Ansprache beim ökumenischen Gottesdienst zur “Woche der Brüderlichkeit” 2005 und dem zehnjährigen Bestehen des “Gesprächskreises Juden und Christen in Ludwigshafen” am 6. März 2005 in der Paul-Gerhardt-Kirche Rheingönheim
von G. Michael Schmitt
Liebe Gemeinde!
Versetzen wir uns in das Jahr 1962. Karfreitag in Rom. Ein Kardinal zelebriert
in Anwesenheit von Papst Johannes XXIII. die Karfreitags-Liturgie. War es Nachlässigkeit
oder bewusste Obstruktion? Jedenfalls betete er nach dem alten liturgischen
Formular in den so genannten “Großen Fürbitten”: “Oremus
et pro perfidis Judaeis” - “Lasst uns auch beten für die treulosen
Juden... Gott, du schließt sogar die ungläubigen Juden von deiner
Erbarmung nicht aus. Erhöre unsere Gebete, die wir wegen der Verblendung
jenes Volkes vor dich bringen...”. Johannes unterbricht den Kardinal:
“Sagen sie es noch einmal - aber nach der neuen Form!” Schon im
März 1959, am ersten Karfreitag seines Pontifikats, hatte Johannes XXIII.
jene verletzenden Worte aus dem liturgischen Text ausmerzen lassen. Fortan sollte
für die ganze katholische Kirche eine neue Fassung gelten. Heute lautet
der Text: “Lasst uns auch beten für die Juden, zu denen Gott, unser
Herr, zuerst gesprochen hat: Er bewahre sie in der Treue zu seinem Bund und
in der Liebe zu seinem Namen, damit sie das Ziel erreichen, zu dem sein Ratschluss
sie führen will. - Allmächtiger, ewiger Gott, du hast Abraham und
seinen Kindern deine Verheißung gegeben. Erhöre das Gebet deiner
Kirche für das Volk, das du als erstes zu deinem Eigentum erwählt
hast: Gib, dass es zur Fülle der Erlösung gelange. Darum bitten wir
durch Christus unseren Herrn.” Diese story über Papst Johannes und
die Tatsache der Änderung der Karfreitagsfürbitte in der katholischen
Liturgie machen schlagartig deutlich: Das Zweite Vatikanische Konzil hat einen
epochalen Wandel gebracht; ein verändertes Bild vom Gottesvolk Israel.
Von da an beginnt eine neue theologische Reflexion über das Judentum. Das
Verhältnis von Kirche und Israel, von Christen und Juden wird neu bestimmt.
Das war vor 40 Jahren. Die Konzilserklärung “Nostra aetate”,
eine “Erklärung über das Verhältnis der Kirche zu den nichtchristlichen
Religionen”, wie sie heißt, ist ein revolutionäres Dokument.
Im Verhältnis zum Judentum bedeutet sie eine “kopernikanische Wende”.
Wir brauchen seiner vertrackten Entstehungsgeschichte nicht näher nachzugehen.
Es gab durchaus Kräfte, die die Erklärung aus verschiedenen Gründen
hintertrieben. Am Ende jedoch, am 28. Oktober 1965, wurde sie von den Konzilsvätern
angenommen - mit 2221 Ja-Stimmen gegenüber 88 Nein-Stimmen und 3 ungültigen
Stimmen. Menschen wie Kardinal Bea, Prälat Oesterreicher, der federführende
Redaktor, und Papst Johannes selbst hatten die Wege zu dieser überwältigenden
Mehrheit des Konzils geebnet.
Der epochale Wandel in den Aussagen dieses Textes ist uns heute nicht mehr recht
deutlich. Vorkonziliare antijudaistische Äußerungen begegnen uns
heute nicht mehr in den offiziellen Dokumenten unserer Kirchen. Versteckt und
bisweilen auch offenkundig gibt es antijudaistische Formulierungen dennoch in
der Verkündigung, in der Predigt, der Bibelauslegung und in manchen Gebeten.
Sie sind dann aber nicht gedeckt, weder von den kirchenamtlichen Maßgaben
her, geschweige denn von einer Theologie, die der christlich-jüdischen
Begegnung verpflichtet ist. Und es ist das Beglückende, dass sich eine
erneuerte christliche Theologie des Judentums in ökumenischer Gemeinsamkeit
vollzogen hat. Ja, die theologischen Koalitionen laufen hier bisweilen völlig
quer zu den Konfessionen. Eine Fülle von evangelischen und katholischen
und auch gemeinsam getragenen Verlautbarungen spiegeln diese neue Qualität
wider. Doch werden sie in der Öffentlichkeit wahrgenommen? Sind die Ergebnisse
in unseren Gemeinden bekannt? Sind sie ins allgemeine Glaubensbewusstsein eingedrungen?
Oder bleibt die jüdisch-christliche Begegnung nur die Spezialangelegenheit
einer kleinen Gruppe von Insidern, die da irgendeinem Nebenschauplatz anhängen,
wo wir doch gegenwärtig ganz andere Sorgen in der Kirche haben? Entsprechen
unsere Bemühungen in den christlich-jüdischen Arbeitskreisen und in
den Gesellsc haften für christlich-jüdische Zusammenarbeit nur gewissen
Sonderinter essen? Drohen unsere Veranstaltungen zur “Woche der Brüderlichkeit”
zu verstaubten Ritualien zu werden, nur mehr getragen und besucht von Sonderlingen,
die bereits in die Jahre gekommen sind?
Liebe Gemeinde, ich will es ganz deutlich sagen: Die neuen antisemitischen
Phänomene, gerade auch hierzulande in jüngster Zeit, verlangen den
leidenschaftlichen Einsatz aller Christen; unseren massiven Widerspruch und
Widerstand. Das ist das eine. Und das zweite: Es gibt kein Christsein ohne die
jüdischen Wurzeln. Schließlich hängt das eine mit dem anderen
sehr wohl zusammen: Antisemitismus in seinen verschiedenen Ausprägungen
und ein Christentum, das meint, sich seiner jüdischen Dimension in seinem
Innersten entledigen zu können. Das Christentum bedarf unzweideutig zur
eigenen Identitätsvergewisserung des Judentums. “Nicht du trägst
die Wurzel, sondern die Wurzel trägt dich!” (Röm 11, 18) Wir
wissen heute zu genau, wie verhängnisvoll sich das über Jahrhunderte
virulente antijüdische Erbe in unseren Kirchen ausgewirkt hat. Wie christlicher
Antijudaismus dem neuzeitlichen Antisemitismus “Munition geliefert”
hat. Wie sich der rassistische Judenhass und die nationalsozialistische Judenvernichtungsmaschinerie
haben speisen können aus den latenten und offenkundigen judenfeindlichen
Ausprägungen in den christentümlichen Traditionen und Lebensäußerungen
selbst. Man reibt sich heute die Augen, liest man nach, wie unser Konzilstext
ja noch im Jahre 1965 den Vorwurf zurückweisen muss, die Juden seien das
Volk der Gottesmörder. Und dass es die bleibende Auserwählung Israels
betonen muss. So als hätte man über Jahrhunderte hinweg nie den Apostel
Paulus zur Kenntnis genommen, der in seinem Brief an die Römer gerade diese
bleibende Erwählung betont und gemäß dem 11. Kapitel dieses
Briefes auf die Wurzeln der Kirche im Volk Israel hinweist: Jesus, Maria, die
Apostel und Auferstehungszeugen, also die Gründergeneration der Kirche,
sie waren samt und sonders Juden. Auf ihnen als den Säulen und Grundfesten
steht die Kirche.
Wer solches noch als Selbstverständlichkeit ansieht, wird schon unsicherer,
wenn man ihm/ihr rät, vorsichtig zu sein mit der Rede von der Kirche als
dem “neuen Volk Gottes”. So formuliert auch “Nostra aetate”.
Wie steht es dann aber mit dem “alten” Gottesvolk? Ist es von gestern?
Hat die Kirche es enterbt? Leider feiern so manche Klischees auch weiterhin
“fröhliche”, nein beschämende “Urstände”.
Nur ein Beispiel. Bis zum Erscheinen des “Gotteslobs” 1975 sangen
Katholiken vorwiegend an Fronleichnam in der deutschen Fassung des “Pange
lingua”, eines dem Thomas von Aquin zugeschriebenen Eucharistiehymnus:
“Darum laßt uns tief verehren ein so großes Sakrament! Dieser
Bund wird ewig währen und der alte hat ein End ...”. Die neue Fassung
von Maria Luise Thurmair (1969) ist aber auch nicht unproblematisch. Sie trägt
auch noch in den Text ein, warum der alte Bund weichen muss, weil er nämlich
“das Gesetz der Furcht” ist, an dessen Stelle nun das christliche
“Mahl der Liebe” tritt. Welch klischeehafte Vorstellung vom Gesetz,
dem Weg und der Weisung Gottes. Ich setze solcher Rede das Wort vom “nie
gekündigten Alten Bund” entgegen; so in Aufnahme von “Nostra
aetate” Papst Johannes Paul II. in seiner Ansprache an den Zentralrat
der Juden und die Rabbinerkonferenz beim Deutschland-Besuch 1980 in Mainz. Und
dann nochmals beim Besuch der Synagoge in Rom 1986 - er ist der erste Papst,
der offiziell eine jüdische Synagoge besuchte -, als er von der “unwiderruflichen
Berufung” Israels sprach. Im Konzilstext selbst heißt es: Die Juden
sind “nach dem Zeugnis der Apostel immer noch von Gott geliebt um der
Väter willen; sind doch seine Gnadengaben und seine Berufung unwiderruflich”.
Auch 40 Jahre nach der Konzilserklärung sind solche Aussagen noch nicht
in die Köpfe und in die Herzen von Christinnen und Christen eingedrungen.
Die bleibende Erwählung Israels müssen Christen stets herausstellen. Sie brauchen sich dabei nicht an der Grunddifferenz vorbei zu mogeln, die darin besteht, dass Christen an Jesus als den gekommenen Messias glauben, während Juden noch auf den kommenden warten. Aber man kann und muss von dieser Differenz im Glauben zwischen Juden und Christen so reden, dass man dabei nicht einer antijüdischen Abgrenzungschristologie verfällt. Und man wird als Christ von Jesus Christus reden und ihn bezeugen im Ernstnehmen dessen, dass die Welt und die ganze Schöpfung noch ihrer endgültigen Erlösung und Vollendung entgegengeht. Und in einer - wenn auch kritischen, so doch - unkündbaren Solidarität mit Israel und dem jüdischen Volk. Wir müssen darauf bestehen und uns dafür einsetzen, dass die Erträge einer gewandelten Israeltheologe in unseren Kirchen Allgemeingut werden; dass so die letzten Versatzstücke und Spurenelemente eines gegen das Judentum gerichteten christlichen Glaubens - eigentlich ein Unding - in sich zusammenbrechen und vergehen. Wenn Israel Gottes “eigener Augapfel” ist, wie es beim Propheten Sacharja heißt (2, 12), dann tastet Gott selbst an, wer Israel und das jüdische Volk antastet.
Bei seinem historischen Besuch in der Synagoge in Rom hat Johannes Paul II. die Verhältnisbestimmung zwischen Christentum und Judentum genauer bestimmen wollen. Er sieht die Kirche ihre “Bindung” zum Judentum entdecken, “indem sie sich auf ihr eigenes Geheimnis besinnt. Die jüdische Religion ist für uns nicht etwas ‘Äußerliches’, sondern gehört in gewisser Weise zum ‘Inneren’ unserer Religion. Zu ihr haben wir somit Beziehungen wie zu keiner anderen Religion. “Ihr”, so sagt Johannes Paul, “seid unsere bevorzugten Brüder und, so könnte man gewissermaßen sagen, unsere älteren Brüder”. Dieses Wort von den “älteren Brüdern”, sagen wir besser “Geschwistern”, wurde fast schon zum geflügelten Wort, das schlaglichtartig das neue Verhältnis zwischen Christen und Juden nach dem Zweiten Vatikanischen Konzil erhellen kann.
Doch möchte ich davor warnen, Juden von christlicher Seite dafür
einfach zu vereinnahmen. Und zweitens: Wir sind nicht entlassen aus einer vertieften
Beschäftigung damit, dass es, auch aus Sicht des Apostels Paulus, ein spannungsvolles,
ungelüftetes Geheimnis bleibt: dieses seltsame Nebeneinander und zugleich
Miteinander von Juden und Christen. Können wir es je durchschauen? Wir
sind nicht dazu genötigt. Doch können und müssen wir aus diesem
Geheimnis Konsequenzen ziehen. Eine wichtige Konsequenz lautet: Absage an die
Judenmission! Über Jesus Christus im Dialog zu sprechen und ihn als Christen
zu bezeugen, setzt eine theologisch begründete Absage der Christen an die
Judenmission voraus! Gegen Ende des Konzilstextes geht die Kirche auf ihre eigene
Schuldgeschichte ein. Es heißt da: “Im Bewusstsein des Erbes, das
sie mit den Juden gemeinsam hat, beklagt die Kirche, die alle Verfolgungen gegen
irgendwelche Menschen verwirf, nicht aus politischen Gründen, sondern auf
Antrieb der religiösen Liebe des Evangeliums, alle Hassausbrüche,
Verfolgungen und Manifestationen des Antisemitismus, die sich zu irgendeiner
Zeit und von irgend jemandem gegen die Juden gerichtet haben.” Es wurde
oft gesagt, dass diese Selbstanklage der katholischen Kirche im Konzilstext
etwas blass ausgefallen, allzu diplomatisch formuliert sei. Das mag auch so
sein. Wir vermissen ein ausdrückliches Eingehen auf die Schoa als die unvergleichliche
geschichtliche Katastrophe und ein klares Bekenntnis der Schuld von Seiten der
Kirche daran. In der Folge des Zweiten Vatikanums sind aber weitere Schritte
erfolgt. So haben etwa die deutschen Bischöfe im Jahre 1988 anlässlich
des 50. Gedenktages der Reichsprogromnacht zu Recht betont, “dass die
Kirche, die wir als heilig bekennen und als Geheimnis verehren, auch eine sündige
und der Umkehr bedürftige Kirche ist”. Aber steht nicht “ein
klares Wort zur Mitschuld und Verantwortung der Kirche” zur Schoa, jedenfalls
auf
höchster Ebene meiner katholischen Kirche, immer noch aus? “Es genügt
nicht, nur die ‘Fehler der Söhne und Töchter der Kirche’
zu benennen.” So hat 1998 der Gesprächskreis “Juden und Christen”
beim ZdK (“Nachdenken über die Schoa. Mitschuld und Verantwortung
der katholischen Kirche”) formuliert.
Es ist wiederum der jetzige Papst, der ganz persönlich und symbolisch stellvertretend, ja gleichsam als Protagonist die Kehre im Denken und die Umkehr im Verhalten der Christenheit verkörpert - bei seinen Besuchen, in seinen Gesten und Worten hat er das zum Ausdruck gebracht: in Auschwitz, in der Holocaust-Gedenkstätte Yad Vaschem und an der Westmauer in Jerusalem. “Gott unserer Väter, du hast Abraham und seine Nachkommen auserwählt, deinen Namen zu den Völkern zu tragen. Wir sind zutiefst betrübt über das Verhalten aller, die im Laufe der Geschichte deine Söhne und Töchter leiden liessen. Wir bitten um Verzeihung und wollen uns dafür einsetzen, dass echte Brüderlichkeit (Geschwisterlichkeit) herrsche mit dem Volk des Bundes”: ein geschriebenes Gebet als Bitte der Vergebung von einem pilgernden Diener Gottes, den wir Katholiken als Inhaber des Petrusdienstes verstehen, nach jüdischem Brauch zwischen die Steine der ehemaligen Westmauer des Jerusalemer Tempels, der “Klagemauer”, gesteckt!
Es gab Worte und Zeichenhandlungen, die etwas ausgedrückt und bewirkt haben. Es gibt Gesten und Worte - immer wieder - im Gedenken an die Opfer der Schoa, gerade auch in diesem Jahr, 60 Jahre nach der Befreiung von Auschwitz. Wir können uns nicht damit begnügen, dass es das gab und immer wieder gibt. Wir sind zu unserem eigenen Beitrag herausgefordert. Dabei geht es um Dimensionen unseres Glaubens, von denen wir nicht absehen können. Wir dürfen darüber auch wirklich froh sein. Denn sie machen uns frei für die Wahrnehmung gemeinsamer Verantwortung, die so nötig ist. Solche Gemeinsamkeit können wir unseren jüdischen Mitbürgerinnen und Mitbürgern nur anbieten; sensibel und demütig - aber entschlossen zum gemeinsamen Einsatz für den Schalom, für Gerechtigkeit und Frieden und gegen den Hass, gegen Unrecht und Gewalt.
“Nostra aetate” bedeutete eine “Wende” auf Seiten der Kirche in ihrem Verhältnis zum jüdischen Volk. “Wende” bedeutet nicht Ziel, sondern nur der Beginn einer neuen Wegstrecke. Bisweilen gibt es Stolpersteine auf diesem Weg. Oder Steine des Anstoßes, für die wir immer wieder selbst in unseren eigenen Reihen sorgen. Oder Äußerungen und Verhaltensweisen, die in Sackgassen führen. Darum sei mit dem Propheten Jesaja gesagt: “Der Gott Jakobs lehre uns seine Wege, und wir wollen auf seinen Pfaden wandeln” (Jes 2, 3). Amen.
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