Otto Brunner: Die Deportation nach Gurs im Oktober 1940

 


Gedenkstele vor dem Landauer Bahnhof

Nun zum Abtransport von Landau. An jenem bekannten Morgen [22.10.1940] kam Kriminalist Kissling und erklärte mir um 5 Uhr in der Frühe, dass ich mich innerhalb von zwei Stunden zum Abtransport fertig zu machen habe. Ich hatte meinen Koffer noch immer so ziemlich gepackt, so war ich ziemlich reisefertig, da man ja nicht mehr als 50 Pfund mitnehmen durfte. Zu mei¬ner Bewachung und Durchsicht meines Gepäckes war ein Schupooffizier in meiner Wohnung, bis dann ein Postauto kam und mich wie die anderen Juden in ihren Wohnungen abholte und uns in die Festhalle in Landau brachte, wo mir zuerst ein früherer Regimentskamerad half, mein Gepäck zu tragen, es auf Beschimpfung von den umstehenden SS-Leuten hin fallen ließ, so dass ich meinen Koffer allein schleifen musste. In der Festhalle selbst waren schon die Mitglieder von vielen pfälzischen Gemeinden eingetroffen. Verschiedene Formulare mussten dort unterschrieben werden, ich weiß selbst nicht mehr alles, was ich da in der Aufregung unterschrieben habe. Es hätte mir auch nichts genutzt, wenn ich mich geweigert hätte; im Gegenteil, ich hätte nur meine Lage verschlechtert. Eben der frühere Regimentskamerad hatte mich noch an der Festhalle beglückwünscht, dass wir nach Frankreich und nicht nach Polen kämen. Das fand auch seine Bestätigung, wenn uns die RM 100,-, welche jeder mitnehmen durfte, in FF. 2 000,- umgetauscht wurden. Der Vorstand des Altersheims in Neustadt gab mir auch noch RM 100,- zur Verteilung an die Ärmsten der Gemeinde. Auch über dieser Verteilung bekam ich nochmals Schwierigkeiten durch den bekannten Samson, der sich bei dem Kriminalisten beschwerte, dass er nicht so viel wie die anderen bekommen habe, und nur dem Wohlwollen dieses Beamten hatte ich es zu verdanken, dass ich nicht ins Konzentrationslager überwiesen wurde. In der Festhalle wurden uns noch einige Erfrischungen verabreicht, und so um 6 Uhr abends ging es dann mit den Postautos zur Verladerampe am Güterbahnhof Landau, wo wir in alte französische Personenwagen eingeladen wurden, das Gepäck kam alles in vier Güterwagen an der Spitze des Zuges. Als letzten bekannten Landauer sah ich unseren Spediteur Schmitt, als der Zug zum Bahnhof hinausfuhr: Ziel und Zeit unserer Fahrt un¬bekannt. Als Bedeckung war uns Schupo beigegeben.

Die Fahrt ging über Annweiler, Zweibrücken bis kurz vor Saargemünd, vor welcher Stadt wir die ganze Nacht lagen. Von dort aus ging es immer südlich, öfters an größeren Stationen haltend, bis wir am Abend in Dijon waren, wo uns zum ersten Mal eine warme Suppe gereicht wurde. Ich hatte mir vorsichtshalber ein paar Eier noch hartgemacht, sonst hätte ich einen ganzen Tag nichts zu essen gehabt. In der Nacht ging es dann noch zur seinerzeitigen De¬markationslinie des Waffenstillstandes, wo es hieß „Alle Fenster zu oder wir schießen." Wir hörten später, als wir am Morgen in Lyon ankamen, dass uns die Schupo an der Demarkationslinie verlassen hatte, und so fühlten wir uns im ersten Moment ziemlich frei. Wir konnten uns verschiedene Sachen am Bahnhof Lyon kaufen; viel gab es aber nicht, denn Frankreich stand ja ganz unter den Folgen der ungeheueren Niederlage. Zuerst wussten wir gar nicht, was nun käme, bis sich der Zug nach dem Süden im Laufe des Nachmittags in Bewegung setzte. Kurz vor Eintritt der Dunkelheit waren wir in einem Ort in der Nähe von Nîmes, wir durften uns dort etwas restaurieren, und ich fragte bei dieser Gelegenheit Herrn Dr. Rosenberg, ob er nun wisse, wo wir hinkämen, worauf er mir antwortete, er wisse so wenig wie ich. Wir fuhren dann die ganze Nacht durch und ich sah die Orte Toulouse und Lourdes vom Fenster des Zuges aus, hatte aber immer noch keine Ahnung, wo wir hinkämen.

In der Frühe waren wir in Pau, wo noch ein anderer badischer Transport stand, und dann ging es ins Gebirge herauf nach Orleron, wo wir vom Roten Kreuz noch verpflegt und dann ausgeladen wurden. Auf offenem Lastwagen wurden wir dann nach dem Lager Gurs, das ungefähr 3/4 Stunde vom Bahnhot Orleron entfernt liegt, überführt. Es war dies wirklich eine große Strapaze für die alten Leute auf den zugigen Wagen – es war doch immerhin Ende Oktober und Lager Gurs lag 1 000 Meter hoch am Abhang der Pyrenäen – fahren zu müssen. Bei dieser Gelegenheit muss ich noch erwähnen, dass die Frau von Leonhard Strauss, da fast vollständig gelähmt, in Landau zurückbleiben durfte, und wurde zu ihrer Pflege ihre jüngere Tochter zurückgelassen, während der Mann mit dem Transport mit nach Gurs kam. Außer meiner Mutter und dieser Frau wird Landau 'judenrein' geworden sein.

Natürlich war der Empfang im Lager Gurs etwas anständiger wie s. Zt. im Lager Dachau, dafür spottete die Beschaffenheit der Baracken und die Anlage des Lagers jeder Beschreibung, die Abortanlagen ganz abgesehen. Die Baracken hatten weder Fenster noch einen Holzboden und zuerst hatten wir nur unsere Schlafdecken, welche wir von zu Hause mitbrachten, als einzige Schlafgelegenheit. Das Lager selbst war in Hots eingeteilt und jedes Hot hatte ungefähr 16 Baracken. Männer- und Frauenlager waren voneinander getrennt, doch bekam man von Zt. zu Zt. Erlaubnis, sich gegenseitig zu besuchen. Ich benutzte diese Gelegenheit so oft wie möglich, um meinen Landauer Freundinnen Frau Rauh und Frau Steinern einen Besuch abzustatten und ihnen Mut zuzusprechen. Auch mit den anderen Landauer Damen kam ich öfters zusammen. Es war dies ein trauriger Anblick, all diese Menschen auf diesen Lagern, welche später Fußböden bekamen, liegen zu sehen. In der Aufregung der ersten Tage vergaß man ganz, in einen solch krassen Gegensatz gekommen zu sein. Alles auf einmal verloren, sogar seine ganze häusliche Gemütlichkeit und vor allen Dingen unter solchen unkultivierten Umständen untergebracht zu sein! Das Lager selbst stand zuerst unter der Militärverwaltung, kam aber bald unter die Direktion der Surté. Solange die Soldaten da waren, kamen manche Übergriffe vor, hauptsächlich durch betrunkene Offiziere. Die Küche in den einzelnen Hots wurde von den Juden betrieben, ebenso die Kantinen und in den Infermeries amtierten die gekommenen jüdischen Ärzte. Leider hatten die Küchen wenig zum Kochen und die Infermeries noch weniger Medizin und Verbandsstoffe zur Behandlung der Kranken, und so starben fast jeden Tag infolge dieser unzulänglichen Zustände 15 bis 20 Leute, am Anfang hauptsächlich die Alten später auch die Jungen, da die Körper durch die schlechte Ernährung immer weniger widerstandskräftig wurden. Ich hatte öfters Gelegenheit, zu den Beerdigungen mit auf den Friedhof zu gehen, und es blutete einem das Herz, wenn da jedes Mal so eine große Anzahl Menschen begraben wurde. Der Friedhof selbst war sehr schön angelegt, doch stand er vollständig unter Wasser.

Ich selbst hatte meine Beschäftigung, da ich am Tage die Barackenkantine führte und am Abend noch die französischen Zeitungen lesen musste, um dann täglich eine Übersicht über die politische und Kriegslage geben zu können. Solange die Leute noch alle Geld hatten, gab es in der Kantine allerhand zu tun, es gab damals noch Fleisch und Käse und manchmal auch Brot zu kaufen, und jeder hatte sein Konto, das ich auch noch führen musste. Im Frühjahr gab es dann als willkommene Zulage noch Eier. All dies war unbedingt notwendig, denn das Essen bestand täglich aus einer Karawanzensuppe, das waren so harte spanische Erbsen, und manchmal fand man auch ein Stück Fleisch in der Suppe schwimmend. Ich hatte das Glück, von meinen beiden Vettern Fritz und Heinrich nicht nur mit Lebensmittelpaketen, sondern auch mit Geld verproviantiert zu werden, so dass ich mich nach Überwindung der Naturstrapazen gut über Wasser halten konnte. Außerdem war ich auch zuversichtlich, insofern als gleich nach meiner Ankunft im Lager von Seiten meines Vetters Fritz alle Schritte unternommen wurden, mir die Einwanderung nach U.S.A. zu beschaffen ...

Inzwischen war es im Lager richtig Winter geworden. In den Baracken gab es nur Fensterhöhlen ohne Fenster, d. h. es waren statt Glas Holzverschläge, die zum Hinausstellen waren, vorhanden, da kann man sich vorstellen, welche Luft bei diesem kalten Wetter in den Baracken war, zudem fehlten am Anfang die kleinen Öfchen, die aber dann bald kamen und wohltuend empfunden wurden ...

Quelle:

Religionspädagogische Hefe 5/88, S.20f.

Links:

Wir feierten gerade „Sukkoth“. Hanna Meyer-Moses berichtet von ihrer Deortation nach Gurs
Klassenfahrt nach Berlin oder 70 Jahre Deportation nach Gurs, ein Anspiel von Wolfgang Kahler
Die Deportation der Pfälzer Juden nach Gurs, von Roland Paul
„Bei Nacht und Nebel“- Margot Wicki-Schwarzschild berichtet von der Deportation

Arbeitshilfe der evang. Kichen in Baden und der Pfalz (recht große pdf-Datei - 9,4MB!)
Dieses Heft enthält hist. Quellenmaterial, Bilder, Karten, ein Anspiel, sowie Gottesdiensthilfen.
Teile davon sind deckungsgleich mit den Artikeln oben.