Vortrag von Prof. Dr. Ernst Ludwig Ehrlich, Basel
anlässlich der „Woche der Brüderlichkeit“ am 16. März 2003, 17 Uhr, im Pfalzbau Ludwigshafen, veranstaltete von der Gesellschaft für Christlich-Jüdische Zusammenarbeit Rhein-Neckar e.V., zugleich als Veranstaltung zum 150 jährigen Stadtjubiläum der Stadt Ludwigshafen
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Die Gebotstafeln über dem
Schrein der Synagoge Mannheim |
Das Thema der „Woche der Brüderlichkeit“ in diesem Jahr lautet:
„Uns ist gesagt was gut ist“. Wir meinen, dass dieses Wort des Propheten
Micha bereits früher in der Bibel zum Ausdruck gekommen ist und zwar in
den so genannten zehn Geboten, wörtlich heisst es im Text die „Zehn
Worte“. Wenn wir diese zehn Worte vom Sinai uns heute vergegenwärtigen,
so ist alles vorhanden, was die drei grossen Religionen – Judentum, Christentum
und Islam - den Menschen anbieten, um miteinander leben zu können. Schon
der erste Satz weist in die entscheidende Richtung: „Ich bin der Ewige,
der Ich dich aus dem Lande Ägypten geführt habe, aus dem Hause der
Knechtschaft.“ Hier ist von der Selbstvorstellung Gottes die Rede, der
durch die Rettung Israels aus Ägypten die entscheidende Heilstat Gottes
an seinem Volke getan hat. Es war dieser eine Gott, der von seiner Seite wenigstens
den Bund gehalten hat, den er einst mit den Vätern schloss.
Dem folgt: „Du sollst keine anderen Götter mir gegenüber haben.“
Dieses Wort führt eine Reihe von Sätzen an, die dem Menschen den Weg
weisen. Es gibt in der Geschichte der Menschheit wenige durch die Jahrtausende
wirkende Grundsätze. Hier, in den zehn Worten vom Sinai, finden wir sie;
auf ihnen beruht bis heute die Ordnung unserer menschlichen Gesellschaft. Wo
man sich gegen diese Grundregeln vergeht, zerstört man die Grundlage menschlichen
Lebens auf Erden. Die Bibel hat stets empfunden, dass es nicht genügt,
diese Ordnung durch ein immanentes Gesetz zu sichern. Die zehn Worte erfahren
ihren tiefsten Sinn - und vor allem ihre Verankerung- dadurch, dass sie eine
Weisung Gottes selbst sind. Wer dagegen verstösst, schändet nicht
nur den Menschen sondern vergeht sich gegen Gott. Gott ist unsichtbar, aber
der Mensch kann ohne Gott nicht leben. Da jedes Bild von ihm unmöglich
ist, schuf er den Menschen in seinem Ebenbild. Was ist die Bedeutung des Menschen?
Er ist eine Erinnerung an Gott. Da Gott nicht überall sein kann, schuf
er den Menschen. „Du schaust auf den Menschen, und du wirst an Gott erinnert.“
Das hat ungeheure Folgen für die Ethik, denn Gott strebt nach Gerechtigkeit;
so soll auch der in seinem Bilde geschaffene Mensch Gott nacheifern.
Wozu nun rufen uns bis zum heutigen Tage diese zehn Worte auf? Das dritte Gebot
fordert von uns die Wahrhaftigkeit. Es wendet sich gegen jede Form der Heuchelei,
selbst wenn dazu etwa der Name Gottes verwendet wird. Sehr viel Unrecht, Gewalttätigkeit
und Lüge ist im Namen Gottes geschehen und geschieht leider auch heute
noch. Dieses Wort, den Namen Gottes nicht zu missbrauchen, hat daher auch heute
nichts von seiner Aktualität eingebüsst. Es ist für uns alle
eine ständige Warnung. Martin Buber übersetzt hier wörtlich so:
„Trage nicht Seinen, deines Gottes Namen, auf das Wahnhafte.“ Denken
wir heute daran, dass in einem Zeitalter der geistigen und sozialen Unsicherheit
überall auf der Welt Ersatzreligionen der verschiedensten Art, die mit
mehr oder weniger wohlklingenden Fremdwörtern Anhänger gewinnen wollen,
Menschen anziehen und verwirren. Oft handelt es sich um Profiteure, die aus
der Not der heutigen Menschen Kapital schlagen. „Trage nicht Seinen, deines
Gottes Namen, auf das Wahnhafte.“ Dieses Wort soll uns in unserer Gesellschaft
kritisch gegenüber Sektiererei machen, wie überhaupt die Gottesvorstellung
der Bibel von dem einen Gott unseren kritischen Sinn fördern kann.
„Gedenke des Sabbattages, ihn zu heiligen.“ Wenn wir uns einmal
vergegenwärtigen wollen, was Israel auf sozialem Gebiet der Welt geschenkt
hat, so ist es der Sabbat. Er ist mehr als ein blosser Ruhetag; er bedeutet
die entscheidende Zäsur im Leben des Menschen. Mit dem Sabbat gewinnt der
Mensch Macht über die Zeit: An einem Tag in der Woche hat der Mensch Zeit,
ist er aus der täglichen Routine herausgehoben. Der Sabbat ist zwar eine
soziale Institution, aber er erhält seine letzte Begründung durch
Gott, weil er - wie uns die Schöpfungsgeschichte berichtet - ein durch
Gott geheiligter und gesegneter Tag ist. Es gibt keine Religion ohne das soziale
Element Daher ist die Bibel - neben allem, was sie ist - auch ein grundlegendes
Werk der sozialen Ethik Diese biblische Ethik ruft gerade am Beispiel des Sabbats
zur Verwirklichung auf: Am Sabbat soll der Mensch immer aufs Neue seiner Menschenwürde
innewerden. Der Sabbat gemahnt den Menschen an seine Freiheit und an seine Würde.
Er ist das „Nein“ gegen jeden Zwang eines Plansolls der zäsurlosen
Dienstverpflichtung. Es ist ein Doppeltes: Am Sabbat wird sich der Mensch als
Mensch in besonderer Weise gewahr, am Sabbat gehört aber der Mensch auch
sich selbst. Der Sabbat schliesslich ist zum Vater des christlichen Sonntags
geworden, ein Nahtstück zwischen Judentum und Christentum. Daher ist es
nur natürlich, wenn Jesus im Evangelium es mit einem Worte aus der jüdischen
Tradition ausdrückt, dass der Sabbat für den Menschen da ist.
In der Schöpfungsgeschichte findet sich für die Ruhe Gottes am siebten
Tage ein ungemein plastisches Wort; wir können es mit „verschnaufen“
bezeichnen. Es ist das grosse Atemholen der Seele. Atem und Seele haben im Hebräischen
den gleichen Wortstamm. Wenn wir uns das Sabbatgebot vergegenwärtigen,
so hat es eine weitere Dimension: Es schliesst nämlich alle in diese grosse
soziale Errungenschaft ein, auch den Fremden. Gerade an diesem ganzen Komplex
des Sabbats lässt sich aufzeigen, wie sehr die soziale Gesetzgebung auch
dem gilt, der anders ist, der nicht zum eignen Volke gehört. An diesem
Sabbatgebot hängt weit mehr, als es zuerst scheinen mag. Es handelt sich
um die praktische Auswirkung des Gedankens, wie sehr alle Menschen - als in
Gottes Ebenbild geschaffene Wesen - vor Gott gleich sind. Damit haben sie ihre
je eigene Würde. Der Sabbat ist daher bis heute die Grundlage einer sozialen
Gesetzgebung, und für schwer arbeitende Menschen der notwendige Tag eben
des Einhaltens; oder wie es die Bibel sagt: des Atemholens.
„Ehre deinen Vater und deine Mutter.“ Wir stehen heute vielleicht
mehr denn je vor dem Problem eines Generationenkonfliktes, und dies in vielen
Ländern. Hinter uns liegen zwei totalitäre Regime, in die Millionen
von Menschen verstrickt sind. In diesem Sinne ermahnt uns dieser Satz über
die Eltern auch zum Frieden in der kleinsten Zelle der Gesellschaft, nämlich
der Familie, die heute in mannigfacher Weise in einer grösseren Gefahr
denn je ist. Insofern ist jener Satz zugleich auch ein Anruf, diese Familie
nicht mutwillig zu zerstören.
Wenn wir nun über die folgenden Worte sprechen, so haben sie in letzten Jahrzehnten ihre ganz besondere Bedeutung erhalten: Man solle nicht, wie Buber übersetzt, „gegen deinen Genossen als Lügenzeuge aussagen“. In Deutschland weiss man besser als vielfach anderwärts, was morden ist und was Raub bedeutet. Wir brauchen uns hier nicht in Einzelheiten zu ergehen. Jeder weiss auf seine Weise und aus seiner eigenen Geschichte, was diese Worte bedeuten, und dass sie für uns alle eine ganz andere Aktualität besitzen, als etwa für Menschen vor hundert Jahren. Wenn wir meinen, dass diese zehn Worte in unserer heutigen Gesellschaft eine besondere Bedeutung haben, so sind sie zugleich mit der Erinnerung verbunden, es kann keine Zukunft ohne diese Erinnerung geben und das gilt für alle Teile der Gesellschaft. Wir alle können aus der Geschichte nicht aussteigen, und wenn auch kein Volk eine Kollektivschuld hat, weil es diesen Unbegriff gar nicht gibt, so tragen wir doch alle - auch die Nachgeborenen - Verantwortung, und mit dieser Verantwortung können wir gemeinsam eine hoffentlich bessere Zukunft gestalten.
Diese harten Worte „morde nicht, raube nicht, aussage nicht gegen deinen Genossen als Lügenzeuge“ treffen uns, ja zwingen uns, uns in die Erinnerung zu versenken; aber nicht, um darin zu ertrinken, sondern zu lernen wozu Mord, Raub und Lüge am Ende führt: in den Untergang, in die Vernichtung, in das Chaos, in die Vergiftung der Gesellschaft. Diese drei Worte vom Sinai sind Hammerschläge in unserer Gesellschaft, und sie verwehren uns, in eine billige Apologie zu entfliehen, die unsere Gesellschaft nicht neu errichten kann, sondern sie eher neu zerstören wird.
Das folgende Wort wendet sich gegen das Begehren alles dessen, was dem Nächsten ist, wobei hier zweifellos das Verbot des Begehrens auch den Fremden einbezieht. Die Worte vom Sinai sprechen zwar anfangs von Gott, aber sie verkünden zugleich die Botschaft über den Nächsten. Es ist daher kein Zufall, dass sie mit diesem Worte enden. Wie das Wort „Ich bin der Herr, dein Gott“, der Anfang aller dieser Worte ist, so ist darum ihr Schluss „dein Nächster“. Dreimal erklingt gerade dieses Wort im Schlusssatz am Ende des Zehnwortes. Dein Nächster ist dir anvertraut, so wie du unter Gott stehst, deinem Herrn. Und darin mündet schliesslich das andere Wort, das nicht mehr im Dekalog steht, sondern im 3. Buch Mose: „Liebe deinen Nächsten, denn er ist wie du, ich bin der Herr.“ Ich bin der Herr, dein Gott, so steht es am Anfang, dein Nächster so mahnt uns das Zehnwort am Schluss. Wir sprechen hier von dem Zehnwort als einer Offenbarung Gottes am Sinai. Das ist für den Menschen, der in der Welt der Bibel lebt, und für sich als Wegleitung akzeptiert, eine wichtige, ja eine notwendige Hilfe. Aber was ist mit all den anderen die sich von diesem Weg der Bibel - aus welchen Gründen auch immer - entfernt haben? Für sie erinnern wir an das Wort des Rabbi Mosche Löb von Sasow, der in der zweiten Hälfte des 18. Jahrhunderts gelebt hat. „Es gibt keine Eigenschaft und keine Kraft am Menschen, die umsonst geschaffen wäre. Und auch alle niedern und verworfenen Eigenschaften haben eine Erhebung zum Dienste Gottes. So etwa der Hochmut: wenn er erhoben wird, wandelt er sich zu einem hohen Mut in den Wegen Gottes. Aber wozu mag wohl die Gottesleugnung geschaffen sein? Auch sie hat ihre Erhebung in der hilfreichen Tat. Denn wenn einer zu dir kommt und von dir Hilfe fordert, dann ist es nicht an dir, ihm mit frommem Munde zu empfehlen: ‘Habe Vertrauen und wirf deine Not auf Gott‘, sondern dann sollst du handeln, als wäre da kein Gott, sondern auf der ganzen Welt nur einer, der diesem Menschen helfen kann, du allein.“
Lassen Sie mich schliessen mit einem Gebet von Rabbi Nachman von Brazlaw zum Gott des Friedens. Darin ringt Nachman um die Errichtung einer endgültig idealen Zukunft des Volkes Gottes:
„Herr des Friedens, König, dem der Friede zu eigen ist, der Frieden schafft und alles erschafft. Hilf uns und erlöse uns alle, damit wir immer würdig sind, uns am Mass des Friedens festzuhalten. Dann wird in Wahrheit grosser Friede sein zwischen jedem Mann und seinem Gefährten und zwischen dem Mann und seiner Frau. Es wird kein Streit mehr sein, auch kein Streit im Herzen — bei keinem Menschenkind mehr! Du schaffst Frieden in deinen Höhen, und du bindest zwei gegensätzliche Elemente — Feuer und Wasser — harmonisch zusammen. Durch innere Wunder schaffst du Frieden zwischen ihnen! Breite so auch grossen Frieden über uns und über die ganze Welt aus, sodass alle Gegensätzlichkeiten durch großen Frieden und durch große Liebe zur Einheit werden. Und alle werden in einer Erkenntnis und in einem Herzen zu einer Ganzheit werden, um in Wahrheit an dich und deine Tora angenähert zu werden. Und alle werden eine Schar der Einheit werden, um deinen Willen mit vollkommenem Herzen zu erfüllen! Herr des Friedens, segne uns mit Frieden!"
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