Heinz Berkel, damals 12 Jahre, später langjähriger Direktor der Realschule Schifferstadt, hat aus seinen Notizbüchern rekonstruiert, was damals in seiner Heimatstadt geschah: Jawohl, ich gebe zuzu, mir hat das auch nichts ausgemacht. Sagen Sie doch einmal selbst, was sollte es einem zwölfjährigen Jungen, der die Volksschule besucht, ausmachen, wenn der Unterricht ausfällt? Er fiel zwar damals öfter aus, in diesen hektischen Zeiten, und wir hatten es bald heraus, daß es manchmal angenehmer war, im Schulsaal zu sitzen, als kilometerweit im Gelände herumzumarschieren. An diesem Morgen waren wir jedenfalls froh, als der Lehrer die Rechenstunde abbrach und uns im Schulhof aufstellen ließ. Es war ein nebligtrüber Novembertag, in den wir nun hineinmarschierten. Es ging auch heute gar nicht weit, nur um zwei Ecken herum und dann sahen wir auch schon die Rauchsäule aufsteigen. Ein paar Neugierige hielten an, aber die meisten blieben gar nicht stehen, sie drückten sich irgendwie vorbei. Nur wir, wir standen da und schauten zu. Eigentlich wußten wir garnicht so recht warum, aber unsere Lehrer ließen sich Zeit und uns ebenfalls. Wir sahen zu, wie aus allen Öffnungen der Fassade Rauch herausquoll, sich oben über den beiden Gesetzestafeln sammelte, die wie ein Türmchen den Giebel überragten, und dort hatte sich eine trübdunkle Wolke gebildet. Die Radfenster der Fassade waren in der Hitze ebenso geborsten wie die Seitenfenster und so konnte der Qualm ungehindert ausdringen. Das Feuer mußte aber auch seinen Weg durch das Dach gefunden haben, denn von dort war ein Teil der Ziegel herabgefallen. Doch bei alledem, so richtig brennen wollte das gar nicht, wie man das doch schon gesehen hatte, wenn eine Scheune voller Stroh brannte und die Flammen haushoch über dem Dachstuhl zusammenschlugen und wenn schließlich mitGeschmetter der Dachstuhl nieder krachte und Ziegel und Balken in den Innenraum prasselten. Jedenfalls schien es in diesem etwas nüchtern gehaltenen Backsteinbau, der nur wenig länger als breit war, nicht allzu viel Brennbares gegeben zu haben. Was mir aber erst recht auffiel, es war heute gar keine Feuerwehr da, die doch sonst bei einer solchen Gelegenheit mit viel Trara angerückt kam und mit Schläuchen, Spritzen und einer Fliesenleiter herumhantierte. Ja, es schien, man wollte diesem Feuer bewußt Zeit lassen, damit es sein Zerstörungswerk vollenden konnte. Die Sache wäre uns sicherlich bald langweilig geworden, hätte es da nicht noch ein Hinterhaus gegeben, ein kleines, unscheinbares, und da wohnte eine arme Judenfamilie drin. Das Haus war zwar noch unversehrt, aber auf der Treppe saß eine ärmlich gekleidete Frau, hob die Schürze vors Gesicht und weinte einfach so vor sich hin. Sie wollte sich absolut nicht trösten lassen, auch nicht von dem Mann, es war ihr Nachbar, der irgendwie hier heute hergekommen war. Obwohl dieser Mann an den Sonntagen auch in der braunen Uniform herumlief, wie so viele andere, heute, da er in seinen grauen Arbeitskittel gehüllt war, redete er auf die Frau ein, versuchte sie zu beruhigen und zu trösten. Unser Lehrer betrachtete auch diese Szene, sie schien ihm nicht zu gefallen. Jedenfalls gab erjetzt den Befehl und wir marschierten zur Schule zurück. Erst in der Schule wurden wir „aufgeklärt". Ein ruchloses Attentat hatte in Paris stattgefunden. Der deutsche Botschaftsangehörige Ernst vom Rath war von einem jüdischen Verbrecher mit Namen Herschel Grünszpan erschossen worden. Wen wundert es da noch, daß sich das deutsche Volk in seinem Zorn einmütig erhoben hat, um alle jüdischen Synagogen in Brand zu stecken. Auch in Schifferstadt haben beherzte Männer im Namen des Volkes Vergeltung für diesen ruchlosen Mord geübt und die Synagoge in Brand gesteckt. Dieses Bauwerk sei ohnehin äußerst hinderlich, steht es doch als Ärgernis gerade neben dem Braunen Haus, dem Zentrum der Bewegung und des Fortschritts. Daß wir als Hausaufgabe nun einen Aufsatz über den Ausbruch des Volkszorns zu schreiben hatten, paßte mir zwar weniger, aber notfalls konnte man ja etwas aus der Zeitung abschreiben. Als ich mittags zu Hause von dem Brand der Synagoge erzählte, verzog
meine Mutter keine Miene und ich merkte, daß sie mit dem Volkszorn
garnicht einverstanden war. Meine Tante, die bei uns wohnte und die immer
das Herz auf der Zunge hatte, bekam einen roten Kopf und platzte heraus.
Wo wart ihr, und Du warst auch dabei, hast Du Dich nicht geschämt?!
Haben die nichts besseres gewußt, als Euch dorthin zu führen?
Meine | Mutter wurde ganz leise, als sie sagte: Lisett, sei still, Du
weißt doch, wie die sind, wenn das jemand hört, die sperren
Dich ein. Die können mich auch einsperren, trumpfte da die Tante
auf, aber recht ist das niemals, was die da machen; und wißt ihr
auch schon das Neueste? Jetzt stehen sie wieder vor allen Judengeschäften
und schreiben die Leute auf, die etwas kaufen wollen. Beim Oskar Bender
machen sie das auch und ich habe auch gehört, der macht Ausverkauf,
weil er nach Amerika geht, alle Ware viel billiger, aber man kann ja nicht
hinein. Wo ist denn die Zeitung, wollte sie fragen, aber sie wußte
ja selbst, daß es den Juden nicht mehr erlaubt war, Werbung zu machen.
Doch heute nahm sie die Zeitung doch und vertiefte sich, was sonst garnicht
ihre Art war, in die Titelseite. Mit ihrer etwas monotonen und ungeübten
Leseart las sie die Schlagzeilen: Ruchloses Attentat auf den deutschen
Botschaftsangehörigen vom Rath! Der gerechte Volkszorn war nicht
zu bändigen! Rache an den jüdischen Volksfeinden; das Volk übt
Vergeltung für das schamlose Verbrechen. Empört ließ die
Tante das Blatt sinken, dann polterte sie wiederum los: „Da kannst
Du wieder einmal lesen, was die zusammenlügen! Hör Du",
und damit richtete sie ihre Frage an mich, „wo waren denn die Leute,
die den Volkszorn gehabt haben, sag einmal, wieviele hast Du denn gesehen?"
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Quelle: Die Schifferstadter Juden. Ein Lesenbuch,
Speyer 1988, S. 159f; Bild: a.a.O., S.150 (Veröffentl. mit freundlicher
Genehmigung des Verfassers) Links: Die
Bedrängnisse Bad Dürkheimer Juden in der Nazizeit und die Ereignisse
in der „Kristallnacht“ 1938, von Georg Feldmann |
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