Zwei Miniaturen zum Gedenkjahr
1700 Jahre jüdisches Leben in Deutschland

von Frank-Matthias Hofmann
Kirchenrat der Evang. Kirche der Pfalz
Evangelisches Büro Saarland

 

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Die NS-Opfer Sophie Scholl und Anne Frank haben mit Corona nichts zu tun!

Bei einer Anti-Corona-Demonstration in St. Wendel 2020 trägt ein Mann nachweisbar einen gelben Stern mit dem Aufdruck „ungeimpft“. Ein AfD-Vorsitzender aus dem Saarland läuft in der ersten Reihe bei einer Anti-Corona-Demo in Chemnitz mit und heftet sich eine „weiße Rose“ ans Revers. Auf einem Flugblatt eines sog. „Bundes gegen Anpassung“, das in Saarbrücken in den Briefkästen in der Bayernstraße verteilt wurde, heißt es, dass „Impfskeptikern“ der Zugang zu öffentlichem Leben erschwert oder gar versagt werde, was „dem klassischen Judenstatus zumindest verdammt ähnelt.“ Der Impfnachweis wird als „zeitgemäßer, als elektronische Fußfessel fungierender „Arier“-Nachweis“ tituliert. Das Infektionsschutzgesetz der Bundesregierung wird mit dem Ermächtigungsgesetz der Nationalsozialisten, mit dem sich Hitler 1933 die uneingeschränkte Macht sicherte, auf eine Stufe gestellt. Bundesweit bekannt geworden sind zwei Beispiele für missbräuchliche Vergleiche mit Opfern des NS-Regimes: Die 22jährige Jana aus Kassel, die auf einer Rede bei einer Querdenker-Demo in Hannover behauptet, sie sei im Widerstand und fühle sich wie Sophie Scholl. Bei einer anderen Veranstaltung gleicher Couleur sagt ein 11jähriges Mädchen, sie habe bei ihrem Geburtstag aus Angst, von den Nachbarn verpetzt zu werden, heimlich gefeiert: „Ich fühlte mich wie bei Anne Frank, wo sie mucksmäuschenstill sei mussten, um nicht erwischt zu werden.“
Es ist furchtbar, dass jemand, der wie Jana gerade lauthals seine Meinung öffentlich kundtut, sich überhaupt mit einem NS-Opfer vergleicht. Sophie Scholl gehörte wie Willi Graf aus Saarbrücken zur Widerstandsgruppe „Weiße Rose“, die ab 1942 an der Münchner Universität mit Flugblättern zum Widerstand gegen den Nationalsozialismus aufgerufen hatte. Die Mitglieder wurden denunziert, verhaftet, zum Tode verurteilt, im Gefängnis München-Stadelheim grausam hingerichtet. Das jüdische Mädchen Anne Frank hatte sich im von Deutschland besetzten Amsterdam monatelang zusammen mit ihrer Familie in einem Hinterhauszimmer versteckt, bis sie entdeckt und im KZ Bergen-Belsen ermordet wurde.

Was passiert in allen diesen Beispielen, die sich beliebig verlängern ließen? Solche Vergleiche sollen suggerieren, dass die coronabedingten Einschränkungen zum Schutz der Gesundheit der Bevölkerung eine „Corona-Diktatur“ zur Folg hätten, die Menschen genauso zu Opfern mache wie die Verfolgungs- und Vernichtungspolitik der Nazis. Durch den Vergleich mit NS-Opfern stilisiert man sich selbst als Opfer hoch, versucht auf diese Weise, Aufmerksamkeit zu erheischen. Das alles ist haarsträubender Humbug und gefährlich obendrein: Es stellt eine erschreckende Verhöhnung der NS-Opfer dar, bedient antisemitische Klischees, verharmlost die Nazi-Verbrechen. Diese - nicht nur, aber vorwiegend - rechte Szene versucht, die Ereignisse, die historisch einzigartig sind, und die Gräueltaten und schwersten Verbrechen in der NS-Zeit, zu entkontextualisieren und zu relativieren.
Der unbestreitbar nach demokratischen Spielregeln zu führende politische Diskurs über in dieser gesellschaftlichen Krisensituation geeignete Maßnahmen zur Pandemiebekämpfung wird radikalisiert. Die gesellschaftliche Spaltung der Gesellschaft wird so ohne Not vertieft, ohne dass es ein sinnvoller Beitrag zu einer vernünftigen Diskussionskultur wäre, der versöhnend wirken könnte. Der Historiker Jens-Christian Wagner sieht auch in der Erinnerungskultur Defizite: Man habe sich zu sehr “auf die Identifikation mit den NS-Opfern beschränkt, statt danach zu fragen, warum diese Menschen zu Opfern wurden.“ Man müsse verstehen, was die Täter antrieb „und warum die meisten Deutschen im Nationalsozialismus bereitwillig mitmachten.“ Auch das trage dazu bei, dass sich jemand wie die junge Jana aus Kassel derartig mit den Opfern identifiziere oder sich selbst als Verfolgte sehe. Hieran weiter zu arbeiten ist Aufgabe auch der Landesarbeitsgemeinschaft Erinnerungsarbeit im Saarland die seit Herbst 2018 besteht. Einstweilen aber gilt die schlichte wie eingängige Faustregel: Bitte alle NS-Vergleiche nicht nur in der derzeitigen Krisensituation unterlassen. Weder Sophie Scholl noch Anne Frank haben als NS-Opfer etwas mit Corona zu tun. Rauben wir ihnen nicht auch noch posthum ihre Würde.

 

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1700 Jahre Judentum in Deutschland - Kein Grund zum Feiern, aber für Nachdenklichkeit und Dankbarkeit -Eine Nachlese

2021 begingen jüdische Gemeinden in Deutschland ein besonderes Jubiläum: Im Jahr 321 erlaubte der römische Kaiser Konstantin den Kölner Ratsherren, Juden in den Rat der Stadt zu berufen zu dürfen. Dieses Gesetz stellt den ersten Nachweis jüdischen Lebens nördlich der Alpen dar: Seit 1700 Jahren leben Jüdinnen und Juden nachweislich auf dem heutigen Staatsgebiet der Bundesrepublik Deutschland.

Nachdenklichkeit
Freilich gilt es zu bedenken, dass Juden bereits vorher als vor 1700 Jahren nördlich der Alpen, auch in Köln, ansässig waren - sonst wäre ihre Existenz nicht gleich 321 bestätigt worden und sie hätten nicht gleich Ämter in der Stadtverwaltung bekleiden können. Leider gibt es dazu bisher keine Belege. Auch hat Konstantin nicht aus positiver Haltung gegenüber den Juden 321 ein Gesetz erlassen. Sondern er verfügte, dass sie von städtischen Verwaltungsämtern nicht mehr befreit sein sollten. Damit war die Pflicht verbunden, den Kaiser als Gott zu ehren. Das war für fromme Jeden verbotener Götzendienst. Zu dieser Zeit war das Christentum in Mitteleuropa noch nicht angekommen. Durch die Christianisierung begann der Antijudaismus. Die Juden wurden als „Christusmörder“ bezeichnet. Der weitere Weg hin zum Antisemitismus rassischer Prägung ist bekannt. Höhepunkt war die Tötung von sechs Millionen Jüdinnen und Juden in der Shoah, einem singulären Menschheitsverbrechen, das auf deutschem Boden geschah und von hier aus bis hin zu den Vernichtungslagern in Osten seinen Lauf nahm. In der Reichspogromnacht kamen ca. hundert Menschen bereits um, wurden aus ihren Wohnungen geprügelt und in KZs gebracht. Fälschlicherweise wird diese Nacht vom 9.auf 10.11.38 oft „Reichskristallnacht“ genannt. Dies suggeriert als sei hier nur Glas zu Bruch gegangen. Das “Kristall“ unterstellt, dass Juden generell reich seien und kristallene Lüster zuhause gehabt haben sollen: Dabei war das Judentum überwiegend in der Pfalz armes Landjudentum!), lediglich in den großen Städten, namentlich Ludwigshafen, gab es betuchtere Kaufleute. 1988 anlässlich der 50.Wiederkehr bezeugten die EKD und der Bund ev. Kirchen in der DDR: „Was da geschah, geschah vor aller Augen. Niemand kann sagen, er habe von nichts gewusst. Diejenigen, die dies Verbrechen vorbereiteten, konnten dabei mit der Zustimmung und oft gleichgültigem Wegsehen bei der Mehrheit des Volkes rechnen, auch wir Christen haben damals geschwiegen.“ Deshalb hat die Evang. Kirche der Pfalz ihre Kirchenverfassung geändert und darin bekannt, dass Gottes Bund mit Israel und den Juden unverbrüchlich gelte und dass sich Derartiges nie wieder auf deutschem Boden oder anderswo wiederholen dürfe. Bereits 1945 hatten deutsche Juden der deutschen Gesellschaft die Hand zur Versöhnung gereicht und nach und nach entstanden wieder jüdische Gemeinden, freilich eine viel geringere Zahl als vorher. Im Saarland gab es vor 1938 23, nach 1945 nur noch eine Gemeinde. In der Pfalz gründete sich die Jüdische Kultusgemeinde der Rheinpfalz, die lange ihren Sitz in Neustadt, jetzt in Speyer hat. Synagogen gibt es in Speyer (die umgebaute St.Guido- Kirche) und in Kaiserslautern.

Dankbarkeit
Wir dürfen dankbar sein, dass nach dem schrecklichen Geschehen der Shoah sich wieder Jüdinnen und Juden in Deutschland ansiedelten und Gemeinden gründeten, nach 1945 lebten hier 23000 Juden. Seit der Öffnung des „Eisernen Vorhangs“ sind die fast aussterbenden Gemeinden durch russische Auswanderer jüdischen Glaubens gestärkt worden, sodass heute etwa 94000 Juden hier leben, eine gewaltige Herausforderung für den jüdischen Wohlfahrtsverband und die Gemeinden, die jetzt oftmals zweisprachig agieren (deutsch/russisch). Mit Freude darf man auch auf die Blütezeit des Judentums in Deutschland im Mittelalter schauen: In Speyer, Worms und Mainz wurden Gemeinden gegründet, ab dem Jahr 1000 wurden in diesen Städten Gelehrtenschulen gegründet, die wirtschaftlich und kulturell Fortschritte für die ganze Bevölkerung brachten. Sie sog SCHUM-Städte sind wegen dieser reichen jüdischen Zeugnisse als Weltkulturerbe jüngst anerkannt worden. Unsere Gesellschaft wird mitgeprägt auch durch Persönlichkeiten aus dem 20. Jahrhundert: In der Literatur Heinrich Heine, Rose Ausländer, Elke Lasker-Schüler; in der Wirtschaft Levi Strauss; in der Wissenschaft Lise Meitner, Albert Einstein und der zeitweilig in Ludwigshafen wohnende Ernst Bloch, in der Malerei Marc Chagall und Max Lieberman, in der Musik Felix Mendelssohn-Bartholdy und Gustav Mahler. Sie nannten sich „Deutsche Staatsbürger jüdischen Glaubens“: In der Politik war Kurt Eisner als jüdischer Sozialist Ministerpräsident in Bayern und Walther Rathenau, ein liberaler Industrieller, erster jüdische Reichsaußenminister. Aus Landau stammt etwa auch der berühmte Rabbiner Dr. Elias Grünebaum (1807-1893). In der Pfalz gab es bedeutende Synagogenbauten, etwa die in Landau durch Ludwig Levy entworfene und 1884 eingeweihte Synagoge. Die große Ludwigshafener Synagoge, eingerahmt durch evangelische und katholische Kirche, erfuhr keinerlei Hilfe durch die Glaubensgeschwister und wurde 1938 abgebrannt. Die Feuerwehr löschte nicht, sondern passte nur auf, dass die Nebenhäuser nicht in Brand gerieten. Eine Schande! Vielerorts erinnern lediglich kleine Gedenktafeln an die Synagogen und Bethäuser. Auch an den stattlichen Bau von 1851 mit maurischen Anklängen in Lustadt erinnert nichts mehr. Es war einer der schönsten Bauten der Pfalz mit neoislamischen Architekturelementen. Eine Gedenktafel gibt es bisher nicht. Dass es jüngst einen ersten Militärrabbiner bei der Bundeswehr gibt, ist erfreulich, haben doch über 100000 Juden im Ersten Weltkrieg für ihr Vaterland Deutschland gekämpft, 10000 davon freiwillig.

Verpflichtung

All dies ist Grund zur Dankbarkeit und Mahnung, heutige Tendenzen zum Antisemitismus, sei es von rechts oder von links oder von muslimischer Seite, gilt es zu widerstehen. Von daher begrüße ich es auch, dass die Bundesregierung den neuen Straftatbestand der verhetzenden Beleidigung als neuer § 192a StGB einführt. Auch gilt es, dass sich alle klar zum Existenzrecht Israels bekennen, die Sicherheit Israels ist nicht verhandelbar. Auch für die Sicherheit der Synagogen und deren Besucher in unserem Land muss der Staat geradestehen. Es darf nicht sein, dass wie im Saarland der Ort des jüdischen Religionsunterrichts aus Sicherheitsgründen geheim gehalten werden muss oder dass Juden sich nicht mehr mit der Kippa erkennbar in die Öffentlichkeit wagen können. Wenn dieses Jubiläum als Auftrag zu einem guten Miteinander von Juden, Christen, Muslimen und allen anderen Religionen verstanden wird, dann können wir eine Gesellschaft bauen, in der nicht nur Toleranz, sondern Akzeptanz und Freude über ein bereicherndes Anderssein herrschen. Heute können wir auf ein fröhliches, buntes und selbstbewusstes Judentum blicken, insbesondere junge Jüdinnen und Juden tragen zu dieser erfreulichen Entwicklung bei.

 

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