Das sogenannte „Kairos-Dokument“ der Christen in Palästina.

Versuch einer differenzierten Würdigung

von Stefan Meißner


Ein Hilfeschrei angesichts der trostlosen Realität
Das Wort der Palästinensischen Kirchen „Die Stunde der Wahrheit“ macht betroffen. Es versteht sich selbst als „Schrei der Hoffnung, wo keine Hoffnung ist“ und tatsächlich ist die Situation, unter der die Menschen in Palästina derzeit leben müssen, mehr als trostlos. Natürlich ist die Beschreibung der Realität zu Beginn des Papiers einseitig und stellenweise ergänzungswürdig. Aber eine ausgewogene, emotionslose Abhandlung kann man von einem Volk, das seit Jahrzehnten unter Besatzungsrecht leben muss, nicht erwarten. Das muss auch anerkennen, wer wie ich den Weg der Palästinenser, insbesondere der politischen Führung in den letzten Jahren, mit wachsender Besorgnis beobachtet. Die täglichen Demütigungen, die Einschränkungen der Bewegungsfreiheit durch Straßenkontrollen, Mauern und Zäune sind bittere Realität. Wer sie wie ich schon selbst aus der Nähe miterlebt hat, kann diesen Hilfeschrei nicht einfach beiseite schieben mit dem Hinweis, die Palästinenser seien an ihrem Schicksal selbst schuld. Auch wenn sie in den letzten Jahrzehnten selten eine Chance verpasst haben, eine Chance zu verpassen, - am tragischsten aus dem Rückblick vielleicht die Ablehnung des Friedensangebots von Camp David - so leiden sie gegenwärtig doch auch unter Faktoren, die sich weitgehend ihrem Einfluss entziehen und die ein berechtigtes Gefühl der Wut und Ohnmacht zurücklassen. Nach dem Waffengang in Gaza, der unzählige unschuldige Opfer forderte, und dessen Folgen noch lange nicht verschmerzt sind, fühlt sich das palästinensische Volk von der Weltöffentlichkeit verraten. Gerade die jungen und gebildeten Menschen sehen für sich oft keine andere Chance mehr, als das Land zu verlassen. Der Aderlass der christlichen Gemeinden in Palästina ist beträchtlich. Kein Wunder also, dass die Kirchen einen verzweifelten Appell an ihre Glaubensgeschwister in der Ökumene richten, ihnen in dieser schwierigen Lage an die Seite zu treten.

Überwindung ideologischer Sackgassen
Doch wie kann das geschehen? Sicher nicht so, dass wir uns zu unkritischer Übernahme ihrer Einschätzungen und Forderungen hinreißen lassen. Was das palästinensische Volk von uns Christen in Europa braucht - gerade von solchen Christen, die Einblick auch in die jüdische Seite haben - ist eine ehrliche Analyse dessen, was mittel- und langfristig geeignet sein könnte, ihre prekäre Lage zu verbessern. Dazu gehört auch zu benennen, wo sich die Palästinenser noch immer (oder immer mehr?) in ideologische Sackgassen verrennen, die ihrer Sache am Ende eher Schaden als Nutzen bringen.

Lebenshingabe für das Vaterland?
Was der palästinensischen Sache sicher nicht dient, wäre der Versuch, den Konflikt gegen Israel mit Waffen führen zu wollen. Insofern kann man nur ausdrücklich begrüßen, wenn das „Kairos-Papier“ an mehreren Stellen zur Gewaltfreiheit aufruft und beim Appell zur Liebe auch den israelischen Besatzer mit einschließt. Doch wenn in Teil 1-5 vom „legitimen palästinensischen Widerstand“ die Rede ist, hat der Leser das ungute Gefühl, dass das auch „den Weg des bewaffneten Widerstandes“, von dem noch ein Satz vorher die Rede ist, mit einschließen könnte. Auch widerstrebt mir, wenn evangelische Christen ihre „Hochachtung vor allen, die ihr Leben für unsere Nation hingegeben haben“, zum Ausdruck bringen. Haben die Kirchen nicht lange genug ihre Kinder dem Götzen Vaterland geopfert? Mit Dankbarkeit registriere ich, wenn man einer „Kultur des Lebens anstatt einer Kultur des Todes“ (3-4-5) das Wort redet, frage mich aber gleichzeitig, warum man das Land zu „eine(r) Sache von Leben und Tod“ (2-3-4) hochstilisieren muss. Dieses Pathos erinnert allzu sehr an eine Märtyrertheologie, die den Einsatz des eigenen Lebens für die vermeintlich gerechte Sache verlangt.

Ohne Besatzung keine Probleme?
Die Verurteilung der seit vielen Jahrzehnten andauernden Besatzung kann ich nachvollziehen. Es geht nicht an, dass nationalreligiöse Gruppierungen in Israel hier gegen jedes Völkerrecht auf Zeit spielen und Fakten schaffen, die nicht wieder rückgängig zu machen sind. Auch der befristete Baustopp der Regierung Netanjahu ist halbherzig und wird durch die vielen Ausnahmegenehmigungen entwertet. Ist es andererseits aber wirklich so, wie die palästinensischen Kirchen schreiben, dass es ohne Besatzung „auch keinen Widerstand, keine Angst und keine Unsicherheit“ (1-4) gäbe? Hier werden die inneren Konflikte der Palästinenser, die anderer Stelle durchaus anklingen (etwa in 1-5-1), in unzulässiger Weise verharmlost. Erinnert man sich etwa nicht mehr an die bewaffneten Auseinandersetzungen zwischen Fatah- und Hamas-Anhänger mit Hunderten von Toten und Verletzten?

Und was ist mit der Bedrohung der Christen in Palästina, die von radikalen Muslimen ausgeht? Die Angst vor Repressalien ist offenbar so groß, dass man sich darüber nur hinter vorgehaltener Hand zu sprechen traut. Als der SWR 2006 im deutschen Fernsehen darüber berichten wollte, bat man den Sender auf die Ausstrahlung der Reportage zu verzichten, „um nicht noch Öl ins Feuer zu gießen“, wie es damals hieß. Die Interviewpartner, die das Problem zu freizügig benannten, mussten damals um ihr Leben fürchten.

Wer unserer christlichen Geschwister beklagt die zahllosen Lynchmorde, mit denen Palästinenser immer wieder „bestraft“ werden, wenn sie mit den israelischen Besatzern kollaborieren? Fördern diese etwa nicht Angst und Unsicherheit?

Natürlich leidet die Wirtschaft der palästinensischen Autonomiegebiete, insbesondere des Gaza-Steifens, unter der Blockade durch die Israelis. Aber auch in ökonomischer Hinsicht ginge es Palästina ohne Zweifel besser, wenn die nicht unbeträchtlichen internationalen Hilfeleistungen ausnahmslos in Nahrung, Bildung und Infrastrukturmaßnahmen investiert worden wären. Stattdessen versickerten Millionenbeträge auf den Privatkonten ihrer Führer oder wurden in Waffen angelegt.

Es ist leider so: Die Schuld an der palästinensischen Misere alleine der israelischen Besatzung zuzuschieben, hilft vielleicht, die eigenen Reihen enger zusammen zu schließen, wird der Komplexität der tatsächlichen Lage in der Region aber nicht gerecht.

Freizügigkeit und Religionsfreiheit für alle?
Man mag verstehen, wenn die „Trennmauer“ verurteilt wird, weil sie Städte und Dörfer voneinander trennt (1-1-1). Eine Grenzsperranlage sollte tatsächlich auf der Grenze gebaut werden und nicht das feindliche Territorium zerschneiden, wie es die Anlage in vielen Fällen tut. Nur sollte man nicht vergessen, warum Israel sich zu dieser millionenschweren Maßnahme genötigt sah: Es war die nicht enden wollende Serie von Selbstmordanschlägen palästinensischer Terroristen, die dadurch gestoppt werden sollte – übrigens mit gar nicht mal so schlechter Erfolgsbilanz in dieser Hinsicht.

Mit der allgegenwärtigen Terrorgefahr hängt es auch zusammen, wenn Israel immer wieder den Zugang zu den heiligen Stätten der Palästinenser einschränkt. Wer dies beklagt (1-1-5), muss sich auch die Frage gefallen lassen, wie es über Jahrzehnte hinweg mit den heiligen Stätten der Juden gehalten wurde. Der komplette Ostteil Jerusalems mit der Klagemauer, einem Überbleibsel des Herodianischen Tempels, war nach 1948 für Juden bis zur Rückeroberung völlig unzugänglich. Wer hat sich damals für die Religionsfreiheit eingesetzt? Wer protestiert heute dagegen, wenn jüdische Heiligtümer wie etwa das Grab des Patriarchen Josef bei Nablus von fanatischen Palästinensern zerstört wird?

Zionismus = Rassismus? oder: Israel = Südafrika?
Dass der Alltag in den besetzen Gebieten mit seinen vielerlei Auflagen und Eingriffen, die manchmal auch die Grenzen der Legalität überschreiten, als Angriff auf die eigene Würde wahrgenommen wird, ist unschwer nachzuvollziehen. Doch diese rigide Sicherheitspolitik „rassistisch“ zu nennen, geht am Kern der Sache vorbei. Auch wenn es eine lange Tradition hat, Israel der Apartheid zu bezichtigen und den Zionismus als eine Spielart des Rassismus zu verunglimpfen, so muss doch die Tatsache festgehalten werden, dass, abgesehen von ein paar extremistischen Wirrköpfen vielleicht, niemand in Israel Palästinenser deshalb Rechte vorenthalten möchte, weil man sie für Menschen einer minderwertigen Rasse hält. Wenn man ihnen tatsächlich immer wieder Rechte vorenthält, dann deshalb, weil man in ihnen ein Sicherheitsrisiko sieht – was leider nicht immer ganz aus der Luft gegriffen ist. Übrigens gibt es etliche Fälle, in denen Palästinenser erfolgreich gegen ihre Ungleichbehandlung vor der israelischen Justiz geklagt haben. Die israelische Verfassung garantiert allen Bürgern gleiche Rechte, unabhängig von Religion, Hautfarbe oder Rasse. Es sitzen arabische Abgeordnete sogar in der Knesset und entscheiden mit über israelische Gesetze. Dass die Verfassungswirklichkeit manchmal hinter der die Norm zurückbleibt, ist bedauerlich, kommt aber auch in anderen Ländern vor. Wären umgekehrt jüdische Bürger in den arabischen Gebieten rechtlich so gut geschützt wie die Palästinenser in Israel, wäre es um die Menschenrechte in der Region wesentlich besser bestellt.

Deutsche, kauft nicht bei Juden?
Indem man das Papier „Kairos-Palästina-Dokument“ nannte, versuchte man eine Parallele zum südafrikanischen Apartheidsregime herzustellen, das 1985 durch einen Aufruf der Weltkirchen öffentlich an den Pranger gestellt wurde. Wie damals meint man auch heute, ein Wirtschaftsboykott sei der probate Weg, die vermeintlichen Rechtsbrecher mit friedlichen Mitteln in die Knie zu zwingen. Doch einmal davon abgesehen, dass Israel eine parlamentarische Demokratie mit weithin funktionierenden rechtsstaatlichen Institutionen und kein Regime von Rassenfanatikern ist, ist es eine nicht zu verzeihende politische Instinktlosigkeit, Menschen in Deutschland dazu aufzufordern, keine Waren aus Israel mehr zu kaufen. Schon im April 1933 hieß es: „Deutsche, kauft nicht bei Juden!“. Was für Erinnerungen muss dieser Appell bei Juden in Deutschland hervorrufen, wenn sie lesen, dass Waren pauschal boykottiert werden sollen, nur weil sie in Israel erzeugt wurden. Eine solche Maßnahme würde nicht nur Unternehmen treffen, die an der Besatzung profitieren, sondern auch solche, die damit nicht das Geringste zu tun haben. Auch solche etwa, die mit ihrem medizinischen Know-How mithelfen, Leid auf der ganzen Welt zu minimieren. Dass ich keine Avocados essen soll, die in der Westbank, womöglich auf gestohlenem Land, mit palästinensischem Wasser herangezogen wurden, vermag ich gerade noch nachzuvollziehen. Was aber spricht gegen den vermutlich in Tel Aviv konzipierten Pentium-Prozessor, der mir gerade hilft, diesen Artikel zu Papier zu bringen?

Erwählung der ganzen Menschheit?
Nicht nur in der politischen Analyse, sondern auch manchen theologischen Ausführungen im „Kairos-Dokument“ vermag ich nur schwer zu folgen. Dass das Kommen Jesu Christi „ein neues Licht auf das Alte Testament“ geworfen hat, würde ich auch so sehen. Aber kann man wirklich sagen: „Gott sandte die Patriarchen, die Propheten und die Apostel mit einem universellen Auftrag für die Welt in dieses Land“ (2-3-1)? In der Tat gab es Apostel, die zu den „Völkern“ gesandt waren mit einem Auftrag, der alle Menschen anging. Bei den Propheten würde ich da schon Abstriche machen. Bei ihnen lagen die Völker doch eher am Rande ihres Fokus´, ihre primäre Sorge galt dem jüdischen Volk. Völlig deplaziert scheint mir der Begriff des Universalismus aber bei den Vätern Israels zu sein: Nicht zufällig verengt sich der zunächst universelle Fokus des alttestamentliche Kanons, indem mit 1 Mos 12 ein neues Kapitel der Heilsgeschichte aufgeschlagen wird. Die Urgeschichte (1 Mos 1-11), die noch die ganze Menschheit im Zentrum ihres Interesses hatte, erwies sich als eine Geschichte des Scheiterns: Sündefall, Brudermord und Turmbau sind nur einige Schlagworte, die diese Dekadenzgeschichte umschreiben sollen. Mit Beginn der Vätergeschichten ändert Gott quasi seine Strategie: Mit der Berufung Abrahams und den Verheißungen an ihn uns seine Nachkommen verengt sich der Fokus auf eine einzige Familie. In der Nachfolge dieses Geschlechtes, aus dem schließlich in der ägyptischen Gefangenschaft das jüdische Volk wird, wird der Segen Gottes über die Generationen hinweg weiter gegeben. Die nichtjüdische Welt gerät freilich nicht aus dem Blick. Sie hat Anteil am Segen Abrahams in der Zusage: „Ich will segnen, die dich segnen, und verfluchen, die dich verfluchen; und in dir sollen gesegnet werden alle Geschlechter auf Erden“ (1. Mose 12,3). Der Segen der Völker, zu denen auch wir Christen zählen, ist also ein abgeleiteter und hängt von unserer Haltung gegenüber Gottes erstberufenem Volk Israel ab. Daran ändert prinzipiell auch nichts die Tatsache, dass Paulus in Gal 3 die Christen zu Kindern Abrahams ernennt. Den Juden bleibt auch im Neuen Bund ein Proprium erhalten: „Den Juden zuerst und auch den Heiden“ (Röm 1,16). Oder wie unsere Kirchenverfassung in Art.1 richtig betont: "Durch ihren Herrn Jesus Christus weiß die Kirche sich hineingenommen in die Verheißungsgeschichte Gottes mit seinem ersterwählten Volk Israel - zum Heil für alle Menschen.“ Die Erwählung Israels ist also etwas, das durch die Hineinnahme von Völkerchristen in den Bund Gottes weder aufgehoben noch relativiert wird. Es bleibt dabei, auch wenn es für palästinensische Ohren anstößig klingen mag: „Das Heil kommt von den Juden“ (Joh 4,22).

„Land Israels“ oder „Erdkreis“?
So wie das Verhältnis von Universalismus und Partikularismus in ekklesiologischer Hinsicht unscharf bestimmt ist, so problematisch wird im Kairos-Papier auch das „Land Israel“ einfach zum „Erdkreis“ nivelliert, indem gesagt wird: „Unser Land ist wie alle Länder auf der Welt Gottes Land“ (2-3). Wer wollte widersprechen, wenn gesagt wird: „Die Erde (hebr.: ha-aretz) ist des Herrn und alles, was darinnen ist, der Erdkreis und die darauf wohnen“ (Ps 24,1)? Wenn daraus aber geschlossen wird, dass das Land der Verheißung nun keine besondere Bedeutung mehr habe, dann begibt man sich auf den Holzweg. „Von Zion wird der Erlöser kommen“ (Röm 11,26), auch nach neutestamentlicher Überzeugung. Oder mit den Worten unseres Arbeitskreises „Kirche und Judentum“: „Das ‚Land’ ist auch nach dem Zeugnis des Neuen Testaments bleibende Bundesgabe an Israel.“ Das Land gehört zweifellos Jahwe, aber er hat es aus freien Stücken seinem Volk als „Erbteil“ (hebr.: nachala) anvertraut. Die Alternative der palästinensischen Christen: „Land Gottes“ versus „Land Israels“ ist keine biblische Alternative.

Natürlich darf man daraus nicht mit der Bibel in der Hand territoriale Grenzziehungen vornehmen wollen, wie ich das jüngst bei einem Vortrag eines Vertreters der Internationalen Christlichen Botschaft Jerusalem (ICEJ) erlebt habe. Diese selbst erklärten „Freunde Israels“ bringen Vorschläge ins Spiel („...vom Bach Ägyptens bis an den großen Strom Euphrat“, 1. Mose 15,18), vor denen selbst das davidisch-salomonische Großreich verblasst wäre. Vor solchen biblizistisch-fundamentalistischen Kurzschlüssen graut den Autoren zu Recht (4-2 u.ö.). Dass die biblischen Landverheißungen nun allerdings rein gar keine realpolitischen Implikationen enthalten, weil sie angeblich nur „der Auftakt zur vollständigen universellen Erlösung“ gewesen seien, verkürzt die Bibel in unzulässiger Weise. Gott ist in Israel auch heute am Werk, ohne dass man den Willen Gottes einfach mit dem Staat Israel, seiner Regierung oder bestimmten politischen Handlungen identifizieren kann.

Stimme der Weltchristenheit?
Noch einmal: Das Papier enthält eine Reihe guter und wichtiger Ansatzpunkte: Der Appell an die Muslime, „dem Fanatismus und Extremismus abzuschwören“ (5-4-1), die Aufforderung an alle Beteiligten zum interreligiösen Dialog (3-3-2), der Ansatz, „in jedem seiner Geschöpfe das Antlitz Gottes zu sehen (9-1), die Forderung von Bildungsprogrammen (9-2), der Einsatz für Gleichberechtigung und Pluralismus (9-3) – all das verdient gewürdigt und verstärkt zu werden. Dennoch bleibt das Dokument nicht selten hinter seinem eigenen Anspruch zurück und vertritt in theologischer wie politischer Hinsicht fragwürdige Positionen, die langfristig weder im Interesse der Israelis noch in dem der Palästinenser selbst liegen können. Einige dieser kritischen Punkte habe ich in meinem Diskussionsbeitrag zu benennen versucht.

Dass der Ökumenische Rat der Kirchen dieses Papier so kritiklos weiter gibt, ja dass der Generalsekretär Samuel Kobia höchstpersönlich es als „the fresh basis and reference point in this renewed struggle for justice“ anpreist kann angesichts dessen nur verwundern. Allerdings sind schon in der Vergangenheit ranghohe Ökumenevertreter durch einseitig israelkritische Verlautbarungen und Aktionen aufgefallen. Von einem „breiten Spektrum von Palästinensischen Kirchen und kirchennahen Organisationen“ zu sprechen, die dieses Papier angeblich getragen hätten, ist m.E. jedenfalls stark übertrieben: Nach mir vorliegenden Informationen aus Jerusalem bekam der Aufruf dort, trotz der nicht unerheblichen Unterstützung vom ÖRK, durchaus auch Gegenwind. Beobachter vor Ort berichten, er sei dort „wie sauer Bier angeboten worden und traf nur auf Ablehnung.“ Schon die Unterschriftenliste der ursprünglichen Veröffentlichung macht deutlich, dass die katholische Seite nicht vertreten ist, außer durch den mittlerweile emeritierten Michel Sabbah. Auch der orthodoxe Erzbischof Atallah spricht nicht offiziell für das Griechische Patriarchat. Was die Sache zusätzlich verkompliziert: Es gibt ein zweites, sehr knapp gehaltenes Dokument mit dem Titel „We Hear the Cry of Our Children“. Hier erklären nun tatsächlich fast alle wichtigen „Heads of Churches” ihre Unterstützung für die Kairos-Initiative. Aber es fällt auf, dass dies in sehr allgemeiner Form und in eher seelsorgerlichem Ton geschieht, ohne jede politische Polemik gegen Israel.

Wie nicht anders zu erwarten, erhielt das Kairos-Papier große Resonanz in der arabischen Presse, aber auch einige als pro-palästinensisch bekannte non-governmental organisation im Westen wie die „Rabbis for Human Rights” oder dem „Holy Land Peace Project“ begrüßten es. Was aber nicht übersehen werden darf: Das Dokument erfuhr auch Widerspruch, etwa von den „Christians for Fair Witness on the Middle East”, einer ökumenischen Organisation in den USA. Ein Mitglied des Exekutivkomitees, Monsignore Dennis Mikulanis, kritisierte, der Appell versäume es einige „fundamentale Wahrheiten” anzuerkennen: „I understand that it comes from a place of deep Palestinian suffering. But we will not advance peace by placing all the blame on Israel’s shoulders, or by promoting the false idea that boycotting Israel will solve this conflict”.

Ich bin dankbar für besonnene Stimmen wie diese aus der Weltchristenheit, denn sie rücken die bedenkliche Einseitigkeit des Kairos-Dokuments wieder zurecht und zeigen, dass der ÖRK nicht die Meinung aller Christen im Nahost-Konflikt repräsentiert.

Dieser Artikel wurde u.a. auch veröffentlicht in:
- Ökumenische Rundschau 2/2010, S.275-282

- http://www.imdialog.org/bp2010/02/kairos_meissner.doc (dort auch mit Fußnoten)

Links:

Hier der Link zum deutschsprachigen Kairos-Dokument

Entgegnung der Liberalen Rabbiner Konferenz Amerikas (deutsch)