Im gleichen Alter zeitgleich zu Tode gekommen

Israelische Soldaten hinterlassen zerstörte Häuser

Freitag, 12. April 2002 ? 15 Uhr MEZ Sommerzeit (3 p.m. Palästina / 4 p.m. Israel)

Zu diesem Zeitpunkt endet das Leben von zwei Menschen. Sie sind beide gleich alt, lebten in weniger als zehn Kilometer Distanz, waren gesund und dachten in diesem Augenblick sicher nicht an ihren Tod. Es handelt sich um Zuhila Hushi, 47 Jahre alt, wohnhaft in Jerusalem und um Atallah Al Hayek., ebenfalls 47 Jahre
alt, aus Beit Sahour.

Zuhila Hushi wird zu diesem Zeitpunkt, mit fünf anderen zusammen, von der Selbstmord-Attentäterin Andaleeb Taqataqah aus dem Dorf Beit Fajar, zwischen Bethlehem und Hebron gelegen, bei der Bushaltestelle am Markt Mahane Yehudah mit in den Tod gerissen. Dieses scheußliche Attentat findet am Freitagabend bereits Eingang in die
Weltmedien. Der amerikanische Außenminister Powell, auf Vermittlungstour im Nahen Osten, sagt daraufhin das für den darauf folgenden Samstag geplante Treffen mit Arafat ab. Er wie sein Präsident und andere Staatsmänner der Welt verdammen dieses Attentat.

Atallah Al Hayek findet wie gesagt fast exakt zum selben Zeitpunkt seinen Tod, unter zumindest ebenso heimtückischen Umständen, jedoch geräuschlos, d.h. ohne jegliche Öffentlichkeit. Die Nachricht dringt wohl nur wenig über Beit Sahour und aus der Bethlehem-Region hinaus. Seine Geschichte soll deshalb hier dargestellt werden. Dies geschieht nicht unter dem Blickwinkel, Tod gegen Tod, bzw. Mord gegen Mord aufzurechnen, Tote kann man nicht aufrechnen, zumal nicht in einer Zeit, wo ohnehin die Statistik die Köpfe in diesem Lande zu regieren scheint, etwa bei der Fragestellung, ab wieviel Toten im Flüchtlingslager in Jenin man von einem Massaker sprechen darf.
Die Geschichte von Atallah Al Hayek wird aber aufgeschrieben, weil sie mir besonders zeigt, welch Schindluder man mit Worten wie Selbstverteidigung, Kampf dem Terror und Aktion Schutzwall treiben kann und damit Menschen in aller Welt Sand in die Augen zu streuen versucht. Ich habe die Geschichte recherchiert, weil ich die Zeugen kenne und weil ich mit diesen zusammen über den Tod von Atallah Al Hayek betroffen bin, er war nämlich der Cousin unserer Sozialkunde-Lehrerin Hanan, und er fand den Tod, wurde ermordet vor dem Haus unserer Arabisch-Lehrerin Samira, ein Umstand, der diese Geschichte in seiner Tragik noch verstärkte, wie ich später berichten muss.

Unser Deutschlehrer Z. hat dies miterlebt und in folgenden Sätzen dargestellt: "Dieser Freitag war der 11. Invasionstag der israelischen Armee in der Bethlehem-Region. An diesem Tag gab es in Beit Sahour eine neue Welle von Hausdurchsuchungen. Israelische Soldaten hatten schon das 'Saba-Gebäude' in unmittelbarer Nähe der Moschee durchsucht. Mehrere Soldatentrupps, geschützt durch Panzer und Militärfahrzeuge, wurden an vielen Stellen der Stadt gesichtet. Man verständigte sich von den Plätzen und Aktionen neben dem Telefon mit dem altbewährten Mittel des 'Von-Haus-zu-Haus-Rufen'. Einer dieser Trupps, der etwa 20 schwerbewaffnete Soldaten zählte, begleitet von zwei Panzern und einem Militärjeep, erreichte am frühen Nachmittag Wadi Abu Sa'ada, an dessen Rande mein Haus liegt. Mein Bruder beobachtete sie von seinem höher gelegenen Haus mit einem Fernglas und teilte mir telefonisch mit, dass sie in der Nähe des Hauses eines Kollegen von mir sind. Ich rief sofort meinen Kollegen an, der mir aber beruhigend versicherte, dass sie an seinem Haus bereits vorbeimarschiert sind. Etwas später hörten wir zwei MG-Salven, die kaum 150 m von uns entfernt in Wadi Abu Sa'ada abgefeuert wurden. Es folgten zwei Minuten Toten-Stille. Danach rief mich mein Bruder erneut an und erzählte mir aufgeregt, dass die israelischen Soldaten gerade auf einen braunen Opel, der sich ihnen auf der Strasse näherte, geschossen hätten, und fragte mich, ob ich die Schüsse auch gehört hätte."

Was war geschehen? Dies waren die Todesschüsse für Atallah Michael Al-Hayek.

Atallah Al-Hayek, den fast jeder in Beit Sahour kannte, studierte Rechtswissenschaften und erhielt nach 5-jaehrigem Studium die Anwaltslizenz; er übte aber seinen akademisch-erlernten Beruf kaum aus. Er war der Typ eines geborenen Geschäftsmannes. Schon als 7-jaehriger Junge half er seinem Vater, der Kerosinhändler war. Atallah träumte von einer eigenen Tankstelle, der ersten in Beit Sahour. Diesen Traum hat er mit viel Fleiß verwirklicht. Er war
ein hilfsbereiter, humorvoller, vielseitig interessierter Mitbürger, der für seine Heimatstadt Beit Sahour auch großzügig spendete und sich vor allem für die ärmeren Mitbürger engagierte. Sein Geschäft florierte in den letzten Jahren sehr
gut, so dass Atallah begann, von seinem Gewinn ein Mietshaus zu errichten, im besagten Wadi Abu Sa'ada.

Als die Israelis an diesem Freitag sein neues Mietshaus erreichten und durchsuchen wollten, verlangten sie nach dem Türschlüssel. Der war in Atallah's eigenem Wohnhaus, denn dieses Haus im Wadi Abu Sa'ada stand noch leer da. Die Soldaten forderten daraufhin die Nachbarn auf, den Besitzer unverzüglich herbeizuholen, was sie auch taten. Atallah kam der Aufforderung unmittelbar nach und fuhr mit seinem Opel zu seinem noch nicht bezogenen achtstöckigen Wohngebäude. Als er sich diesem näherte, gestikulierten israelische Soldaten, ihn auffordernd, nicht näher zu kommen, sondern zu drehen. Er zögerte einen Augenblick, verwirrt, weil er doch von denselben herbei beordert wurde. Als er zum Wenden ansetzte, wurde er von einem auf einem Dach postierten Scharfschützen
beschossen und von zwei Kugeln in den Hinterkopf getroffen. Als Nachbarn zu Hilfe eilen wollten, wurden sie mit Sirenengeheul, Warnschüssen und unmissverständlichen Gesten in die Häuser zurück getrieben. Die schreckliche Szene geschah vor der Haustuer von Frau Zahra Abu Sa'ada, 74 Jahre alt, der Schwiegermutter unserer Arabisch-Lehrerin Samira. Die kranke Frau wurde Augenzeugin dieses Mordanschlages und der unterlassenen Hilfeleistung. Ihr
krankes Herz konnte diesen Schock nicht verkraften und sie brach zusammen, war auf der Stelle tot.

Der Angeschossene aber musste fast eine Stunde in seinem Auto verbleiben, weil die israelischen Soldaten ihm jede ärztliche Hilfe verweigerten. Als sie dann seinen Transport mit dem Ambulanz-Wagen zur nahegelegenen Hirtenfeldklinik erlaubten, konnte dort nur noch sein Tod festgestellt werden. Atallah M. Al-Hayek ist Vater von 5 Kindern (3 Jungs und 2 Mädchen), im Alter von vier bis neunzehn Jahren.

Beide, Atallah M. Al-Hayek und Zahra Abu Sa'ada, wurden unter hektischen, schier unwürdigen Umständen am späten Nachmittag desselben Tages kirchlich bestattet und beerdigt. Trotz der von der Invasionsarmee verhängten Ausgangssperre strömten Hunderte Beit Sahouris aus ihren Häusern, um von den beiden den letzten Abschied zu nehmen.

In den israelischen Nachrichten am selben Abend erklärt der Sprecher der Regierung Sharon, dass Israel dem Wunsche, der Forderung von Präsident Bush, sich aus den Autonomiegebieten zurück zu ziehen, leider, leider nicht so schnell entsprechen könne; die Armee operiere nämlich in dicht besiedelten Gebieten und wolle so vorsichtig wie möglich vorgehen, um die palästinensische Zivilbevölkerung zu schonen. Ein zynischer Nachruf auf Atallah M. Al-Hayek?!

Beit Jala, 15. April 2002 W. Goller

Quelle: "EMS-Informationsdienst zur Lage im Nahen Osten"

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