Karfreitagsprozession in Valencia
Wenn wir hier nach dem Grund des Sterbens Jesu fragen, geht es nicht
primär um die historischen
Aspekte, die mit dieser Frage verbunden sind (etwa die Frage, welche
Gruppierungen ein politisches Interesse am Tod Jesu hatte oder wer ihn
letztlich ans Kreuz schlagen ließ), sondern um die verschiedenen
theologischen Deutungen, die dieser Tod im Laufe der Geschichte immer
wieder erfahren hat. Beide Frageebenen, die historische wie die theologische,
besitzen beide ihr Recht, sie dürfen aber keinesfalls vermischt oder
gar gegeneinander ausgespielt werden. Letzteres ist dem rheinischen Superintendenten
Burkhart Müller passiert, der in einer Radioandacht die These aufgestellt
hat: „Jesus ist nicht gestorben, um uns von unseren Sünden
zu befreien, sondern weil die Mächtigen ihn nicht leben lassen wollten.“(1)
Diese Verwechslung der Ebenen ist das eigentliche Ärgernis an seinem
Beitrag, nicht die Tatsache, dass er es gewagt hat, einen alten christlichen
Glaubenssatz auf den Prüfstand zu stellen. Fragen wie die nach der
Aktualität des Todes Jesu und seiner Deutungen dürfen und müssen
in einer protestantischen Kirche gestellt werden, sie müssen aber
in einer hermeneutisch reflektierten und zugleich biblisch verantworten
Weise beantwortet werden.
Die Frage nach dem „Warum“ des Leidens und Sterbens Jesu
hat etwas mit der uralten, aber immer wieder aktuellen Theodizeefrage
zu tun, wie ein guter und zugleich allmächtiger Gott zulassen kann,
dass ein unschuldiger Mensch leidet, sie erschöpft sich freilich
nicht darin. Neben dem „Warum“ geht es beim Tod Jesu nämlich
immer auch um ein „Wozu“: Sehr bald nach dem Tod Jesu wurde
von seinen Anhängern behauptet, dieses Opfer (im Sinne des englischen
Wortes victim) sei nicht einfach ein Betriebsunfall der Geschichte gewesen,
sondern habe (im Sinne von sacrifice) einen tieferen Sinn gehabt, der
sich freilich erst dem Glaubenden erschließt. Wiederholt spricht
Paulus bzw. die Deuteropaulinen in diesem Zusammenhang von einem „Mysterium“.
Die theologische Diskussion hat sich in letzter Zeit sehr auf die Frage
konzentriert, ob das Kreuz Jesu als Opfer- bzw. Sühnetod verstanden
werden könne (oder gar müsse). Diese Frage ist sicher ein wichtiger
Teilaspekt der Frage nach dem Sinn des Sterbens Jesu, aber eben nur ein
Teilaspekt. Eine Verkürzung der Debatte auf die Sühnopfertheologie
hat dazu geführt, dass wir die große Bandbreite der Deutungen
im Neuen Testament gar nicht mehr hinreichend würdigen und stattdessen
so tun, als hänge der christliche Glaube an dieser einzigen Frage.
Ich will auf diese Frage gerne zurückkommen, denn es ist –
wie gesagt - eine wichtige und berechtigte Frage, aber zunächst soll
eine knappe Übersicht über die Deutungen des Todes Jesu im Neuen
Testament gegeben im Allgemeinen werden.(2)
Dieser Überblick geschieht unter dem Leitbegriff der „Trauerbewältigung“,
die, wie wir aus der Seelsorge wissen, bestimmten Gesetzmäßigkeiten
folgt. Erst vor diesem Hintergrund, so bin ich überzeugt, lässt
sich die Sühnopferproblematik exegetisch richtig verorten, theologisch
angemessen bewerten und für die praktische Theologie die richtigen
Schlüsse aus ihr ziehen.
1. Deutungen des Todes Jesu im Neuen Testament
1.1 Das Kreuz als Ärgernis
Jesus selbst hat entgegen der Darstellung der Evangelien seinen Tod wohl
nicht willentlich herbeigeführt.(3) Wohl aber wird
er ihn, das Schicksal des Täufers vor Augen, vorausgeahnt und als
Konsequenz seines bisherigen Lebensweges in Kauf genommen haben.(4)
Ob er selbst sein Schicksal in der Tradition der „leidenden Gerechten“
des Alten Bundes gesehen hat, lässt sich nicht mehr mit Sicherheit
feststellen.
Auch wenn das Kreuz Jesu als Heilsereignis heute unumstritten ist, darf
man nicht übersehen, dass das nicht von Anfang an so war. Unter seinen
Jüngern machte sich nach seinem Tod zunächst Resignation breit.
Nach dem ältesten kanonischen Evangelium reagierten die ersten Zeugen
des leeren Grabes mit „Zittern und Entsetzen ... Und sie sagten
niemandem etwas; denn sie fürchteten sich (Mk 16,8). Im wahrscheinlich
ursprünglichem Markusschluss findet sich noch keine Rede von Auferstehung.
Verstört und desillusioniert kehrten die Anhänger nach Galiläa
zurück und gingen zunächst wieder ihren alten Berufen nach.
Auf ein solches Schicksal ihres Herrn waren sie nicht vorbereitet. Die
Tradition von einem leidenden oder gar sterbenden Messias waren im Judentum
damals noch nicht ausgebildet. So ist es nicht einmal allzu verwunderlich,
dass auch die Logienquelle Q(5) keine Passionsgeschichte
enthielt, auch keine positive Deutung des Kreuzes Jesu. Selbst für
das späte Johannes-Evangelium ist der Tod am Kreuz „nur“
Abschluss und Vollendung des irdischen Wirkens Jesu, die letzte Steigerung
des Kampfes zwischen Jesus und dem gottfeindlichen Kosmos. In einer für
ihn typischen Dialektik spricht Johannes doppeldeutig von der Kreuzigung
als „Erhöhung“. In Weiterführung des johanneischen
Ansatzes kam es in der Alten Kirche sogar zu einer Leugnung der Kreuzigung.
Gekreuzigt wurde nur ein Scheinleib (Doketismus), der wahre Erlöser
wurde unversehrt in den Himmel aufgenommen. Das war nur logisch, wenn
man das in der antiken Religionsphilosophie weit verbreitete Apathieaxiom,
wonach Gott in seiner Allmacht unfähig sei zu leiden, auf den eigenen
Erlöser anwandte. Der Preis war freilich hoch: Der Weg Mensch Jesus
von Nazareth wurde so zu einem gottgleichen Erlöser, der sich auf
diese Welt nur ganz flüchtig einlässt. Wie sollte er auch, war
sie doch das Machwerk eines widergöttlichen Demiurgen. Die Mehrzahl
der frühen Christen war freilich nicht bereit, diesen Preis zu tragen.
Sie wollte, auch wenn es weh tat, sich dem „Ärgernis des Kreuzes“
(1 Kor 1,23) stellen. Aber wie?
1.2. Tastende Versuche, Sprache zu gewinnen
Erst langsam nach dem Tod Jesu(6) setzte sich die Überzeugung
durch: Seine „Sache“ geht weiter (W. Marxsen) - und zwar (wie
man zunächst sagte) trotz des Kreuzes! Die Petrusreden in der Apostelgeschichte
etwa zeigen die frühe Sicht der Dinge noch ganz ungeschminkt: „Jesus
Christus, den Nazoräer, den Ihr gekreuzigt habt, hat Gott von den
Toten auferweckt“ (4,10 u.ö.). Hier wird ein „Kontrastschema“
erkennbar, das besagt:Menschen (hier direkt angesprochen: die Juden Jerusalems)
haben ihn gekreuzigt, Gott hat ihn auferweckt und so posthum wieder ins
Recht gesetzt. Noch ist das Kreuz ein Unglücksfall ohne eigene Heilsbedeutung.
Noch muss es durch die Auferstehung korrigiert oder zumindest zu einem
positiven Ende geführt werden. Doch die Frage drängte sich auf:
Wie konnte so etwas passieren, wenn Jesus, wie alle glaubten, doch der
verheißene Bote Gottes war? War die vermeintliche Katastrophe vielleicht
doch kein Zufall, sondern folgte sie einer inneren Notwendigkeit? Das
wäre für die verängstigten Anhänger gewiss ein Trost
gewesen.
Nun setzte ein Prozess der Trauerbewältigung ein, der mit einem
fortschreitenden „Sprachgewinn“ (D. Ritschl) verbunden war,
der im Grund bis heute andauert. Von außen betrachtet könnte
man sagen: Man hat damals aus der Not (dem gewaltsamen Tod des Erlösers)
eine Tugend (sein Kreuz als Heilsweg) gemacht. Für die unmittelbar
Betroffenen aber war dieser Sprachgewinn eine Form der Verarbeitung ihrer
unerhörten Enttäuschung. Es gelang ihnen erst in einem langen,
kreativen und sicher nicht immer schmerzfreien Prozess („Trauerarbeit“),
der Katastrophe einen Sinn abzuringen.
1.2.1 Das Kreuz Jesu als notwendiges Übel
In allen Schichten des Neuen Testaments(7) findet sich
ein heilsgeschichtlich-kausales Schema, wonach der Tod die notwendige
(griechisch: „dei“) Durchgangsstation zum Heil war. Das Kreuz
Jesu wird in die Drangsale der Endzeit eingereiht. Dieses Schema verdankt
sich der jüdischen Apokalyptik mit ihrer geschichtstheologischen
Logik: Erst wenn das Böse seinen Kulminationspunkt erreicht hat,
kommt die Rettung. Seine klassische Ausprägung fand diese Auffassung
in den Leidensankündigungen Jesu, die nach allgemeiner Sicht der
Forschung keine „echten“ Ankündigungen des historischen
Jesus sind, sondern ein vaticinium ex eventu, also eine Deutung der Gemeinde
aus dem Rückblick des bereits erfolgten Todes. Das Tröstliche
an dieser Deutung war die Gewissheit: Jesu Tod folgt einem geheimen Heilsplan,
einer inneren Logik, die sich freilich erst „von hinten“ erschließt.
1.2.2 Jesus als einer der Gerechten Israels
Ein weiterer Versuch, Leiden und Sterben Jesu einen Sinn abzuringen, war
es, es in eine Reihe mit dem Leiden der Gerechten des Alten Bundes zu
stellen. Jesus musste leiden, - so der Gedanke - weil alle Gerechten leiden
müssen.(8) Dieses Deutungsschema liegt der markinischen
Passionsgeschichte zugrunde, die stark nach dem Vorbild der Klagepsalmen
(bes. Ps 22) modelliert ist, es findet sich aber z.B. auch in 1 Petr 2,21-25.
Quasi ein Spezialfall von leidenden Gerechten stellen die alttestamentlichen
Propheten dar, die einem auch im NT wiederkehrenden Topos aus dem Deuteronomistischen
Geschichtswerk (DtrG) zufolge stets ein „gewaltsames Geschick“
(O.H. Steck) erleiden. Wie diese, so suggeriert etwa das Gleichnis von
den Bösen Winzern (Mk 12,1-9 par.), wurde auch Jesus von seinem Volk
verstoßen und umgebracht.(9) Die „frohe Botschaft“
lautet hier: Jesus stirbt zwar schimpflich und von der Welt verspottet
wie ein Verbrecher am Kreuz, aber der Blick zurück weist nach: Das
spricht nicht gegen Jesus, sondern vielmehr gegen die Welt (die antijudaistische
Variante dieser Deutung sagt: gegen die Juden), die schon immer gewalttätig
reagiert hat, wenn einer kam, der nicht in die üblichen Schubladen
passte. Es weist letztlich sogar Jesu Überlegenheit nach, wenn man
ihn in die stolze Ahnengalerie der alttestamentlischen Gerechten und Propheten
einreihen kann. Und schließlich darf man gewiss sein, dass Gott
ihn, wie alle Gerechte vor ihm, wieder rehabilitieren wird – ja
es schon getan hat: durch seine Auferstehung von den Toten.
Wahrscheinlich gleichzeitig entsteht in den paulinischen, überwiegend
heidenchristlich geprägten Gemeinden ein Strang von Deutungen des
Todes Jesu, die ohne den Rekurs auf die Auferstehung auskommen. Hier ist
bereits der Tod selbst ein Heilsereignis. Der Sieg folgt nicht erst der
Niederlage, sondern er ist in ihr bereits in paradoxerweise Weise („sub
spezie contraria“) geheimnisvoll eingeschlossen.
1.2.3 Der Tod Jesu als „Loskauf“
Ein Teilaspekt der paulinischen Rechtfertigungslehre stellt die forensisch-juridische
Deutung dar:Jesus nimmt in seinem Tod den auf allen liegenden „Fluch
des Gesetzes“ auf sich, so dass die anderen davon befreit werden
(Gal 3,10-14; ähnlich auch Gal 4,5; Röm 7,1-6). Zuweilen ist
vom Tod Jesu als „Loskauf“ die Rede (Mk 10,45), eine Metapher,
die an den Loskauf von Sklaven oder Kriegsgefangenen erinnert.(10)
Der Tod Jesu dient hier der Befreiung von den Mächten der Sünde
und des Todes. Ob diese mit dem Zorn Gottes zusammenhängen oder ob
eher an widergöttliche, dämonische Mächte zu denken ist,
ist nicht immer klar. Eindeutig ist die Metapher aber in anderer Hinsicht:
Das Heil liegt extra nos, niemand kann sich selbst loskaufen.
Während hier der Gläubige nichts zu seinem Heil beitragen kann,
gibt es Aussagen bei Paulus, die von einer sakramentalen Partizipation
am Tod Jesu durch die Taufe sprechen (Röm 6: Auferstehung dort futurisch!).
In dieser auf Konformität mit Christus abzielenden Variante ist der
einzelne Christ in das Heilsgeschehen eingebunden durch den kultischen
Nachvollzug des Sterbens Jesu. Ist diese Mystik des „Sterbens mit
(griech.: syn) Christus“ für moderne Menschen schon schwer
nachzuvollziehen, so entzündet sich heute der Widerspruch der Kritiker
noch viel mehr an solchen Aussagen, die den Tod Jesu selbst als Akt kultischer
Sühne, als ein Sterben „für“ (hypér), verstehen.
Es macht deshalb Sinn, sich ihnen etwas ausführlicher zu widmen.
1.3. Jesus als (Sühn-)Opfer: Kultische Deutungen
Auch wenn sie vielleicht nicht Anhalt am historischen Jesus selbst haben,
so stehen die kultischen Deutungen des Todes Jesu doch in einem recht
breiten biblischen Traditionskontinuum und lassen sich nicht einfach wegzuleugnen.
Man findet sie bereits in vorpaulinischen Formeln, weshalb sie sich auch
keinesfalls als spätes Dekadenzphänomen deuten lassen. Peter
Stuhlmacher hat völlig Recht: „Sündenvergebung und Rechtfertigung
kraft des stellvertretenden Opfertodes und der Auferweckung Jesu sind
nicht erst von Paulus entwickelte Theologoumena, sondern bereits vorpaulinische
Grunderfahrungen und Bekenntnisinhalte“.(11)
Interessant ist, dass diese Glaubenssätze bis auf wenige Ausnahmen
alle einen alttestamentlich-jüdischen Hintergrund haben. Es zeigt
sich hier, dass es nicht nur „der Jude Jesus“ ist, der uns
mit unserer jüdischen Mutterreligion verbindet, sondern auch die
posthume Deutung seines Leidens und Sterbens. Insofern sehe ich anders
als Helmut Foth(12) in der Wahrnehmung dieser kultischen
Kategorien keine Gefahr für den christlich-jüdischen Dialog,
sondern vielmehr eine Chance. Allerdings muss man sich vor Augen halten,
dass die Aussagen über den Tod Jesu als Opfer in sich alles andere
als homogen sind. Kein Wunder, gibt es doch schon im AT eine ganze Reihe
von Opfertheologien und eine Vielzahl von Begriffen für das, was
wir im Deutschen als „Opfer“ bezeichnen.(13)
So versteht sich von selbst, dass sich auch im NT verschiedene Motive
voneinander abheben lassen, die für die kultische Deutung des Kreuzes
Jesu bedeutsam wurden.
1.3.1 Der Tod Jesu als ein „Sterben für“
Da ist einmal ein Komplex von Aussagen, die im Blick auf das Kreuz von
einem Sterben „für uns“ bzw. „für viele“
sprechen. Zu diesem „soteriologischen Schema“ gehören
etwa die vorpaulinischen Pistis-Formeln 1 Kor 15,3b und Röm 4,25.
Vorbild für diese Formulierungen, die den Gedanken einer stellverstretenden
Lebenshingabe umkreisen, könnten die deuterojesajanischen Gottesknechtslieder
(bes. Jes 53, sog. 4. Gottesknechtslied) gewesen sein. Auch in der johanneischen
Literatur (Joh 10,15, 1 Joh 4,10 u.ö.) und im Hebräerbrief (9,14-16)
findet sich dieses Denkschema. Man darf freilich nicht übersehen:
Im Judentum wird der Gottesknecht erst später, nämlich im rabbinischen
Judentum, mit dem leidenden Messias in Zusammenhang gebracht.
1.3.2. Jesus als Passalamm
Da sind zum anderen Aussagen, die von Jesus als „Lamm Gottes“
sprechen. In 1 Kor 5,7 ist ganz explizit von Jesus als unserem Passalamm
die Rede. Auch datiert das Johannes-Evangelium, das Jesus schon im Prolog
als „Lamm Gottes“ bezeichnet (1,29), den Tod Jesu nicht ohne
Hintergedanken (und anders als die Synoptiker!) auf dem 14. Nissan(14),
den Tag, an der die Passalämmer im Tempel geschlachtet wurden. Zur
Zeit Jesu, aber auch noch des Apostels Paulus, wurde die Schlachtung der
Passalämmer am Tempel vollzogen, weshalb sie den Charakter des Opfers
gewannen. Otto Betz lässt am kultischen Hintergrund der neutestamentlichen
Vorstellung keinen Zweifel: „Das Blut der Lämmer wurde an den
Altar gesprengt und so Gott dargebracht. Das hat den Vergleich mit Christus
ermöglicht: ‚Er wurde als unser Passa geschlachtet’,
d.h. er starb für uns. Sein Blut rettete uns vor dem Verderben.“(15)
1.3.3 Der Karfreitag als „eschatologischer Jom Kippur“
An vielen Stellen im NT wird auf das zur Zeit Jesu noch praktizierte Ritual
des Großen Versöhnungstages („Jom Kippur“) angespielt.
In diesem Ritual, das in Lev 16 ausführlich beschrieben wird und
das F. Crüsemann „das Zentrum der priesterlichen Sühnetheologie“(16)
genannt hat, geschieht Sündenvergebung durch den Tod eines an und
für sich unschuldigen Opfertieres („Sündenbock“).
Auf ihn werden die Sünden der Gemeinschaft symbolisch übertragen,
bevor er dann „in die Wüste geschickt“ wird. Zuvor wird
ein anderer Bock geschlachtet und sein Blut an den „Sühnedeckel“
der Bundeslade gespritzt, um so das Heiligtum zu reinigen. Mit diesem
„Sühnedeckel“, hebr. kapporet, identifiziert Paulus in
Röm 3,25f. und macht so den Karfreitag „zum eschatologischen
Versöhnungstag“(17). Jesu Person ist wie
einst der Deckel der Bundeslade der heilmachende Ort der Gottesbegegnung.
In ihm, so will Paulus wohl zum Ausdruck bringen, haben auch die eigentlich
kultunfähigen Heidenchristen Zugang zum Gott Israels. Nun hat auch
H. Foth keine Zweifel an der Verbindung zum Jom-Kippur-Ritus, er stellt
lediglich in Frage, dass es dort um „Sühne“ geht –
ein Einwand, den ich angesichts der Fülle der Hinweise in diese Richtung
nicht nachvollziehen kann. Das Blut Jesu, das in Röm 3,25 ausdrücklich
erwähnt wird, hat doch wohl genau den Sinn, der in Lev 16,30 dem
Ritus des Versöhnungstages zugesprochen wird: „Denn an diesem
Tag entsühnt (lekaper) man euch, um euch zu reinigen. Vor dem Herrn
werdet ihr von allen euren Sünden (mi-chol-chatotechäm) wieder
rein“.(18)
Das hebr. Verb kpr, von dem sich das Nomen kapporet ableitet, bedeutet
eigentlich „bedecken“. Im übertragenen Sinn meint es
eben auch das Bedecken von Schuld, also: „sühnen“. Es
beschränkt sich nicht, wie man zuweilen einschränken wollte,
auf eine rein kultische Reinigung des Heiligtums, auch nicht auf die nur
unabsichtlich begangenen Sünden, sondern schließt – zumindest
im Kontext des Jom Kippur-Ritus - die Sühne ethischer Verfehlungen
ausdrücklich mit ein.(19) Das hilasterion ist hier
also so etwas wie die „Stätte der Sühne gewährenden
Gegenwart Gottes“.(20)
Selbst wenn man, wie der katholische Exeget Stefan Schreiber,(21)
die Identifizierung Jesu mit dem Kapporetdeckel in Frage stellt und lexikografische
Erklärungen aus der Profangräzität bevorzugt, kann am kultischen
Hintergrund dieser Stelle kein Zweifel bestehen. Schreiber will das substantivierte
Adjektiv hilasterion als „Weihegabe“ wiedergeben. Er bezieht
sich in seiner Untersuchung auf A. Deissmanns Untersuchungen,(22)
lehnt aber ohne guten Grund dessen Übersetzung mit „zur Sühne/Begütigung
gehörig“ ab.(23)
Anders als bei Anselms Satisfaktionstheorie liegt der Akzent bei Paulus
darauf, dass nicht Menschen einen a priori zürnenden oder blutrünstigen
Gott beschwichtigen müssen, sondern dass Gott selbst Subjekt der
Versöhnung ist. Er ist es, der den Tod seines Sohnes (oder „sein
Blut“, wie es in dem Vers verkürzt heißt) den Menschen
paradoxerweise a posteriori (d.h. nachdem er nun einmal geschehen ist)
als Möglichkeit der Versöhnung anbietet. Dass Gott Subjekt der
Versöhnung ist, gilt freilich schon für das alttestamentliche
Vorbild dieser Denkfigur: „Es ist Gott selbst, der vergibt und sich
an diese von ihm eröffnete Möglichkeit bindet. Menschliche Selbsterlösung
ist das, was hier geschieht, in keinem anderen Sinn, als es auch der Vergebungszuspruch
im christlichen Gottesdienst ist“.(24) Es besteht
also kein Grund, in dieser Hinsicht das NT von seinen atl.-jüdischen
Wurzel abheben zu wollen. Das Opfer als „jüdische Werkgerechtigkeit“
zu diffamieren und dem Christusereignis als Erlösung sola gratia
gegenüberzustellen, das wäre allzu billig. Hier liegt der Unterschied
nicht.
1.3.4 Das Kreuz Jesu als Selbsthingabe Gottes
In Eph 5,2 heißt es: „Lebt in der Liebe, wie auch Christus
uns geliebt hat und hat sich selbst für uns gegeben als Gabe und
Opfer, Gott zu einem lieblichen Geruch..“ Hier ist es ein Selbstopfer
Jesu, durch das Jesus den Vater versöhnt hat. Der „liebliche
Geruch“ erinnert an den Wohlgeruch, der vom Brandopfer des Noah
ausgeht und der Gott davon abbringt, die sündige Menschheit zu vernichten.(25)
Stattdessen ermöglicht Gott den Menschen einen Neuanfang –
obwohl er weiß, dass das „Dichten des menschlichen Herzens
böse ist von Jugend auf“ (1 Mos 8,21f.). Diese Struktur ist
eine Grundkonstante alttestamentlicher Opfertheologie: Der Mensch gibt
etwas, was ihm wertvoll ist (ein Opfertier oder andere, etwa vegetabiblische
Opfer), weg an Gott. Entweder um diesem zu danken für diese Gaben,
oder eben – und darauf scheint mir der Akzent bei Deutungen des
Kreuzestodes Jesu zu liegen – um ihn gnädig zu stimmen und
ihn von einer Vernichtungsabsicht abzubringen. Hier nun wird der alttestamentliche
Kontext insofern überschritten, als Gabe und Geber identisch sind.
Es handelt sich bei Jesu Tod eben um eine Selbsthingabe. Das kann man
von den Opfern des Alten Bundes nicht sagen.
Auch der Hebräerbrief bedient sich extensiv der Opfermetaphorik.
Wie schon im Eph wird betont, Jesus habe „sich selbst als makelloses
Opfer dargebracht“ (9,14). Diese aktive Rolle Jesu wird zugespitzt
durch die Aussage, Jesus sei Opfer und (Hohe-)Priester in einer Person.
Auch hier ist wieder der Zusammenhang zum Sühneritual des Jom Kippur
herauszuhören, freilich mit der klaren Tendenz, die Opfer des Alten
Bundes gegenüber der Selbsthingabe Jesu abzuwerten. Eine ebenfalls
nicht unproblematische Tendenz, auf die ich noch zurückkommen werde.
1.3.5 Das Kreuz Jesu als Märtyrertod
E. Lohse hat vermutet, dass das sühnende Leiden der Märtyrer
bei manchen Glaubensaussagen (etwa Mk 10,45) der Urgemeinde Pate
gestanden haben könnte. Besonders in der Zeit der Makkabäerkriege
sei die Überzeugung entstanden, dass der Tod der Juden, die ihr Leben
„für“ die gerechte Sache geopfert haben, nicht umsonst
gewesen ist. Tatsächlich gibt es in der zwischentestamentarischen
Literatur die Vorstellung, dass das Leiden des Gerechten im Blick auf
Gottes Heilsplan notwendig sein und für andere Menschen Sündenvergebung
erwirken kann.(26) Man darf allerdings nicht übersehen,
dass einige der von Lohse dafür angeführten Belege erst nach
der Entstehung der Evangelien zu datieren sind und insofern als Erklärung
der neutestamentlichen Stellen nicht in Frage kommen.
Diese und andere Belege, etwa im rabbinischen Schrifttum, zeigen aber,
wie Juden versuchten Verlusterfahrungen wie Krieg, Vertreibung oder der
Zerstörung des Tempels nachträglich einen Sinn abzuringen. Diese
Versuche von „Trauerbewältigung“ stellen eine bemerkenswerte
Parallele zum frühen Christentum dar, wo es auch galt, mit der Enttäuschung
des Todes Jesu konstruktiv umgehen zu lernen. Dass auch im jüdischen
Kontext oft von einem „Schlachten“ und vom „Blut“
die Rede ist, kann man als Anleihe an die Terminologie der Tieropfer sehen
– auch wenn diese nach der Tempelzerstörung faktisch nicht
mehr vollzogen wurden. Bemerkenswert, dass im Falle der jüdischen
Märtyrertheologie sogar die biblische Sprachfigur des Opfers auf
zu Tode gekommene Menschen übertragen wird. Das ist gegenüber
der hebräischen Bibel neu, aber wie auch bei den etwa zeitgleich
entstandenen frühchristlichen Deutungen des Opfertodes Jesu geht
man so mit der Schrift über die Schrift hinaus.
Gleich welche dieser Motivkomplexe man in den Vordergrund stellt, immer
geht es darum, dass der Tod eines Tieres oder eines Menschen ermöglicht,
dass ein Schaden wieder gut gemacht, eine zerbrochene oder zumindest gestörte
Gottesbeziehung wieder hergestellt wird. In diesem Sinne wird man im NT
mit gutem Recht von einer Sühnopfertheologie sprechen dürfen.
Sühne verstanden freilich als eine von Gott gnädig angebotene
neue Chance, nicht als Forderung eines zürnenden Tyrannen. Sonst
wird in der Tat das daraus, was Helmut Foth so fürchtet: ein antijüdisches
Stereotyp in alttestamentlich-jüdischer Verkleidung.
2. Die Kritik an den kultischen Deutungsmustern
auf dem Prüfstand
2.1. Kritik am Bild eines bestechlichen Gottes
Wenn Jesu Tod als kultisches Sühnopfer gedeutet wird, so finden viele
Kritiker, fällt ein dunkler Schatten das Gottesbild.(27)
Was ist das für ein Gott, so fragt man, der sich auf ein solches
Tauschgeschäft („do-ut-des“) einlässt. Freilich
träfe ein solcher Vorwurf nicht nur die Sühnetodvorstellung
im NT, sondern jede Kulttheologie, egal ob heidnischer oder jüdischer
Provenienz – sofern die Logik des kompensatorischen Tauschgeschäftes
im Hintergrund steht. Genau das allerdings scheint mir im Falle des Opfertodes
Jesu fraglich. Hier ist es nämlich nicht der Mensch, der Gott einen
Deal anbietet, sondern Gott ist es, wie wir gesehen haben, der in seiner
Gnade ein Außer-Kraft-Setzen des Tun-Ergehen-Zusammenhangs konzediert.
Nach alttestamentlich-jüdischem Denken besteht nämlich ein unlösbarer
Zusammenhang zwischen dem Tun und dem Ergehen einer Person. Durch die
Sünde wird die Schöpfungsordnung aus dem Gleichgewicht gebracht.
Diese wird erst wieder hergestellt, wenn sich das Unheil ausgewirkt hat.
Es gibt aber eine von Gott eingeräumte Möglichkeit, die unheilvollen
Folgen des eigenen Handelns abzuwenden und trotzdem der Gerechtigkeit
Genüge zu tun: Sühne. Sie ist keine Forderung eines rächenden,
sondern eine Konzession eines gnädigen, aber gleichwohl gerechten
Gottes.(28)
2.2. Kritik an der grausamen Vorstellung eines Menschenopfers
Schlimmer aber als der Verdacht der Bestechlichkeit wiegt die Abscheu
vor einem Menschenopfer, das im Falle Jesu sogar noch ein Sohnopfer darstellt.
So fragt Burkhard Müller im WDR-Hörfunk fast empört: „Was
wäre das für ein grausamer Gott, der ein Menschenopfer braucht,
um damit seinen Zorn zu stillen! Und die Sache wird noch unappetitlicher,
wenn dieser Mensch sein einziger Sohn ist!“(29)
„Religiöse Legitimation von Gewalt“ wittern auch manche
Vertreterinnen der feministischen Theologie hinter der Sühnopfertheologie,
die sie als Spielart einer maskulin geprägten Denkart darstellen.(30)
Ein solches Gottesbild würde nun in der Tat einen Bruch mit dem Judentum
bedeuten, denn darin hat H. Foth Recht: „Die gesamte Ethik der Thora
und der Propheten lehnen Menschenopfer in einer Radikalität ab, die
in der antiken Welt einmalig ist.“(31) So zielt
die jüdische Tradition von der Bindung Isaaks (‚Aqedat Jitzchaq’),
auf die auch im NT teilweise angespielt wird, genau darauf ab, dass der
Sohn nicht geopfert wird. Viele Alttestamentler sehen hier die Erinnerung
an einen archaischen Brauch, der aber eben im biblischen Kontext –
und das ist die Pointe - als überwunden gilt.(32)
Nun darf man nicht übersehen, dass kein neutestamentlicher Autor
annimmt, dass Jesus selbst als Opfer kultisch geschlachtet worden sei.
Die Opferterminologie wird in diesem Kontext immer metaphorisch gebraucht.
Die entscheidende Übereinstimmung zwischen Sache und Bild besteht
darin, dass beides, das Tieropfer wie der Tod Jesu, uns von den Unheilsfolgen
der Sünde befreien.(33)
Gefährlich an der Sohnopfermetaphorik ist aber nicht nur, dass
sie dazu neigt, Gewaltphantasien Raum zu geben, sondern dass ihr
auch eine geheime Substitutionstheologie innewohnt, nach dem Motto: Das
alttestamentliche Tieropfer ist durch das einmalige Menschenopfer „aufgehoben“
worden – im doppelten Hegel´schen Sinn: auf eine neue, höhere
Ebene gehoben, aber auch zugleich überwunden und abgeschafft. Dieses
Motiv kann antijüdisch gewendet werden - dann nämlich, wenn
das Judentum für das Überwundene („Alter Bund“),
das Christentum aber für das Kommende („Neuer Bund“)
steht. So aber sind alt und neu in der Heilsökonomie Gottes ganz
sicher nicht aufeinander zu beziehen: im Sinne einer schlichten Ablösung
der einen durch die andere Größe. Denn es darf ja nicht übersehen
werden, dass ja auch das Judentum - fast zeitgleich mit dem entstehenden
Christentum übrigens - unblutige Formen entwickelt hat, das gestörte
Gottesverhältnis wieder zu „reparieren“. Man hat insofern
nicht ganz zu Unrecht beide Religionen als „Geschwister-“
oder „Zwillingsreligionen“ bezeichnet.(34)
2.3 Kritik am Gedanken der Stellvertretung
Ein dritter Zweifel, der den neuzeitlich-aufgeklärten Bibelleser
immer wieder beschlichen hat ist die Frage, ob eine Sündenschuld
überhaupt von einem anderen als dem Täter selbst getilgt werden
kann. Schon Kant hatte eingewendet, eine moralische Schuld sei „keine
transmissible Verbindlichkeit, die etwa, wie eine Geldschuld (..), auf
einen anderen übertragen werden kann, sondern die allerpersönlichste,
nämlich eine Sündenschuld, die nur der Strafbare, nicht der
Unschuldige (..) tragen kann.“(35) Es ist also
die Kategorie der Stellvertretung, die hier kritisch hinterfragt wird.
Zunächst einmal wird man zurückfragen dürfen: Entspringt
nicht der moderne Widerwille gegen den Stellvertretungsgedanken dem an
und für sich legitimen Interesse, nicht nur passives Objekt, sondern
auch aktives Subjekt der Erlösung zu sein, selbst am eigenen Heil
mitwirken zu können. Die Reformatoren haben dieses Interesse freilich
als Ursünde entlarvt, weil sie erkannt haben: Wo der Mensch sich
allein auf seine eigenen Fähigkeiten und Stärken zu gründen
versucht, überfordert er sich permanent. Man kann sich eben nicht
an den eigenen Haaren aus dem Sumpf ziehen.
Außerdem wäre kritisch zu entgegnen, dass Sühne biblisch
verstanden immer inklusive Stellvertretung beinhaltet. Jesus stirbt also
nicht ersatzweise für den Sünder, sein Tod hebt unseren auch
nicht einfach auf, sondern Jesus tritt an die Stelle, wo der andere lebt,
in die Gottferne der Sünde, in das Getrennt-Sein von seinem schöpferischen
Grund, um ihn von dort zu befreien zu einem neuen Leben mit Gott.
3. Das Kreuz Jesu - ein Sühnopfer? - Zusammenfassende
Thesen
1. Zögerlicher Sprachgewinn am Anfang: Der
Weg vom Ärgernis zum Heilsereignis
Das Kreuz Jesu ist für die ersten Christen zunächst ein schwerwiegendes
Problem („Ärgernis“). Erst aus dem Rückblick wurde
allmählich der Sinn dieses Todes erkennbar. Tastend und unsicher
vollzog sich der soteriologische „Sprachgewinn“ (D. Ritschl)
am Anfang, an deren Ende das Kreuz als Heilereignis stand.
Diese Erkenntnis widerspricht den leider immer wieder anzutreffenden
Versuchen sich selbst als bibeltreu ausgebender Christen, eine bestimmte
Deutung des Todes Jesu anderen Christen, quasi als Ausweis ihrer Rechtgläubigkeit,
regelrecht abzuverlangen.
Sie verträgt sich auch nicht mit einem Verständnis des Todes
Jesu, wonach dieser Tod von Gott schon lange vorher bei Gott „beschlossene
Sache“ gewesen sei. Ein solches Verständnis von Prädestination
wirft mehr Fragen auf, als es zu lösen vermag.
2. Kultische Sühne, recht verstanden: Eine
von vielen Deutungsmustern im NT
Die kultische Deutung des Todes Jesu als Sühne ist nur eine von vielen
im NT angebotene Denkmöglichkeit. Sie spielt allerdings an zentralen
Stellen des Neuen Testaments eine wichtige Rolle. Sie abzuleugnen oder
wegzuinterpretieren, macht deshalb keinen Sinn.
Wichtig ist freilich, sie richtig zu interpretieren. Sowohl für die
kultische Sühne im AT als auch für den Sühnetod Jesu gilt:
Gott verlangt keine Opfer (a priori), aber er akzeptiert sie (a posteriori)
(siehe These 5!)
Diese Erkenntnis widerspricht einer Satisfaktionslehre, wie sie beispielsweise
Anselm von Canterbury entwickelt hat.
Es ist aber gleichermaßen problematisch, wenn Anselm ins NT zurückprojiziert
und damit die ganze biblische Sühnetheologie desavouiert werden soll.
3. Das Selbstopfer Jesu als Metapher: Die Neuakzentuierung
wird zum christlichen Proprium
Die Opferterminologie wird im Neuen Testament nur als Metapher gebraucht.
In ihrem Zentrum (als tertium comparationis von Zeichen und Bezeichnetem)
steht die sündenvergebende Kraft des Opfers, die neue Gottesgemeinschaft
ermöglicht.
Freilich wird im Kontext des Kreuzes Jesu das Bild gesprengt: Indem das
NT das Sterben Jesu als Selbstopfer bzw. Selbsthingabe thematisiert, fallen
Opfer und Opfernder zusammen.
Diese Erkenntnis widerspricht einem naiven Wörtlich-Nehmen der Redeweise
vom sühnenden Opfer Jesu, wie es eigenartigerweise oft auch bei liberalen
bzw. progressiven Theologinnen und Theologen anzutreffen ist.
Man muss freilich auch sehen, dass die biblische Metapher des Opfers
im NT neu akzentuiert wird, sodass sie schließlich zum Proprium
des Christlichen - auch gegenüber dem Jüdischen - geworden ist.
4. Die Rede vom Sühnetod als gesamtbiblische
Kategorie
Die Rede vom Sühnopfer Jesu stellt für den christlich-jüdischen
Dialog keine Gefahr, sondern eher eine Chance dar, stellt sie doch eine
gesamtbiblische und damit auch eine alttestamentlich-jüdische Kategorie
zur Verfügung, um den Tod Jesu zu verstehen.
Diese Erkenntnis widerspricht der These, dass es nur der historische
Jesus ist, der das Christentum mit seiner jüdischen Mutterreligion
verbindet, es ist auch die posthume Deutung seines Geschicks (also das
frühchristliche Kerygma) ein innerjüdisches Phänomen.
Die kultischen Deutungsmuster können freilich in einem antijüdischem
Sinn zugespitzt werden, etwa wenn der Hebräer-Brief den Alten Bund
(Tieropfer) gegenüber dem Neuen Bund (Selbstopfer Jesu) abwertet.
5. Von Ostern her wird deutlich: Gott will keine
Menschenopfer
Vor dem Hintergrund des biblischen Zeugnisses muss klar gestellt werden:
Gott will keine Menschenopfer, aber er ist bereit - wenn es gegen seinen
Willen und sein Zutun doch dazu kommt, dass Menschen andere Menschen in
den Tod treiben - einen solchen Tod zum Anlass eines Neuanfangs zu nehmen.
Das Kreuz Jesu ist wider Erwarten zum Ort einer neuen Begegnung mit Gott(36)
geworden - über den Graben der Sünde hinweg. Das ist deutlich
geworden durch das österliche Licht, das die Auferweckung Jesu durch
Gott auf das Kreuz geworfen hat.
Diese Erkenntnis widerspricht einer einseitigen Überhöhung
des Kreuzes und einer Isolierung von seinem Kontext: Zum Heilsereignis
wird es erst zusammen mit dem, was davor war: dem Leben Jesu, und dem,
was auf das Kreuz folgte: Jesu Auferstehung.(37)
Sie ist aber gleichermaßen unvereinbar mit dem (menschlich verständlichen,
aber eben unchristlichen) Wunsch, das Leid als Ort der Begegnung mit Gott
auszuklammern. Gerade im Leid kann der Mensch dem mitleidenden Gott nahe
kommen.
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Weiterführende Links:
Stefan
Meißner: Wer war schuld am Tod Jesu?
Gabriele
Gierlich: „Gelitten unter Pontius Pilatus“. Die Gestalt des
Pilatus in Geschichte und Legende
Fußnoten
(1) Kirche im WDR 3-5, Sendedatum: Mittwoch, den 11.2.2009,
Titel: Anselm von Canterbury
(2) Dies kurze Darstellung unter Punkt 1 verdankt
sich wesentlich dem Artikel von J. Roloff: Der Tod Jesu und seine Deutungen,
in: ders.: Neues Testament, Neukirchener Arbeitsbücher, §13.,
Wichtig für das Thema insgesamt sind ferner: G. Barth, Der Tod Jesu
Christi im Verständnis des Neuen Testaments, Neukirchen/Vluyn 1992,
N. Janowski, Sühne als Heilsgeschehen, WMANT 55, Neukirchen/Vluyn
1982, Das Kreuz Jesu, Hrsg. von Rudolf Weth, Neukirchen, 2001.
(3) So auch G. Theißen: Die Religion der
ersten Christen, S.200.
(4) Vgl. G. Theißen, a.A.O, S.202.
(5) Entstanden wohl in den späten 50er oder
frühen 60er Jahren des 1. Jh. n. Chr.
(6) Man muss sich klar machen, dass die Zeitangabe
der Auferstehung „drei Tage“ einem alttest.-jüd. Deutungsmuster
(katà tás graphás, 1 Kor 15,3) entspringt, also keinesfalls
historisch zutreffen muss.
(7) Mk 8,31; 14,21; Lk 24,26 u.ö.
(8) Vgl. dazu schon: L.Ruppert: Jesus als der
leidende Gerechte? SBS 59, Stuttgart 1972. Karl Theodor Kleinknecht: Der
leidende Gerechtfertigte, Die alttestamentlich-jüdische Tradition
vom leidenden Gerechten und ihre Rezeption bei Paulus, WUNT 13, Tübingen
1988
(9) Vgl. auch noch: Mt 23,37; Lk 11,47 [beide
Q], Apg 7,52
(10) C. Breytenbach: Versöhnung, WMANT
60, Neukirchen/Vluyn 1989
(11) Bibl. Theologie des NT, Bd.1. Göttingen
1992, S.191.
(12) H. Foth, Christi Opfertod und der chr.-jüd.
Dialog, PfPfbl 4/2009, S.206-213.
(13) Dem Deutschen Wort „Sühnopfer“
kommen im Hebräischen am nächsten die Begriffe: asam und chatat.
Einen guten Überblick gibt R. Rendtorff, Theologie des AT, Bd.2,
Neukirchen 2001, S.104ff.
(14) Vgl. 13,1.27-29, 18,28 und 19,14.31.36.42
(15) O. Betz: Jesus. Der Herr der Kirche, WUNT
52, Tübingen 1990. Auch S.P.h. de Vries: Jüdische Riten und
Sympole, S.117: „...war das Passalamm zum Teil Bestandteil des Opferdienstes.“
(16) F. Crüsemann: Die Tora. Theologie
und Sozialgeschichte des atl. Gesetzes, Gütersloh 3. Aufl. 2005,
S.364
(17) J. Roloff, EWNT II, 456f.
(18) Die Betonung, dass „alle“ Sünden
gesühnt werden an diesem Tag findet sich auch in 16,16 und 16,34.
(19) F. Crüsemann, a.a.O., S.365.
(20) U. Wilckens: Der Brief an die Römer
EKK VI/I, S. 192; auch G. Theißen, a.aO., S.204 spricht im Blick
auf Röm 3,25 von einer Sühneaussage. Paulus meine hier „das
stellvertretende Erleiden des vorher beschworenen Zornes Gottes über
alle Sünder“.
(21) Stefan Schreiber: Das Weihegeschenk Gottes.
Eine Deutung des Todes Jesu in Röm 3,25, ZNTW 97, Heft 1-2, S. 88–110
(im Internet: http://egora.uni-muenster.de/fb2/zrnt/
Text_6_(Schreiber).pdf)
(22) A. Deißmann, ???S?????S und ???S??????.
Eine lexikalische Studie, ZNW 4 1903, 193-212.
(23) Ähnlich auch B. Janowski: „Sühnmal“,
Sühne als Heilsgeschehen. Traditions- und religionsgeschichtliche
Studien zur priesterschriftlichen Sühnetheologie, hg. Von C. Breytenbach
u.a., Neukirchen 2. Aufl. 2000, S.272 und Utzschneider: „Sühneapparat“,
Das Heiligtum und das Gesetz, Studien zur Bedeutung der sinaitischen Heiligtumstexte
(Ex 25 - 40; Lev 8-9), Orbis Biblicus et Orientalis 77, Freiburg (Schweiz),
Göttingen 1988, S. 121
(24) F. Crüsemann, a.a.O., S. 363.
(25) Ironisierend, wie H. Foth, kann ich diesen
Terminus gar nicht finden, der im AT ein terminus technicus für die
Wirkung des Opfers auf Gott.
(26) Vgl. 4 Makk 6,27ff. und 4Makk 17,21f.,
wo auch von einem hilasterios thanatos die Rede ist.
(27) So etwa K.P. Jörns: Notwendige Abschiede,
Gütersloh 2004, der in fast marcionitischer Weise dem angeblich atl-jüd..
„Gott des Gehorsams“ den „Gott der Liebe“ gegenüberstellt,
wie ihn Jesus gepredigt habe.
(28) Anders etwa U. Grümbel in der 2. Auflage
des Wörterbuchs der Feministischen Theologie: „Gott ist nicht
Subjekt der Opferung Jesu (weder als victim noch als sacrifice). Gott
fordert das Opfer Jesu nicht. Mit der Auferweckung Jesu widerspricht Gott
dem gewaltsamen Opfertod, nimmt das Todesopfer nicht an, gibt dem
Leben Jesu ein für alle Mal Recht.“ (Opfer, Systematisch praktisch,
in: Wörterbuch der Feministischen Theologie. Hg. von E. Gössmann,
Helga Kuhlmann et al., 2. vollständig überarbeitete und grundlegend
erweiterte Auflage, Gütersloh: Gütersloher Verlagshaus 2002,
432-434, 433.
(29) B. Müller, ebd.
(30) C. Jansen, Wörterbuch der Feministischen
Theologie, a.a.O., S. 430.
(31) H. Foth, a.a.O., S.209.
(32) Es hat übrigens in nachneutestamentlicher
Zeit Strömungen im Judentum gegeben hat, die durch die Betonung des
stellvertretenden Selbstopfers Isaaks zugunsten anderer Juden durchaus
eine gewisse Parallele zum Sühnetod Jesu darstellten. Vgl. dazu Stefan
Meißner: Paulinische Soteriologie und die Aqedat Jizchaq, Judaica
(Basel), Heft 1, März 1995
(33) M. Wolter seinem Vortrag „Neutestamentliche
Deutungen des Todes Jesu“ für die Kirchenleitung der Evangelischen
Kirche im Rheinland am 15.5.2009 in Düsseldorf, S.3.; vgl. auch ders.:
Der Heilstod Jesu als theol. Argument, in: Deutungen des Todes Jesu im
Neuen Testament. Hrsg. v. Jörg Frey u. Jens Schröter, Tübingen
2005.
(34) A.F. Segal: Rebeccas Children, Judaism
and Christianity in the Roman World, Harvard 1986.
(35) Die Religion innerhalb der Grenzen der
bloßen Vernunft, Zweites Stück, B 94/95.
(36) In diesem Sinn verstehe ich auch die bibl.
Begriffe „hilasterion“ = Kapporetdeckel und „qorban“
= „Dar-Nahung“ (M.Buber).
(37) Sehr schön formuliert bei Regine Munz,
die ebenfalls „für eine integrierende, umfassende Sichtweise
seines Lebens Sterbens, und Auferstehens“ plädiert (http://zh.ref.ch/content/e3/e9924/e10089/munz.pdf).
Dieser Aufsatz ist erstmals erschienen in: Blickpunkte
3/2012
Bild:
Stefan Meißner (Copyrights)
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