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Die NS-Opfer Sophie Scholl und Anne Frank haben mit Corona nichts zu tun!
Bei einer Anti-Corona-Demonstration in St. Wendel 2020
trägt ein Mann nachweisbar einen gelben Stern mit dem Aufdruck „ungeimpft“.
Ein AfD-Vorsitzender aus dem Saarland läuft in der ersten Reihe bei
einer Anti-Corona-Demo in Chemnitz mit und heftet sich eine „weiße
Rose“ ans Revers. Auf einem Flugblatt eines sog. „Bundes gegen
Anpassung“, das in Saarbrücken in den Briefkästen in der
Bayernstraße verteilt wurde, heißt es, dass „Impfskeptikern“
der Zugang zu öffentlichem Leben erschwert oder gar versagt werde,
was „dem klassischen Judenstatus zumindest verdammt ähnelt.“
Der Impfnachweis wird als „zeitgemäßer, als elektronische
Fußfessel fungierender „Arier“-Nachweis“ tituliert.
Das Infektionsschutzgesetz der Bundesregierung wird mit dem Ermächtigungsgesetz
der Nationalsozialisten, mit dem sich Hitler 1933 die uneingeschränkte
Macht sicherte, auf eine Stufe gestellt. Bundesweit bekannt geworden sind
zwei Beispiele für missbräuchliche Vergleiche mit Opfern des
NS-Regimes: Die 22jährige Jana aus Kassel, die auf einer Rede bei
einer Querdenker-Demo in Hannover behauptet, sie sei im Widerstand und
fühle sich wie Sophie Scholl. Bei einer anderen Veranstaltung gleicher
Couleur sagt ein 11jähriges Mädchen, sie habe bei ihrem Geburtstag
aus Angst, von den Nachbarn verpetzt zu werden, heimlich gefeiert: „Ich
fühlte mich wie bei Anne Frank, wo sie mucksmäuschenstill sei
mussten, um nicht erwischt zu werden.“
Es ist furchtbar, dass jemand, der wie Jana gerade lauthals seine Meinung
öffentlich kundtut, sich überhaupt mit einem NS-Opfer vergleicht.
Sophie Scholl gehörte wie Willi Graf aus Saarbrücken zur Widerstandsgruppe
„Weiße Rose“, die ab 1942 an der Münchner Universität
mit Flugblättern zum Widerstand gegen den Nationalsozialismus aufgerufen
hatte. Die Mitglieder wurden denunziert, verhaftet, zum Tode verurteilt,
im Gefängnis München-Stadelheim grausam hingerichtet. Das jüdische
Mädchen Anne Frank hatte sich im von Deutschland besetzten Amsterdam
monatelang zusammen mit ihrer Familie in einem Hinterhauszimmer versteckt,
bis sie entdeckt und im KZ Bergen-Belsen ermordet wurde.
Was passiert in allen diesen Beispielen, die sich beliebig
verlängern ließen? Solche Vergleiche sollen suggerieren, dass
die coronabedingten Einschränkungen zum Schutz der Gesundheit der
Bevölkerung eine „Corona-Diktatur“ zur Folg hätten,
die Menschen genauso zu Opfern mache wie die Verfolgungs- und Vernichtungspolitik
der Nazis. Durch den Vergleich mit NS-Opfern stilisiert man sich selbst
als Opfer hoch, versucht auf diese Weise, Aufmerksamkeit zu erheischen.
Das alles ist haarsträubender Humbug und gefährlich obendrein:
Es stellt eine erschreckende Verhöhnung der NS-Opfer dar, bedient
antisemitische Klischees, verharmlost die Nazi-Verbrechen. Diese - nicht
nur, aber vorwiegend - rechte Szene versucht, die Ereignisse, die historisch
einzigartig sind, und die Gräueltaten und schwersten Verbrechen in
der NS-Zeit, zu entkontextualisieren und zu relativieren.
Der unbestreitbar nach demokratischen Spielregeln zu führende politische
Diskurs über in dieser gesellschaftlichen Krisensituation geeignete
Maßnahmen zur Pandemiebekämpfung wird radikalisiert. Die gesellschaftliche
Spaltung der Gesellschaft wird so ohne Not vertieft, ohne dass es ein
sinnvoller Beitrag zu einer vernünftigen Diskussionskultur wäre,
der versöhnend wirken könnte. Der Historiker Jens-Christian
Wagner sieht auch in der Erinnerungskultur Defizite: Man habe sich zu
sehr “auf die Identifikation mit den NS-Opfern beschränkt,
statt danach zu fragen, warum diese Menschen zu Opfern wurden.“
Man müsse verstehen, was die Täter antrieb „und warum
die meisten Deutschen im Nationalsozialismus bereitwillig mitmachten.“
Auch das trage dazu bei, dass sich jemand wie die junge Jana aus Kassel
derartig mit den Opfern identifiziere oder sich selbst als Verfolgte sehe.
Hieran weiter zu arbeiten ist Aufgabe auch der Landesarbeitsgemeinschaft
Erinnerungsarbeit im Saarland die seit Herbst 2018 besteht. Einstweilen
aber gilt die schlichte wie eingängige Faustregel: Bitte alle NS-Vergleiche
nicht nur in der derzeitigen Krisensituation unterlassen. Weder Sophie
Scholl noch Anne Frank haben als NS-Opfer etwas mit Corona zu tun. Rauben
wir ihnen nicht auch noch posthum ihre Würde.
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1700 Jahre Judentum in Deutschland - Kein Grund zum Feiern, aber für
Nachdenklichkeit und Dankbarkeit -Eine Nachlese
2021 begingen jüdische Gemeinden in Deutschland
ein besonderes Jubiläum: Im Jahr 321 erlaubte der römische Kaiser
Konstantin den Kölner Ratsherren, Juden in den Rat der Stadt zu berufen
zu dürfen. Dieses Gesetz stellt den ersten Nachweis jüdischen
Lebens nördlich der Alpen dar: Seit 1700 Jahren leben Jüdinnen
und Juden nachweislich auf dem heutigen Staatsgebiet der Bundesrepublik
Deutschland.
Nachdenklichkeit
Freilich gilt es zu bedenken, dass Juden bereits vorher als vor 1700 Jahren
nördlich der Alpen, auch in Köln, ansässig waren - sonst
wäre ihre Existenz nicht gleich 321 bestätigt worden und sie
hätten nicht gleich Ämter in der Stadtverwaltung bekleiden können.
Leider gibt es dazu bisher keine Belege. Auch hat Konstantin nicht aus
positiver Haltung gegenüber den Juden 321 ein Gesetz erlassen. Sondern
er verfügte, dass sie von städtischen Verwaltungsämtern
nicht mehr befreit sein sollten. Damit war die Pflicht verbunden, den
Kaiser als Gott zu ehren. Das war für fromme Jeden verbotener Götzendienst.
Zu dieser Zeit war das Christentum in Mitteleuropa noch nicht angekommen.
Durch die Christianisierung begann der Antijudaismus. Die Juden wurden
als „Christusmörder“ bezeichnet. Der weitere Weg hin
zum Antisemitismus rassischer Prägung ist bekannt. Höhepunkt
war die Tötung von sechs Millionen Jüdinnen und Juden in der
Shoah, einem singulären Menschheitsverbrechen, das auf deutschem
Boden geschah und von hier aus bis hin zu den Vernichtungslagern in Osten
seinen Lauf nahm. In der Reichspogromnacht kamen ca. hundert Menschen
bereits um, wurden aus ihren Wohnungen geprügelt und in KZs gebracht.
Fälschlicherweise wird diese Nacht vom 9.auf 10.11.38 oft „Reichskristallnacht“
genannt. Dies suggeriert als sei hier nur Glas zu Bruch gegangen. Das
“Kristall“ unterstellt, dass Juden generell reich seien und
kristallene Lüster zuhause gehabt haben sollen: Dabei war das Judentum
überwiegend in der Pfalz armes Landjudentum!), lediglich in den großen
Städten, namentlich Ludwigshafen, gab es betuchtere Kaufleute. 1988
anlässlich der 50.Wiederkehr bezeugten die EKD und der Bund ev. Kirchen
in der DDR: „Was da geschah, geschah vor aller Augen. Niemand kann
sagen, er habe von nichts gewusst. Diejenigen, die dies Verbrechen vorbereiteten,
konnten dabei mit der Zustimmung und oft gleichgültigem Wegsehen
bei der Mehrheit des Volkes rechnen, auch wir Christen haben damals geschwiegen.“
Deshalb hat die Evang. Kirche der Pfalz ihre Kirchenverfassung geändert
und darin bekannt, dass Gottes Bund mit Israel und den Juden unverbrüchlich
gelte und dass sich Derartiges nie wieder auf deutschem Boden oder anderswo
wiederholen dürfe. Bereits 1945 hatten deutsche Juden der deutschen
Gesellschaft die Hand zur Versöhnung gereicht und nach und nach entstanden
wieder jüdische Gemeinden, freilich eine viel geringere Zahl als
vorher. Im Saarland gab es vor 1938 23, nach 1945 nur noch eine Gemeinde.
In der Pfalz gründete sich die Jüdische Kultusgemeinde der Rheinpfalz,
die lange ihren Sitz in Neustadt, jetzt in Speyer hat. Synagogen gibt
es in Speyer (die umgebaute St.Guido- Kirche) und in Kaiserslautern.
Dankbarkeit
Wir dürfen dankbar sein, dass nach dem schrecklichen Geschehen der
Shoah sich wieder Jüdinnen und Juden in Deutschland ansiedelten und
Gemeinden gründeten, nach 1945 lebten hier 23000 Juden. Seit der
Öffnung des „Eisernen Vorhangs“ sind die fast aussterbenden
Gemeinden durch russische Auswanderer jüdischen Glaubens gestärkt
worden, sodass heute etwa 94000 Juden hier leben, eine gewaltige Herausforderung
für den jüdischen Wohlfahrtsverband und die Gemeinden, die jetzt
oftmals zweisprachig agieren (deutsch/russisch). Mit Freude darf man auch
auf die Blütezeit des Judentums in Deutschland im Mittelalter schauen:
In Speyer, Worms und Mainz wurden Gemeinden gegründet, ab dem Jahr
1000 wurden in diesen Städten Gelehrtenschulen gegründet, die
wirtschaftlich und kulturell Fortschritte für die ganze Bevölkerung
brachten. Sie sog SCHUM-Städte sind wegen dieser reichen jüdischen
Zeugnisse als Weltkulturerbe jüngst anerkannt worden. Unsere Gesellschaft
wird mitgeprägt auch durch Persönlichkeiten aus dem 20. Jahrhundert:
In der Literatur Heinrich Heine, Rose Ausländer, Elke Lasker-Schüler;
in der Wirtschaft Levi Strauss; in der Wissenschaft Lise Meitner, Albert
Einstein und der zeitweilig in Ludwigshafen wohnende Ernst Bloch, in der
Malerei Marc Chagall und Max Lieberman, in der Musik Felix Mendelssohn-Bartholdy
und Gustav Mahler. Sie nannten sich „Deutsche Staatsbürger
jüdischen Glaubens“: In der Politik war Kurt Eisner als jüdischer
Sozialist Ministerpräsident in Bayern und Walther Rathenau, ein liberaler
Industrieller, erster jüdische Reichsaußenminister. Aus Landau
stammt etwa auch der berühmte Rabbiner Dr. Elias Grünebaum (1807-1893).
In der Pfalz gab es bedeutende Synagogenbauten, etwa die in Landau durch
Ludwig Levy entworfene und 1884 eingeweihte Synagoge. Die große
Ludwigshafener Synagoge, eingerahmt durch evangelische und katholische
Kirche, erfuhr keinerlei Hilfe durch die Glaubensgeschwister und wurde
1938 abgebrannt. Die Feuerwehr löschte nicht, sondern passte nur
auf, dass die Nebenhäuser nicht in Brand gerieten. Eine Schande!
Vielerorts erinnern lediglich kleine Gedenktafeln an die Synagogen und
Bethäuser. Auch an den stattlichen Bau von 1851 mit maurischen Anklängen
in Lustadt erinnert nichts mehr. Es war einer der schönsten Bauten
der Pfalz mit neoislamischen Architekturelementen. Eine Gedenktafel gibt
es bisher nicht. Dass es jüngst einen ersten Militärrabbiner
bei der Bundeswehr gibt, ist erfreulich, haben doch über 100000 Juden
im Ersten Weltkrieg für ihr Vaterland Deutschland gekämpft,
10000 davon freiwillig.
Verpflichtung
All dies ist Grund zur Dankbarkeit und Mahnung, heutige
Tendenzen zum Antisemitismus, sei es von rechts oder von links oder von
muslimischer Seite, gilt es zu widerstehen. Von daher begrüße
ich es auch, dass die Bundesregierung den neuen Straftatbestand der verhetzenden
Beleidigung als neuer § 192a StGB einführt. Auch gilt es, dass
sich alle klar zum Existenzrecht Israels bekennen, die Sicherheit Israels
ist nicht verhandelbar. Auch für die Sicherheit der Synagogen und
deren Besucher in unserem Land muss der Staat geradestehen. Es darf nicht
sein, dass wie im Saarland der Ort des jüdischen Religionsunterrichts
aus Sicherheitsgründen geheim gehalten werden muss oder dass Juden
sich nicht mehr mit der Kippa erkennbar in die Öffentlichkeit wagen
können. Wenn dieses Jubiläum als Auftrag zu einem guten Miteinander
von Juden, Christen, Muslimen und allen anderen Religionen verstanden
wird, dann können wir eine Gesellschaft bauen, in der nicht nur Toleranz,
sondern Akzeptanz und Freude über ein bereicherndes Anderssein herrschen.
Heute können wir auf ein fröhliches, buntes und selbstbewusstes
Judentum blicken, insbesondere junge Jüdinnen und Juden tragen zu
dieser erfreulichen Entwicklung bei.
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