, Ursula: Jugendliteratur zum Holocaust zwischen Authentizität und Fiktionalität.- Frankfurter Blätter 11 (2000) 21-25
Knilli, Friedrich (Hrsg.): Holocaust zur Unterhaltung. Anatomie eines internationalen Bestsellers; Fakten, Fotos, Forschungsreportage. Berlin: elefantenpress 1982
Mieth, Dietmar (Hrsg.): Erzählen und Moral. Narrativität im Spannungsfeld von Ethik und Ästhetik.- Tübingen: Attempto 2000
Pressler, Mirjam: Interview mit Monika Osberghaus.- Werbematerial Beltz&Gelberg 2001
Schneider, Richard Chaim: Fetisch Holocaust. Die Judenvernichtung verdrängt und vermarktet.- München: Kindler 1997
Young, James Edward: Beschreiben des Holocaust. Darstellung und Folgen der Interpretation (1988).- Frankfurt: Jüdischer Verlag 1992

Bücher-Suchmaschine
unseres Partners Amazon
Suchen in:
Suchbegriffe:
In Partnerschaft mit Amazon.de