Die letzte Nacht
zuhause schlafe ich schlecht. Ich höre einen Knall, sehe einen Lichtblitz.
Wache auf – nichts. Nur der Wind, der ruhig an unseren Fensterläden
klappert. Am nächsten Morgen erzähle ich niemandem von meinem
Traum. Ob es gut war, die Reise zu buchen? Viele Freunde wunderten sich.
„Was, nach Israel? Jetzt? Viel Glück! Komm gut zurück!“
Meine Eltern machten mir Vorwürfe, als sie von meinen Plänen
hörten. Erinnern mich an meine Verantwortung für die Familie.
Die Kinder stellen bohrende Fragen. Meine Frau sagt nichts, aber ich ahne,
dass ihr nicht wohl ist. Ich fliege trotzdem. Die Statistik spricht für
mich: Die meisten kommen zurück. Außerdem gönne ich den
Terroristen nicht den Sieg, unser Leben zu beherrschen.

Ankunft auf dem Ben Gurion Airport
in der Nähe von Tel Aviv. Ruhiger Flug, gutes Essen. Man wundert
sich: Unser Lufthansa-Flug ist voll ausgebucht - wo man doch hört,
der Tourismus sei fast zum Erliegen gekommen. Allerdings: Die wenigsten
Reisenden sind Urlauber. Viele französische Juden, die wohl ihre
Verwandten in Israel besuchen. Auch einige Geschäftsleute, so wie
mein Sitznachbar, mit dem ich mich prächtig unterhalte. Über
deutschen Wein, die Weltwirtschaft und die Sicherheitslage in Israel.
Ob er Angst hat? Nein, normalerweise nicht. Manchmal vielleicht, kurz.
Aber dann muss es weitergehen - muss.

An der Passkontrolle
lange Warteschlangen, wieder leichte Anspannung. Die Zollbeamtin weist
einen Mann vor mir zurecht, der sich in die falsche Schlange gestellt
hat. Auch mich schaut sie skeptisch an. Ein Blick auf den Pass, dann in
mein Gesicht. Das wiederholt sich mehrere Male. Stimmt etwas nicht? Dann
völlig unerwartet ein Lächeln: „Nice glases, you wear.“
(„Eine nette Brille haben sie da.“) Na also, geht doch! Der
Bus nach Jerusalem wartet schon. Nichts wie raus hier! Die Luft ist mild
und duftet nach Orangenblüten. Es war doch gut zu fliegen, denke
ich, und steige in den Bus.

Den Weg nach Jerusalem
kenne ich bereits. Die flachen grünen Felder der Küstenebene
werden abgelöst vom Hügelland der Schefela. Die mehrspurige
Straße wird steiler, die Luft wird klarer und kühler. Jerusalem
liegt auf fast 1000 m über dem Meeresspiegel. „Alija“
(=„Aufstieg“) – so nannte man in biblischen Zeiten die
Pilgerfahrt nach Jerusalem an den drei großen Wallfahrtsfesten.
„Alija“ so nannte man auch die Zuwanderung von Juden, die
in der 2. Hälfte des 19. Jhds. begann und während der Nazi-Zeit
ihren Höhepunkt fand. Am Straßenrand erinnern noch Auto- und
Panzerwracks an den Unabhängigkeitskrieg von 1948, der hier an diesem
engen Korridor zur Heiligen Stadt besonders heftig tobte.

Mt. Zion (=“Zionsberg“)
heißt unser Hotel, wie auch der Hügel auf den man blickt, wenn
man aus dem Fenster schaut. Zion – in diesem fast magischen Begriff
verdichten sich jüdische Sehnsüchte und Hoffnungen aus vielen
Jahrhunderten. Dieser Hügel südwestlich der Altstadt wurde zum
Innbegriff Jerusalems, ja des Gelobten Landes überhaupt. Dabei liegt
die alte Zionsstadt, die König David errichten ließ, weiter
östlich am Fuße des Tempelberges. Doch der Mythos nimmt es
nicht so genau mit der Topographie. Hier auf dem Zion zeigt man das Grab
Davids, dem man ein Großreich andichtet, das alles in allem wohl
kaum viel mehr war als ein unbedeutendes Gemeinwesen in einer entlegenen
Ecke des Alten Orients. Auch sein Leichnam dürfte mit großer
Wahrscheinlichkeit hier nicht zu finden sein. Aber wen kümmert´s
- der Mythos vom Großreich lebt: „Tod den Arabern“,
steht auf der Eingangstür zum Schrein des Königs. Auch David
hatte Blut an seinen Händen...

„Dies tut zu meinem Gedächtnis...“
befahl ein gewisser Jesus von Nazareth, von dem viele glaubten, er würde
in die Fußstapfen Davids treten und Israel von der Fremdherrschaft
der Römer befreien. Kurz darauf wurde er als Unruhestifter von den
Römern hingerichtet. Zu Unrecht, wie mein heute weiß, wenn
sein Reich war „nicht von dieser Welt“. Auch der Abendmahlsaal
trägt seinen Namen zu Unrecht, stammt er doch aus späterer Zeit.
Auch hier hat der Mythos die Historie eingeholt. Die Menschen mögen
keine offene Fragen, religiöse Menschen schon gar nicht. Aber der
Ort hat seinen Reiz: Eine Gebetsnische verrät, dass hier in diesem
Kreuzfahrerbau einst eine Moschee beherbergt war. Und im Erdgeschoss befand
sich früher eine der ersten sephardischen Synagogen Jerusalems. So
sind die Kinder Abrahams, wie es sich eigentlich gehört, hier auf
engstem Raum vereint.

Folgt man der Stadtmauer
entlang nach Norden, gelangt man zum Jaffator, durch das Kaiser Wilhelm
II. 1898 wie der Messias auf einem weißen Schimmel einzog. Weil
kein Hotel der Stadt damals gut genug war für den deutschen Monarchen,
wohnte er zusammen mit seiner Gattin in einer kleinen Zeltstadt auf dem
Gelände der späteren lutherischen Propstei. Zurück blieb
eine deutschsprachige Gemeinde, die heute immer kleiner wird und um ihre
Unabhängigkeit ringt. Wer weiß: Vielleicht wird in der Erlöserkirche
bald auf arabisch gepredigt werden.

Die Altstadt
strahlt noch immer eine Faszination auf den westlichen Besucher aus. Es
ist der Reiz des Orients, der mit seinen Düften und Farben die Sinne
betört. Doch nur nicht zu genau hinschauen auf die Auslagen der Händler.
Sonst findet man sich mitten in einem Verkaufsgespräch wieder, das
nur zwei Möglichkeiten offen lässt: Entweder man kauft für
einen völlig überzogenen Preis („spezial price, only for
you my friend!“) etwas völlig Unnötiges. Oder man wird
mit allen möglichen Flüchen überzogen. Als Feind des palästinensischen
Volkes wieder aus dem Laden getrieben, in den man zuvor mit einem duftendem
Pfefferminztee gelockt worden war. Ich falle aber auch immer wieder darauf
herein.
 
Eine besondere Atmosphäre
bekommt das Labyrinth von Gassen am späten Abend, wenn die letzten
Händler ihre Läden zugemacht haben. Neonlampen tauchen alles
in ein trügerisch warmes Licht. Fast friedlich wirkt dann alles.
Doch die israelischen Militärpatrouillen und die Überwachungskameras,
die an jeder Straßenecke fest installiert sind, erinnern daran,
dass hier Krieg herrscht. Ich komme an einem Gedenkstein vorbei, der an
einen in diesem Straßengewirr ermordeten Juden erinnert. Fast unwillkürlich
ziehe ich meine Kamera unter der Jacke hervor, damit mich jeder auf den
ersten Blick als Tourist identifizieren kann. Wo anders ist mir das eher
peinlich, hier kann es Leben retten.

Das jüdische Viertel
in der Altstadt erkennt man schon von weitem am durchweg guten Zustand
der Bausubstanz. Hier gab es schon jüdisches Leben vor der Staatsgründung,
aber nicht jedes Araber, der nach 1967 hier wegzog, ging freiwillig. Von
Enteignungen hört man. Hier zeigt die national-religiöse Szene
Flagge, aber auch die Lubawitzer Chassiden tummeln sich hier, die in Menachem
Schneerson, dem verstorbenen Rebbe aus Brooklyn, ihren Messias sehen.
Vergleichsweise wenig Anhänger haben (zum Glück!) die Kreise,
die hier am dritten Tempel planen. Nicht nur planen, sondern bereits Fonds
auflegen, Handtücher und Postkarten verkaufen zur Finanzierung ihres
Heiligtums. Was die Sache politisch ziemlich heikel macht: Der Bauplatz
soll sich genau an der Stelle befinden, wo sich heute Felsendom und El-Aqsa-Moschee
befinden. Keine sehr gute Idee.

Die Jerusalemer Weststadt
gleicht einer modernen europäischen Großstadt. Keine engen
Gassen mit orientalischem Flair, sondern breite Straßen, oft mehrspurig,
gesäumt von mehrstöckigen Häusern. Kaum vorstellbar, dass
bis in die Mitte des 19. Jhd. Jerusalem auf das Gebiet innerhalb der Stadtmauern
beschränkt war. Doch die steigende Zuwanderung verschlechterte zunehmende
die sanitäre Situation in der Stadt, die Mieten stiegen in astronomische
Höhen. 1955 kaufte der britische Bankier Moses Montefiore für
1000 Pfund ein Stück Land von einem reichen Moslem. Dort entstand
1960 „Mishkenot Sha’ananim“ - eine wehrhafte Siedlung,
die aus zwei langgezogenen Gebäuden mit insgesamt 16 Wohnungen bestand.
Es gab zwei Synagogen (eine sephardische und eine ashkenasische), ein
Ritualbad und eine Windmühle, wo arabische Fellachen ihr Getreide
mahlen lassen konnten. Bald folgten andere Siedlungen wie Nachalat Shiva,
benannt nach den ersten sieben Familien, die sich hier niederließen,
oder Mea Shearim, das Zentrum des orthodoxen Judentums, dem in Jerusalem
ein enorm hoher Stellenwert zukommt.

Sicherheitskräfte
wohin man auch schaut: Polizeiposten an allen wichtigen Straßenkreuzungen,
ständige Militärpatroullien, privates Wachpersonal an den Eingängen
zu allen größeren kulturellen Einrichtungen, Supermärkten
oder Behörden. Oft sind es Neueinwanderer, die sich hier ein paar
Schekel dazu verdienen. Auch an unserer Hotelpforte ein junges Mädchen,
bewaffnet mit einer Kleinkaliberpistole und einem Metalldetektor. Schießen
gelernt hat sie wahrscheinlich beim Militär. Wehrpflicht besteht
auch für Frauen in Israel. Die Rüstungsausgaben liegen in den
letzten Jahren bei 10-15% des Staatshaushaltes, früher waren es noch
wesentlich mehr. Ohne amerikanische Kredite wäre Israel längst
pleite.

9.30 Uhr
Abfahrt in einem arabischen Bus, denn es geht in die Palästinensergebiete.
Es wäre nicht das erste Mal, dass ein israelischer Bus in der Westbank
mit Steinen beworfen oder beschossen worden wäre. Wir sitzen noch
nicht alle auf unseren Plätzen, da kommt die Mahnung zur Eile: Wir
müssen los. In der Innenstadt, gut ein Kilometer Luftlinie von uns
entfernt, hat es vor wenigen Minuten einen Anschlag auf einen Linienbus
gegeben. Wenn wir nicht rechtzeitig den Checkpoint erreichen, werden wir
möglicherweise zurückgeschickt. Auf der Hebron Road, die nach
Süden führt, kommen uns schon Krankenwagen und Militärfahrzeuge
entgegen. Die Luft ist erfüllt vom Heulen der Sirenen. Nach fast
4 Monate Pause hat der Terror wieder einmal zugeschlagen.

Am Checkpoint
dann der erwartete Stau. Straßensperren, Stacheldraht, aufgeregt
umherlaufende Soldaten. Eine bedrückende Atmosphäre. An einem
der riesigen Betonquader, die die Straße blockieren, steht eine
orthodoxe Jüdin und betet, wobei sie leicht mit dem Oberkörper
hin und her wippt. Ein seltsamer Ort, um Gott zu preisen, denke ich. Sie
trägt ein schwarzes Kleid und eine farbige Kopfbedeckung. Möglicherweise
eine Siedlerin auf dem Weg zurück in die besetzten Gebiete. Ein Kleinbus
nimmt die Frau mit. Vielleicht heute die letzte Chance für sie, über
die Grenze zu kommen. Zwischen den Straßensperren laufen, unbeschwert
lachend und scheinbar ziellos, ein paar orthodoxe Juden umher. Die Soldaten
nehmen kaum Notiz von ihnen. Ebenfalls zu Fuß nähert sich eine
keine Gruppe von Palästinensern dem Kontrollpunkt. Einer der Soldaten
sieht sie und fordert sie auf, sich unverzüglich an die Wand zu stellen.
Dort standen sie auch noch als wir nach über einer halben Stunde
gesagt bekamen: Für heute ist die Grenze gesperrt.

Bet Jala
liegt zwischen Bethlehem und Jerusalem. Hier gibt es eine der fünf
Gemeinden der evang-lutherischen Kirche von Jordanien und Palästina.
Ihr gehören 520 Personen aus 72 verschiedenen Familien an, viele
von ihnen leben in Mischehen. Der Gottesdienstbesuch liegt bei 60-70%.
Gerade eben [30.10.2003] wurde die Abrahamsherberge eingeweiht, ein hervorragend
ausgestattetes Begegnungszentrum für Christen, Juden und Moslems.
Dennoch blickt Pfarrer Jadalla Shehade mit Sorge in die Zukunft: Die Gäste
bleiben aus. Die politische Lage ist derzeit zu instabil, als dass Gruppen
aus Europa sich hierher trauten. Jüdische Gäste können
schon gar nicht kommen. Für sie sind die Grenzen zur Westbank geschlossen.
Nur die Siedler kommen durch, aber die sind an Begegnung wenig interessiert.

„Das Glücke des einen Volkes hängt
vom Glück des anderen Volkes ab“
sagte am Morgen Pastor Shehade. Wie Recht er hatte, merken wir bereits
am Nachmittag, als wir Bet Jala fast fluchtartig wieder verlassen müssen.
Das Gerücht macht die Runde, der Busattentäter von Jerusalem
sei aus Bet Jala gekommen. Nervosität macht sich breit bei unseren
palästinensischen Gesprächspartnern, die bereits zuvor Befürchtungen
in diese Richtung ausgesprochen hatten. Sie wissen bereits, was das für
sie nach sich ziehen kann: Durchsuchungen, Schießereien, Ausgangsverbote.
Wir ziehen es vor, nicht darauf zu warten, bis die Israelis hier sein
würden. Taxis bringen uns an den Stadtrand, einige hundert Meter
zu Fuß und wir sind wieder auf israelischem Territorium. Wie zum
Hohn taucht die untergehende Abendsonne die alten knorrigen Ölbaumanlagen
in ein wunderschönes warmes Licht. Wandern müsste man hier –
und alles vergessen.

Eines der Krankenhäuser
wohin man die 44 Opfer des Terroranschlags auf die Buslinie 19 brachte,
ist das orthodoxe Sha´are Zedek, das im 19. Jhd. von einem deutschen
Juden gegründet worden war. Nur andeutungsweise kommt der stellvertretende
Direktor, Nachum Pessin, auf die Ereignisse vom Vortag zu sprechen. Aber
die wenigen Details genügen, um uns ein Bild von den Grauen zu vermitteln,
das sich regelmäßig hier nach Anschlägen abspielt. Im
Eingangsbereich hängt das Bild eines freundlich blickenden Mannes
mit Bart und Kippa: Es ist der Chefarzt der Notaufnahme, David Appelbaum.
Er fiel selbst im letzten Jahr einem Anschlag zum Opfer. Er kam gerade
von seiner Tochter, mit der er noch Details ihrer Hochzeit besprechen
wollte. Natürlich werden auch Palästinenser hier behandelt,
erklärt uns Nahum fast entrüstet, als ob wir etwas ganz Dummes
gefragt hätten. Doch nachdenklich fügt er die Geschichte von
dem jungen Araber an, der hier in Sha´are Zedek regelmäßig
zur Dialyse ging. Nach seiner Entlassung sagte jener zu seinen Pflegern:
„Schade, dass ich nicht gesund genug bin, um auch ein Märtyrer
zu werden und euch Juden in die Luft zu sprengen.“

"Willkommen im Ghetto"
steht in Großbuchstaben an der acht Meter hohen Mauer, vor der ich
stehe. Die Mauer ist ein Teilabschnitt des sogenannten Antiterrorzauns,
mit dem sich Israel vor Selbstmordanschlägen schützen will.
Noch ist er nicht ganz geschlossen, aber die Löcher werden nach und
nach gestopft. Wird er Israel wirklich mehr Sicherheit bringen? Die Regierung
behauptet es und viele Bürger wissen auch keine bessere Lösung:
„Wir können doch nicht tatenlos mit ansehen, wie sie einen
Bus nach dem anderen in die Luft sprengen“, sagt eine junge Frau
im Hotel verzweifelt. Doch die Mauer wird den Hass auf die Israelis nur
noch schüren: 6250 a Land wurden für ihren Bau enteignet. Vielen
Palästinensern wurde der Weg zu ihren Arbeitsplätzen, zu ihrem
Acker oder zu ihrer Schule abgeschnitten. Die wirtschaftliche Situation
in den besetzten Gebieten wird sich weiter zuspitzen. Schon jetzt gibt
es dort vereinzelt Hunger.

Das Attentat
auf die Buslinie 19 zieht seine blutige Spur durch die ganze Stadt. Ein
41-jähriger Neueinwanderer aus Kanada gehört ebenso zu den Opfern
wie der 38-jährige Vorsitzende der Großen Synagoge, der kurz
zuvor noch sein Kind zum Kingergarten gebracht hatte. Einer der 10 Getöteten
war Eli Zefira, Hausmeister in der Modell-Schule Nissui, die wir am letzten
Tag unseres Jerusalem-Aufenthalts besuchen. Eli war beliebt hier. Das
zeigen die Bilder an den Wänden, auf denen die Schüler ihre
Wut und ihre Trauer angesichts dieses Verbrechens zum Ausdruck gebracht
haben. Fast alle zeigen sie einen zerfetzten Bus, schießende Männer
und Tränen. Tränen, die sie vielleicht selbst vergossen haben,
als sie das Bild von ihrem Hausmeister gemalt haben, der am Donnerstag
zum letzten Mal zu seiner Schule fahren wollte.
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