von Martina Gutzler
1. Zionismus heute
Wie wichtig die zionistische Bewegung für die Gründung des Staates
Israel war, ist unbestritten.
Mit der Gründung des Staates Israel, seinen Kriegen, seinen militärischen
Erfolgen, wie auch seinen politischen und gesellschaftlichen Krisen wurden aber
der Zionismus und die zionistische Bewegung verändert.
Die Theoretiker und die frühen Aktivisten des Zionismus hatten sich vor
der Staatsgründung nicht wirklich mit den Fragen des Lebens im Staat Israel
auseinandersetzen müssen, das meiste kam erst in und nach 1948.
Die Tragweite des sozialen und politischen Experimentes „Israel“,
auch die Folgen der Staatsgründung wurden erst im Laufe der Jahre und Jahrzehnte
deutlich.
Um die Beantwortung einiger entscheidender Fragen wird auf der heutigen Plattform
des Zionismus, in der israelischen Politik und in der israelischen Gesellschaft
bis heute gerungen :
- Ist der Staat Israel ein säkularer Staat, der all seinen Bürgerinnen
und Bürgern ausnahmslos dieselben Rechte einräumt, oder ist der Staat
Israel in erster Linie Staat für seine jüdischen Bürgerinnen
und Bürger (Rechte jüdischer Israelis versus Rechte arabischer Israelis
bzw. staatenloser Palästinenser)?
- Wie viel Raum lässt der Staat Israel den verschiedenen Definitionen des
weltweiten Judentums (Orthodoxie versus Reformjudentum oder Konservatives Judentum;
Leben in Israel versus Leben in der Diaspora)?
- Ist es möglich, jüdische Menschen aus ganz verschieden Kulturen,
Erdteilen, politischen Systemen in diesen einen Staat so zu integrieren, dass
sich keine dauerhaft herrschende politische Klasse herausbildet (Aschkenasim
versus Sephardim; Kibbzniks versus normale Israelis; russische Späteinwanderer
oder äthiopische Juden versus Sabras)?
- Und zuletzt, ist es möglich die Existenz dieses Staates essentiell auf
die Ausübung von Militärrecht in den Besetzten Gebieten und den ungelösten
Konflikt mit dem Palästinensischen Volk und indirekt der Arabischen Welt
zu stützen?
Ein entscheidender Unterschied zum ursprünglichen, säkularen Zionismus
ist in der Entwicklung der Groß- oder Ganz-Israel-Bewegung zu sehen, die
das 1967 im Sechstagekrieg gewonnene Land als zum Staat Israel gehörig
zählte.
Das Entstehen der Siedlungen in den Besetzen Gebieten noch unter der Arbeiterpartei,
das Erstarken der Siedlerbewegung zur quasi vierten Kraft im Staat, die Regierungsübernahme
durch das National-Religiöse Lager 1977, all das trugen dazu bei, dass
die Vorstellung, die West-Bank und Gaza seien als Samaria und Judäa automatisch
jüdisch-israelisches Staatsgebiet, zu einer mehr oder minder offenen Staatsideologie
wurde .
Die Zerreißproben, unter denen der Staat Israel und damit auch der Zionismus
seit 1948 stand, sind an den verschiedenen gewalttätigen Auseinandersetzungen,
dem innerisraelischen Streik des Jahres 1952 und dem Aufstand sephardischer
Einwanderer von 1959, aber auch am Blutbad durch Baruch Goldstein 1994 in Hebron,
dem Attentat an Ministerpräsident Rabin 1995 und natürlich an den
einander folgenden Aufständen der Palästinenser (erste Intifada 1987-93,
zweite oder Al-Aksa-Intifada seit September 2000) abzulesen.
Avraham Burg, ehemaliger Knessetpräsident, sieht Israel 55 Jahre nach seiner
Gründung an einer Wegscheide :
Israel muss sich entscheiden zwischen einer wirklichen Demokratie und der veralteten
zionistischen Illusion von einem araberfreien Groß-Israel, sowie zwischen
einem gerechten Frieden mit dem palästinensischen Volk oder der Behauptung
einer jüdischen Mehrheit um jeden Preis.
Die Frage nach der Bedeutung des Landes, seinen Ausmaßen als Staatsgebilde
zieht also, egal wie man sie beantwortet, immer die Frage nach Israel selbst
und was den Staat Israel letztendlich ausmacht, nach sich.
Burg spricht auch aus, was verschiedene Intellektuelle wie z.B. der Nobelpreisträger Jehoschua Leibowitz immer wieder beschreiben haben: Die Gewalt, die nötig ist, um die Besetzten Gebiete und die Palästinenser im Allgemeinen einigermaßen im Griff zu behalten, wirkt auch auf Israel selbst zurück, führt zu einer gefährlichen sozialen Verhärtung innerhalb der jüdisch-israelischen Gesellschaft und lässt so den Staat und seine Bürger innerlich wie äußerlich nicht zur Ruhe kommen.
Die Diskussionen innerhalb der israelischen Gesellschaft wie z. B. die um die
„Neuen Historiker“ , zeigen, dass sich die historische Sicht der
Staatsgründung verändert:
Die Staatsgründung Israels, die damit verbundenen Auseinandersetzungen,
die Ziele der arabischen Staaten, die Strategie der jüdischen Kampfverbände
werden differenzierter und jenseits der altgewohnten Angreifer-Verteidiger-
und Täter-Opfer-Schemata beurteilt.
Ansätze, sich damit, wenn auch unter Schmerzen, von zionistischen Gründungsmythen
zu verabschieden, werden deutlich.
2. Das National-Religiöses Lager
Das ganze national-religiöse Lager in Israel darzustellen, ist hier nicht
der Ort. Wichtig zu wissen, ist allerdings, dass eine der größten
Kräfte des national-religiösen Lagers in Israel die Siedlerbewegung
ist, die als halbparlamentarische Bewegung auf die israelische Gesellschaft
einen großen und unkontrollierten Einfluss hat .
Wahrgenommen in der Weltöffentlichkeit werden vor allem die Vertreter von
Gusch-Emunim, der wohl immer noch stärksten Kraft innerhalb der Siedler.
Ihre Gründsätze sind kurz und klar zusammenzufassen:
"Dieses ganze Land gehört uns. Absolut uns, und es darf nicht an andere
gegeben werden... Es ist das Erbe unseres Vaters Abraham. Deshalb kann es ein
für allemal keinen Zweifel daran geben, dass es hier keine arabischen Gebiete
und keine arabischen Böden gibt, sondern nur Böden Israels, die als
ewiges Erbe unseren Vätern gegeben worden sind, zu dem andere kamen und
darauf bauten, ohne unsere Zustimmung und unsere Präsenz, und wir haben
das Erbe unserer Väter nie aufgegeben und verkauft, wir haben beständig
gegen die grausame und künstliche Kontrolle dieser Länder protestiert.
Deshalb haben wir die [religiöse] Verpflichtung, sie zu befreien und sie
nie aufzugeben. Denn dieses ganze Land in all seinen biblischen Grenzen gehört
zur Herrschaft des Volkes Israel.“
Trotzdem gibt es auch innerhalb des national-religiösen Lagers konträre
Haltungen, bei der der Friede mit den arabischen Nachbarn höher bewertet
wird als die Größe des Landes.
3. Die Friedensbewegung
Die Friedensbewegung in Israel besteht aus einer Unzahl von Gruppen, die hier
nicht aufgelistet werden können.
Wichtig erscheint, einer deutschen Öffentlichkeit darzulegen, dass in dem
Strudel von Gewalt und Gegengewalt Israelis und Palästinenser gibt, die
immer noch und immer wieder den Zugang zueinander suchen. Die verschiedenen
Friedensgruppen haben dabei ihren eigenen Ansatz oder Schwerpunkt und sind auch
in elementaren Punkten der möglichen Lösungen des Nahostkonflikts
verschiedener Meinung.
- Es gibt Gruppen, die den Ansatz der Menschenrechte wählen wie z.B. Rabbies
for Human Rights, Vereinigung für Menschenrechte in Israel oder das Minerva-Zentrum
für Menschenrechte oder auch das Israelische Zentrum für Menschenrechte
in den Besetzten Gebieten.
- Es gibt Gruppen, die gemeinsame politische Aktionen zwischen Israelis und
Palästinensern organisieren, wie z.B. Gush Shalom, Woman in Black, Frauenkoalition
für einen gerechten Frieden.
- Es gibt aber auch Gruppen, die vor allem auf die Friedensbereitschaft innerhalb
der israelische Bevölkerung einwirken wollen, wie z.B. die größte
Friedensgruppe in Israel, Peace Now/Shalom Achshav, die sich zudem noch als
einzige Friedensgruppe einer bestimmten Partei, der israelischen Arbeiterpartei
zugehörig fühlt.
- Und es gibt Gruppen, die ein friedliches Zusammenleben der verschiedenen Religionen
und Völker vorleben und diese Erfahrungen in ihrer Bildungsarbeit weiter
tragen, wie z.B. Neve Shalom.
So unterschiedlich die Position der einzelnen Gruppierungen zu Detailfragen
wie dem Rückkehrrecht palästinensischer Flüchtlinge nach Israel
oder zur Frage des Status von Jerusalem ist, scheint der gemeinsame Minimalkonsens
in der Friedensbewegung Israels zu sein, dass es einen gesicherten israelischen
Staat in etwa den Grenzen von 1967 und einen gesicherten palästinensischen
Staat in der West-Bank und Gaza geben soll, also Land für Frieden.
Die unterschiedlichen Positionen innerhalb der Friedensbewegung rühren
u.a. daher, wie Israel bzw. Palästina jeweils definiert wird, ob als Nationalstaat
mit einer klaren jüdischen bzw. palästinensischen Mehrheit oder als
säkularer Staat, der einen relativ hohen Prozentsatz an arabischen Israelis
bzw. jüdischen Palästinensern verkraften könnte.
Es geht bei den Detailfragen also im Grunde um die Frage, wo ist die jeweilige
israelische oder palästinensische Schmerzgrenze, welche der vorliegenden
Lösungsvorschläge und Ideen sind am besten und einfachsten umsetzbar,
und dadurch lebensnah und menschenfreundlich.
Besonders genannt sei an dieser Stelle eine Friedensgruppe:
IPCRI, das Israelisch-Palästinensisches Informations- und Forschungszentrum.
IPCRI ist eine Denkschmiede, die aus Politologen, Soziologen, Juristen, Historikern
u.a. hochqualifizierten Fachleuten beider Völker besteht, die sich zum
Ziel gesetzt haben, notwendige praktische Lösungen für die großen
Konfliktpunkte des Friedensprozesses zu entwickeln, wie z.B. das Flüchtlingsproblem,
Umweltschutz/Ressurcenverteilung, Jerusalem, Staatsgrenzen, Siedlungen.
Anhand genauer Meinungsumfragen in Israel und Palästina werden „Lösungskorridore“
erarbeitet, mit politisch Verantwortlichen diskutiert und in möglichst
breiter Öffentlichkeit erörtert, um so zu Kompromissen zu kommen,
die von der Mehrzahl der Israelis und Palästinensern mitgetragen werden.
4. Christliche Palästinenser
Drei palästinensische Theologen haben im deutschsprachigen Raum zu Grundlagen
palästinensischer Theologie veröffentlicht:
Elias Chacour , ein Melkit mit einem israelischen Pass, der in Galiläa
lebt; Mitri Raheb , ein Lutheraner mit jordanischem Pass aus Bethlehem, West-Bank
und Naim Stifan Ateek , ein Anglikaner aus Jerusalem ebenfalls mit israelischem
Pass. Alle drei stellen jeweils eine Möglichkeit palästinensischer
Lebensumstände in Israel/Palästina dar.
Ihre Entwürfe kreisen um die Fragen:
Wie wird die Bibel im Nahostkonflikt angemessen ausgelegt? Wie ist die Erwählung
Israels zu verstehen? Wie passen Zionismus und die Verheißung universalen
Heils für alle Völker zusammen? Wem gehört das Land?
Alle drei Entwürfe beschreiben die Situation der Palästinenser und
der palästinensischen Christen als die Situation von schwachen, von politisch
entrechteten Menschen, die um ihre Selbstbestimmung und Menschenwürde ringen
und in diesem Kontext lesen sie auch ihre/unsere Bibel. Biblische Geschichten
wie die vom Auszug aus Ägypten oder die Worte der Exilspropheten als Ermutigung
für die Schwachen werden auf die eigene Lebenssituation bezogen, und die
Ermutigung, die Israel im Babylonischen Exil erfahren hat, wird nun neu in Besitz
genommen von palästinensischen Christen.
Eine Theologie, die sich als absolut, zeitlos und somit über der Geschichte
stehend versteht, die die biblischen Texte nur Israel zudenkt, wird abgelehnt.
Auch andere Begriffe des jüdisch-christlichen Glaubens, wenn sie eindimensional
verwendet werden, wie z.B. die Erwählung Israels, werden kritisch gesehen.
Gott erwählt in der biblischen Geschichte das Volk Israel als Volk von
versprengten, verfolgten Menschen und hält ihnen die Treue. Diese Treue
Gottes, die sich in Jesus Christus auf die Völker ausweitet, ist immer
eine Erwählung von Menschen, nie von Staatsgebilden. Ein Staat, der mit
dieser Erwählung argumentiert und diese Erwählung noch an ein Staatsgebiet
bestimmten Ausmaßes knüpft, verbiegt diese Erwählung Gottes
zu einem politisch einklagbaren Recht. Beides ist von der Bibel nicht gedeckt
.
Ebenso wenig ist von der Bibel der endzeitliche Heilscharakter der Staatsgründung
Israels gedeckt .
Ein Zionismus, der sich aber auf biblische Grundlagen und Verheißungen
stützt, bindet sich selber an die dazugehörigen Vorstellungen von
Gerechtigkeit, Schutz des Schwachen, Würde des Entrechteten. Gerechtigkeit
im biblischen Sinne klagen also palästinensische Christen auf der Basis
ihres Glaubens gegenüber dem Staat Israel ein.
Das Land, der Gegenstand des völkerrechtlichen Streites, wird letztendlich
als Leihgabe Gottes und nicht als Besitz von Menschen begriffen, den Menschen
und Völkern als Zeichen göttlicher Fürsorge gegeben.
Dieses Land ist eine Leihgabe, dessen Segen durch Gerechtigkeit vermehrt, aber
auch durch Hass und Ungerechtigkeit entweiht und verunreinigt werden kann .
Für alle drei Theologen steht das Existenzrecht des Staates Israel positiv
außer Frage und alle drei sehen in gewaltlosem politischem Widerstand
die einzige Chance zur sinnvollen Lösung des Nahostkonflikts. Bewaffneter
Kampf, Djiad, ist für sie keine christliche Option.
1. Die Macht der Projektionen oder das irrationale Element
Die Beschäftigung mit israelischen Stimmen als auch mit palästinensischen
Stimmen zum Thema Land macht neben allen rationalen, theologischen und verstehbaren
politischen Argumenten eines deutlich, was in einigen wenigen Artikeln auch
offen ausgesprochen wird:
Sowohl auf israelischer Seite als auch auf palästinensischer Seite wird
die Weltlage immer durch die Brille bestimmter geschichtlicher Erfahrungen und
daraus resultierender heutiger Projektionen wahrgenommen.
Während in Israel die biblische Geschichte von den alten feindlichen Völkern
wie z.B. Amalek, der Mythos von Massada und das Trauma der Shoa die Sichtweise
mit beeinflussen, fließt auf palästinensischer und arabischer Seite
die Geschichte der islamisch-christlichen Auseinandersetzungen mit ein . Die
Gegenseite als vertrauenswürdig, konstruktiv und ebenbürtig anzusehen,
fällt auf Grund dieser Projektionen wohl sehr schwer.
Auch deswegen ist die Lösung dieses Konfliktes immer wieder verstellt und
die Phasen des wütenden Schweigens zwischen den Konfliktparteien so lange
und für Außenstehenden, die ihrerseits wieder in eigenen Projektionen
gefangen sind, oft nicht nachvollziehbar. Auch dies gilt es auf unserer Seite
wahrzunehmen, um zu Geduld und wachsendem Verstehen in beide Richtungen kommen
zu können.
2. Die Mächte im Hintergrund
Westlichen Beobachtern erscheinen Israel und die Palästinenser meist als
einzige Hauptakteure auf der politischen Bühne des Nahostkonflikts.
Aber der zweite Libanonkrieg (2006) hat klar belegt, dass neben Israel und den
Palästinensern weitere Mächte handfest im Nahen Osten agieren und
die Akteure Israel, die Palästinenser u.a. als Stellvertreter kriegerischer
Interessen ge- und missbrauchen.
So zeigt die Verbindung des Iran zur Hisbollah im Libanon, dass es gut möglich
ist, Israel in einen Krieg zu verwickeln, ohne es militärisch anzugreifen.
Friede im Nahen Osten wird nur dann wirklicher Frieden sein, wenn die ganze
Region zur Ruhe gekommen ist.
3. Internationales Recht
Das Internationale Recht, im Konflikt um das Land in Form des Völkerrechtes,
erscheint im Nahostkonflikt wie der ungebetene Gast auf einer eh schon vollkommen
chaotischen Party. Neben den religiös, kulturell und geschichtlich begründeten
Ansprüchen auf das Land zwischen Mittelmeer und Jordan ist man versucht
zu sagen, nein, wenn wir uns darüber auch noch Gedanken machen müssen,
kommen wir ja zu gar keinem Ende.
Und der Nachteil an diesem ungebetenen Gast ist, dass er selbst noch in den
Kinderschuhen steckt.
Aber auch wenn das Internationale Recht, wie man am Nahostkonflikt sieht, vor
erst nur auf dem Papier von Resolutionen lebt und keine neutrale politische
Macht an der Seite hat, die ihm zu Durchsetzung verhilft, kann ohne sein Grundanliegen
der Nahostkonflikt, der Konflikt um das Land nicht gelöst werden.
Das Völkerrecht ist grundsätzlich kein Instrument, um geschehenes
historisches Unrecht an Völkern aus der Welt zu schaffen. Wäre das
das Bestreben, hätten sicherlich 50 Völker oder mehr Anrecht auf Land
und Entschädigung in einem Maß, das weder eine Nation noch die gesamte
Völkergemeinschaft leisten könnte.
Das Völkerrecht selbst hat auch im Gegensatz zu den allgemeinen Menschenrechten
keinen Positiv-Katalog der Rechte der Völker, z.B. auf Nationenstatus ab
einem bestimmten Zeitpunkt ihrer Entwicklung. Alles basiert letztendlich auf
der Fähigkeit eines Volkes, sich als Nation zu organisieren und die Zustimmung
der Völkergemeinschaft zu dieser Tatsache zu erlangen.
Das Völkerrecht kann aber ein sehr sinnvolles Fundament sein, um im Konfliktfall
das Selbstbestimmungsrecht von Völkern auf der Grundlage der heutigen sozialen
und nationalen Lebenswirklichkeit um zusetzen.
Die heutige soziale und nationale Lebenswirklichkeit im Nahen Osten ist:
Es gibt zwei Völker, Israelis und Palästinenser.
Beide Völker haben eine jeweils unterschiedliche und klar erkennbare Kultur,
Sprache und Geschichte.
Es ist eine Verkennung der Wirklichkeit, die Existenz eines dieser beiden Völker
leugnen zu wollen, wie das z.B. mit den Worten Golda Meirs (…es gibt kein
Palästinensisches Volk…) immer wieder gerne von allen möglichen
Seiten getan wird.
Für beide Nationen ist das Machtvakuum nach dem Ende des Osmanischen Reiches
der geschichtliche Ausgangspunkt ihrer Entwicklung. Israel bekam dadurch die
Chance, in den politisch ungeordneten Jahrzehnten nach dem Osmanischen Reich
die Weichen zu stellen für die Staatsgründung, das palästinensische
Volk blieb nach den Staatsgründungen der umliegenden arabischen Länder
und Israels als „Restposten“ ohne Staat übrig.
Während die umliegenden arabischen Staaten oft eine Identität durch
ihre Diktatoren oder Einfluss nehmende Großmächte verpasst bekamen,
ist die nationale Entwicklung Palästinas durch ganz eigene Faktoren geprägt
worden:
Durch das Überleben im Exil und in der Besatzung, durch die Auseinandersetzung
mit dem organisierten, modernen Staat Israel, durch das Kräftemessen zwischen
den verschiedenen politischen Richtungen innerhalb der palästinischen Gesellschaft
u.a.m.
Entscheidend waren sicherlich zwei Erkenntnisse, die sich erst nach 1973 in
der Entwicklung der PLO abzeichneten und damit ins Palästinensische Bewusstsein
kamen:
Zum einen der politische Lernprozess, dass Diplomatie und politischer Kampf
auf der Weltbühne dem bewaffneten Kampf langfristig überlegen sind,
zum anderen die schmerzliche, aber auch befreiende Tatsache, dass kein anderer
arabischer Staat wirklich bereit war, das Palästinensische Volk aus dem
völkerrechtlichen Dauerkonflikt mit Israel militärisch oder politisch
zu erlösen.
Insofern haben alle diese Faktoren langfristig zu einer Bewusstwerdung als Volk
mit klarem eigenen politischen Willen unabhängig von den anderen arabischen
Staaten geführt. Daß die PLO lange Zeit als Sprecherin des politischen
Willens dieses Volkes von den meisten Palästinensern anerkannt wurde, kann
angesichts all dieser Fakten nicht verwundern.
Westlichen Beobachtern insbesondere sollte klar sein, dass die meisten von uns
außer den Anfangsbuchstaben wenig von den Palästinensischen Parteien,
sowohl der PLO als auch der Hamas, ihren Entwicklungen, ihren inneren Strukturen,
ihrem politischen Potential wissen.
Das Internationale Recht im Nahostkonflikt ist aber nicht nur für die
Weltgemeinschaft eine große Anfrage, sondern auch für den Staat Israel:
Auf der tiefsten Ebene geht es vielleicht sogar um die Frage, was macht das
Judentum aus:
Ist es die strikte Einhaltung aller Gebote, auch wenn sie gegen das Völkerrecht
sprechen.
Das wäre eher die Grundhaltung jüdischer Orthodoxie.
Oder ist es der Dialog mit der modernen Welt, der Völkergemeinschaft, möglicherweise
mit dem Risiko des partiellen Verlustes jüdischer Identität. Das wäre
eher die Grundhaltung des Reformjudentums.
Welche und wie viele Antworten Israel darauf auch immer geben wird, Israel selber
existiert und funktioniert als Staat, für Palästina steht dieser nationale
Status noch aus.
Amos Oz, einer der Sprecher von Peace Now hat in einem Interview 2005 gesagt:
„Es ist für die Außenstehenden nicht nötig, sich zwischen
Israel und Palästina zu entscheiden. Was aber nötig ist, ist, sich
für einen wirklichen Frieden zu entscheiden.“
Und Helmut Gollwitzer, einem der ersten evangelischen Theologen, die sich nach
dem Krieg für Israel engagiert haben, wird der Satz zugeschrieben: „Wer
sich für Israel und für den Frieden im Nahen Osten engagiert, der
muss immer für beide Seiten eintreten.“
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Verwendete Literatur
- Avraham Burg: Eine gescheiterte israelische Gesellschaft stürzt zusammen,
während ihre Führer schweigen; erschienen August 2003 in Forword;
übersetzt von J.J. Goldberg
- Reiner Bernstein; Geschichte des Staates Israel; Wochenschauverlag Schwalbach
/T. 1998; S. 27ff.
Ludwig Watzel: Feinde des Friedens; Aufbau Verlag Berlin 2001; S. 278-292 in
Auszügen**
- Reiner Bernstein; Geschichte des Staates Israel; Wochenschauverlag Schwalbach
/T. 1998; Interview mit Prof. Uriel Simon, Sprecher von Os weShalom, einer Gruppe
der Friedensbewegung in Israel, die ihre Wurzeln im orthodoxen Judentum hat;
S. 157-159
- Sozialwissenschaftliche Materialien; Positionen im Nahostkonflikt; Sichtweisen
und Handlungsmöglichkeiten der Israelis und Palästinenser; hrg. Walter
Gagel; Klettverlag 1988, S.28f
- Frieden für Israel; hrg. Baum/Frankemölle/Münz; Bonifatius
2002; S.206-231 in Auszügen
- Mitri Raheb: Ich bin Christ und Palästinenser; GTB 1994; S.86f.;96-99
in Auszügen**
- Naim Ateek: Recht, nichts als Recht; Edition Exodus; Friborg/Brig 1990; S.136-149
in Auszügen**
- Uri Avnery: 101neue Thesen Wahrheit gegen Wahrheit
- Israels Siedlungspolitik- Grundlagen des Nahostkonfliktes in: www.bornpower.de/israel/index.htm/
** ausleihbar in der Landeskirchlichen Bibliothek