Geschichte der Juden in der Pfalz - vier exemplarische Prortraits

Teil 4: Jana Kamenetzki aus Kaiserslautern
Teil 1: David Ben Meschulam aus Speyer
Teil 2: Anselm Schoflich Lévi
Teil 3: Lore Metzger, geb. Scharff

von Stefan Meißner


Denkmal am Platz der ehemal. Synagooge

Für das Weiterleben des Judentums in Deutschland bis heute steht auch meine vierte und letzte Biografie, die ich Ihnen vorstellen möchte. Sie hat allerdings einen Makel: Sie ist erfunden. Hoffentlich gut erfunden. Das Problem ist, dass keiner der wenigen jüdischen Mitbürger, deren Leben ich gut genug kenne, um über sie Nennenswertes zu berichten, begeistert wäre, wenn ich ihn oder sie hier mit meiner Rede ins Licht der Öffentlichkeit zerren würde – als „Musterjuden“ sozusagen. Deshalb ein erfundenes Leben, realitätsnah, exemplarisch, aber doch kein Klischee. Das jedenfalls ist meine Hoffnung.
Nennen wir sie Jana Kamenetzki. Sie lebt in Kaiserslautern, einer der wenigen Städte in der Pfalz, in denen es auch nach 1945 jüdische Gemeinden gibt. Sie ist Jüdin, aber was das bedeutet, ist für sie noch keinesfalls abschließend geklärt. Jana ist eine von den etwa 60.000 Russlandjuden, die seit der Öffnung des Eisernen Vorhangs nach Deutschland gekommen sind. Wären sie nicht gewesen, wären viele jüdische Gemeinden ausgestorben, denn nach dem Krieg waren es fast nur die Alten gewesen die wieder zurück gekommen sind ins „Land der Täter“, die Jüngeren suchten ihr Glück in Israel oder Amerika.

Jana Kamenetzki ist erst Anfang Dreißig, aber an die Schikanen, die sie in der ehemaligen Sowjetunion als Jüdin über sich ergehen lassen musste, erinnert sie sich noch sehr gut. Dabei bestand Ihr Jude-Sein damals primär darin, dass es in ihrem Pass stand – dort wo normalerweise die Nationalität angegeben wird. Ihre Religion hat sie in der alten Heimat nie praktiziert. Wie denn auch, hatte doch das kommunistische Regime alles dafür getan, um die wenigen Gemeinden langsam auszuhungern. Ihre wenigen Kenntnisse über jüdisches Leben verdankt sie ihrer Großmutter, die in ihren letzten Lebensjahren zunehmend von der „guten alten Zeit“ erzählte. Damals fand sie das langweilig, ja peinlich. Heute würde sie ihr gerne Fragen stellen, denn immer mehr merkt sie, dass es ihr etwas bedeutet, Jüdin zu sein. Aber was, ist unklar – noch.

In die Synagoge geht sie nur gelegentlich, meist an den hohen Feiertagen, obwohl sie viele der Alteingesessenen durchaus zuvorkommend und hilfsbereit behandeln. Die Reibereien zwischen „den Russen“ und den anderen Juden, die sie aus anderen Gemeinden kennt, gibt es hier bei ihnen zum Glück nicht. Aber sie vermisst bei sich die Selbstverständlichkeit, mit der andere in ihrer Gemeinde die gottesdienstlichen Riten praktizieren. Außerdem fühlt sie sich ein wenig unbehaglich in einem Gebäude, das Tag und Nacht von Kameras überwacht wird – wegen der „Ewiggestrigen“, wie ihre Freundin Maja beschwichtigend sagt.

Im vergangenen Jahr war sie zum ersten Mal in Israel. Dort in Jerusalem meinte sie für kurze Zeit das nach 3000 Jahren immer noch lebendige Herz des Judentums schlagen zu hören. Sie fühlte sich eingebettet in ein großes Ganzes, das mit Religion nur unzureichend beschrieben ist. Plötzlich war sie Teil einer Schicksalsgemeinschaft über Raum und Zeit hinweg. Ein Gefühl, das sich in Deutschland nie einstellen würde, egal wie lange sie dort auch leben würde. Aber in Israel bleiben wollte sie auch nicht. Das war ihr spätestens klar, als sie wenige Stunden vor ihrem Rückflug eine Gruppe von Reservistinnen der israelischen Armee in einem Schnellimbiss sitzen sah. Junge Frauen in ihrem Alter, in voller Gefechtsausrüstung. Nein, das war nicht das Judentum, das sie suchte. Als sie kurz darauf wieder in Stuttgart landete, hatte sie fast wieder ein wenig Sehnsucht nach ihrem übersichtlichen Kaiserslautern. War sie endlich angekommen?

Mit dieser nachdenklichen Frage möchte ich meinen Ausflug in die Geschichte jüdischen Lebens in der Pfalz beenden. Ein offenes Ende, denn auch die Zukunft der Juden in unserem Land ist zu Beginn dieses Jahrhunderts wieder offen.
„Sie sind wieder da“, auch wenn die Schatten der Shoah noch immer das Zusammenleben belasten.
„Sie sind wieder da“, auch wenn es noch immer vereinzelte Anfeindungen gibt.
„Sie sind wieder da“, auch wenn es hier und da Auseinandersetzungen über den Kurs in den jüdischen Gemeinden gibt.
Aber immerhin: „Sie sind wieder da“! Wer hätte das gedacht vor 20 Jahren, als genau heute vor 20 Jahren die Mauer fiel?

Vortrag, gehalten am 9.11.2009 in Ludwigshafen zur Eröffnung einer Judaica-Austellung im Stadtarchiv