Die Reichspogromnacht in Ingenheim

 


Ehemaliges Anwesen des Manufakturwarenhändlers Simon Deutsch

Die folgende Quelle stammt aus dem Vernehmungsprotokoll des HJ-Stammführers W., geb. 12. August 1913, Mitglied der NSDAP seit Ende 1930, betr. Mitwirkung bei der Judenaktion in B - 23. Februar 1939, Neustadt a. d. Weinstr. Ausfertigung. Ebd. Bl. 5-7. Sie stammt aus dem Landesarchiv in Speyer. Die Ereignisse spielen, wie man den Namen der erwähnten Judengeschäfte unschwer entnehmen kann, im Südpfälzischen Ingenheim. Sie belegen, mit welcher Dreistigkeit man sich in jener Zeit am Hab und Gut der Juden bediente.

"Die mir zur Last gelegte Anschuldigung muß ich mit aller Entschiedenheit zurückweisen. Ich habe mir aus jüdischem Besitz (mir) weder etwas gestohlen noch sonst in irgendeiner Weise etwas rechtswidrig angeeignet (zu haben).
Zur Sache selbst habe ich folgendes zu erklären: Am 10. November 1938, morgens gegen 5 Uhr. Kam(en) der Standartenführer X von Landau und Sturmbannführer Y von Landau in unsere Wohnung und teilten mir mit, daß die Synagoge in B brenne und wir besorgt sein sollten, daß dieselbe niemand löscht. Ich begab mich mit den Genannten zum Brandplatz und (veranlaßte?) die notwendigen Vorsichtsmaßnahmen, die zu treffen waren. So veranlaßte ich bei der Reichsbahn in B daß ein leerer Tankwagen der Kra-West [= Kraftwagenleitung West, die damals mit dem Bau des Westwall betraut war]weiter vom Brandplatz weggefahren werden soll, um einen Brand bzw. eine Explosion zu verhüten. Ähnliche weitere Vorkehrungen wurden ebenfalls von mir getroffen. Die Synagoge. die anfänglich nicht brennen wollte, bekam so gegen 10 Uhr Luft, und nun ging es mit dem Einstürzen des Dachstuhles sehr rasch. Gendarmeriehauptwachtmeister Z in A bat mich. bei dieser Gelegenheit eine Aufnahme der Brandstelle vorzunehmen, was auch von mir erfolgt ist. Noch am gleichen Vormittag wurden alle männlichen Juden in B von der Gendarmerie im Verein mit der Ortsgruppenleitung vorläufig festgenommen und sämtliche Judenhäuser nach Waffen etc. untersucht, wobei ich selbst nicht zugegen war. Am 10. November 1938, anläßlich der Judenaktion, hielt ich mich von allem zurück. Bei Einbruch der Dunkelheit drangen mehrere Volksgenossen in die jüdischen Anwesen in B ein und demolierten die Einrichtungsgegenstände. Die meisten Judenhäuser waren in dieser Nacht für jedermann zugängig. Am 11. November 1938, in der Früh, kam der 2. Bürgermeister, K, von B und schilderte meinem Vater als 1. Bürgermeister die verheerenden Zustände und die damit (verbundenen) durch die große Zahl der anwesenden fremden Arbeiter verbundene Gefahr des Raubs und des Stehlens. Bürgermeister K bat mich persönlich, ihm bei den erbrochenen Judenhäuser(n) behilflich zu sein, um das vorhandene Gut noch sicher zu stellen. Mein Vater und ich lehnten dieses Ansuchen entschieden ab, weil wir mit der Angelegenheit nichts zu tun haben wollten. Erst nach Drängen des Bürgermeisters K willigte ich ein. Ich ordnete die mir übergebenen Hausschlüssel der einzelnen Judenhäuser und beschriftete sie. Sodann stellte ich Listen auf über das vorhandene Judengut. Die Listen habe ich an das Bürgermeisteramt B abgeliefert. Später, nachdem die Listen nicht mehr auffindbar waren, wurden bei Ausgabe der Wäsche- und Bekleidungsstücke an die Juden entsprechende Verzeichnisse erstellt. Wer dies vorgenommen hat, weiß ich nicht.

Das jüdische Warenhaus Leon Marx in B 12. November 1938 erbrochen (worden), die Stoffe etc. lagen im Laderaum umher und waren gefährdet. Nach Anordnung der Kreisleitung mußten diese Wertgegenstände aus dem Warenhaus Marx sicher gestellt werden. Mithin wurden sämtliche noch vorhandenen Waren aus dem jüdischen Warenhaus Marx in das NSV-Heim [NSV = Nationalsozialistische Volkswohlfahrt] in B verbracht. Zugegen war seinerzeit der 2. Bürgermeister Pg. K, NSV-Blockwalter Pg. M und ich. Das nichtbeschädigte Schuhwarenhaus Witwe Georg Marx in B wurde vom Bürgermeisteramt B am 12. November 1938 gegen 20 Uhr versiegelt. Anschließend begaben wir uns in (das) jüdische Anwesen Max Marx , woselbst die Einrichtungsgegenstände etc. beschädigt waren. Ich sah damals im Zimmer des jüdischen Anwesens Marx einen zertrümmerten Kasten einer Kleinschreibmaschine am Boden liegen. Die Schreibmaschine war nicht mehr auffindbar. Bürgermeister K machte noch die Bemerkung: „Die Schreibmaschine ist auch weg.“ Erwähnen möchte ich noch, daß wir beim Betreten des jüdischen Anwesens Marx feststellten, daß ein Fensterladen und ein Fenster offen standen, so daß jedermann in das Anwesen einsteigen konnte. Wer diese Schreibmaschine gestohlen hat, weiß ich nicht. Am 12. November 1938, vormittags, sah ich, daß vor dem Anwesen des Juden Simon Deutsch (Manufakturwaren) ein Postomnibus hielt, der mit Wäschestücke(n) etc. beladen wurde. Ich überzeugte mich, wer hier die Waren aufud, wobei ich den Ortsgruppenleiter R und Stellvertreter T aus C beim Durchsuchen der Schubladen vorfand. Die Waren wurden von dem Autoführer N von B sowie noch einigen Personen verladen. Ich machte den Ortsgruppenleiter R darauf aufmerksam, daß über diese Waren eine Liste aufgestellt werden müsse, worauf er mir kurzweg erklärte, er (habe) wichtigere Dinge zu tun. und dafür habe er jetzt keine Zeit. Die in Frage kommenden Waren wurden in das NSV-Heim verbracht.

Am 12. November 1938 kamen Beamte der Staatspolizeistelle Neustadt a. d. Weinstr. (Kriminaloberassistent O) sowie der Gendarmeriehauptwachtmeister P der Station A und baten um die Schlüssel der einzelnen Judenwohnungen. Ich händigte diese aus und wurde auch gleichzeitig gebeten, mit in die einzelnen Judenwohnungen zu gehen. Die Beamten haben sich über den Zustand der einzelnen Judenwohnungen überzeugen wollen. Im Judenanwesen des Heinrich Cahn lag ein Rundfunkgerät am Boden, welches ich auf Anraten des Beamten der Staatspolizeistelle Neustadt a. d. Weinstr. an mich nahm und in meiner Behausung sicher stellte. Im Laufe des Tages wurden von der zuständigen Gendarmeriestation A und vom Bürgermeisteramt B noch weitere drei Radiogeräte an mich abgeliefert, die ich auftragsgemäß in meiner Wohnung sicherstellte. Diese Geräte wurden von den Beamten der Geheimen Staatspolizei gesehen und als sichergestellt gemeldet.

Am gleichen Tage, also am 12. November 1938, abends, erfuhr ich noch, daß der Kassenschrank des Juden Max Marx in B erbrochen und daraus der Betrag von 17000 Mk entwendet worden sei. Ich habe sofort fernmündlich die Gendarmerie A verständigt, die sofort hier eintraf. Ein Beamte[r] der Staatspolizeistelle (Kriminaloberassistent O) hat sich um die Angelegenheit näher angenommen und festgestellt, daß der Schlosser P von B im Auftrag des Zellenleiters Q von B, z. Zt. im Krankenhaus in E. den Kassenschrank mit Hilfsmitteln geöffnet hat. Sowie ich weiter gehört habe, hat Q den Betrag von 17000 Mk aus dem Kassenschrank entnommen, das Geld im Beisein der Jüdin Ehefrau Marx gezählt und an sich genommen. Soviel ich weiß. hat Q diesen Betrag dem Ortsgruppenleiter R in G im Bürgermeisteramt B übergeben (haben). Die Höhe dieses Betrages weiß ich lediglich durch die Mitteilung des P. Wo dieser Betrag hingekommen ist und ob ihn R abgeliefert hat, weiß ich nicht.

Noch am Abend des 12. November 1938 unterhielt ich mich mit den Beamten der Polizei und erklärte ihnen, daß die HJ in B kein HJ-Heim besitze. Einer der Beamten sagte noch, ich glaube. es war O, daß die Gelegenheit günstig sei, die HJ soll sich ein Haus aussuchen, mit dem zuständigen Bürgermeisteramt B sprechen, bei der Nacht requirieren und mit den entsprechenden Möbel(n) anderer Juden möbelieren. Am 13. November 1938, in der Früh, begab ich mich zu Bürgermeister K und erklärte ihm, unter dem Hinweis des Besprochenen mit der Polizei am Vorabend, und sagte ihm gleichzeitig, daß ich mir das Haus des Juden Albert Deutsch in B als das geeig(netste) HI-Heim ausgesucht habe. Der Bürgermeister hat mir die Genehmigung erteilt, das jüdische Anwesen Deutsch als HJ-Heim einzurichten. - Nach reiflicher Überlegung habe ich dieses Vorhaben nicht bei Nacht, sondern am hellichten Tag mit meiner gesamten HJ-Führerschaft. (50 Mann) unter Beisein des Bannführer(s) H, Landau/Pf., und des Gemeinderates I aus B, eingeleitet. Wir räumten zuerst das Anwesen Deutsch vom Unrat. Sodann schafften wir aus den übrigen jüdischen Wohnungen die für ein HJ-Heim geeigneten Möbelstücke herbei. lch verweise hier auf das von dem Beamten der Geheimen Staatspolizei erstellte Verzeichnis hin, das heute, am 20. Januar 1939, erstellt wurde. Nach Beendigung ließ ich die gesamte Führerschaft der HJ gegen 15 Uhr vor dem Anwesen Deutsch antreten und bekundete durch eine feierliche Flaggenhissung als (!) Abschluß der antisemitischen Aktion in B.

Als ich erfahren habe. daß die Verwaltung des Judenvermögens einem Wirtschaftstreuhänder übergeben wurde, habe ich in dieser Angelegenheit weiteres nicht mehr unternommen und der Regelung durch die Gemeinde entgegengesehen. Die Schlüssel der Wohnung Deutsch habe ich an die Gemeindeverwaltung B abgeliefert. Die vier Radiogeräte, die in meiner Behausung sichergestellt wurden, stehen selbstverständlich der Behörde jederzeit zur Verfügung.

Wenn mir der Vorwurf gemacht wird, daß ich drei Klaviere und einige Schreibmaschinen sichergestellt habe, so muß ich dies mit aller Entschiedenheit zurückweisen. Ich habe lediglich ein Klavier aus dem jüdischen Anwesen Marx in das zukünftige HJ-Heim verbringen lassen. Ein weiteres Klavier stand ja ursprünglich schon im Anwesen des Juden Deutsch, das bereits bei der Judenaktion demoliert wurde. Das Klavier des Juden Marx wurde am 2. Januar 1939 an den Juden Marx wieder zurückgegeben. Die Aushändigung nahm die zuständige Gendarmerie A vor. Eine Schreibmaschine habe ich niemals in einem jüdischen Anwesen gesehen, noch viel weniger, daß ich eine solche für das zukünftige HJ-Heim an mich genommen hätte. Der in Frage stehende Polstersessel gehörte dem Juden Marx, den ich gleichfalls im HJ-Heim sicherstellte. Er wurde meines Wissens von der Gendarmeriestation A am 2. Januar 1939 an Marx ausgehändigt.
Ich habe bei meinem Vorgehen lediglich nur die Interessen der HJ vertreten und weise entschieden jegliche widrige Zueignungsabsicht zurück. Ich wollte, nachdem ich nur noch kurze Zeit in B bin, lediglich für das künftige Wohl der HJ in B Sorge tragen. Mein gesamtes Vorgehen habe ich meinem Bannführer (H) gemeldet und dessen Zustimmung erhalten.


Aktenvermerk der Geheimen Staatspolizeistelle Neustadt a. d. Weinstr., betr. die Verwendung der bei der Judenaktion beschlagnahmten Gelder etc.
25. April 1939, Neustadt a. d. Weinstr. Ausfertigung. Ebd. Bl. 15. S

Die Angaben des Ortsgruppenleiters R hinsichtlich des von ihm sichergestellten und der Zollfahndung E abgelieferten Geldes wurden nachgeprüft. Nach einer fernmündlichen Mitteilung der Zollfahndung E, Oberinspektor I, Vertreter des z. Zt. in die Ostmark kommandierten Zolloberinspektor S, hat Ortsgruppenleiter R tatsächlich am 11. November 1938 den Betrag von etwa 5 000 Mk an sichergestellten jüdischen Geldern dem Oberinspektor S abgeliefert. Eine nähere Auskunft darüber. daß S die Angelegenheit nicht unmittelbar mitgeteilt hat. konnte von dem Vertreter des S nicht gegeben werden. Weiter teilt Oberinspektor S mit. Daß R seinerzeit über sämtliche von ihm verausgabten Gelder entsprechende Aufstellungen vorgezeigt. die er. R. in seinem Besitz habe. Die Zollfahndung E ist der Ansicht, daß R ordnungsgemäß gehandelt hat. Die von R abgelieferten Geldbeträge wurden den einzelnen Juden wieder zurückbezahlt bzw. auf die einzelnen Juden von B verteilt. - Auch die in Richtung des HJ-Führers W angestellten Ermittlungen haben Anhaltspunkte zu einer strafbaren Handlung nicht ergeben. W hatte lediglich vor, in der Ortschaft B ein HJ-Heim einzurichten.. weshalb er um die Zeit der Judenaktion, als die Juden B bereits verlassen hatten, verschiedene Möbelstücke jüdischer Herkunft im Hause Teusch in B zusammen tragen ließ. Die einzelnen Möbelstücke wurden nachträglich von hier aus restlos sichergestellt. - Das Verhalten des W ist lediglich seinem Übereifer und seiner Unkenntnis zuzuschreiben.

 

Links zur Reichspogromnacht

Die Bedrängnisse Bad Dürkheimer Juden in der Nazizeit und die Ereignisse in der „Kristallnacht“ 1938, von Georg Feldmann
"Menschen unter Gejohle aus dem Haus gezerrt", von Heinz Kronauer
Der Pogrom vom November 1938 in Homburg, von Dieter Blinn
Die 'Reichskristallnacht' in Landau, von Otto Brunner
Die Reichspogromnacht in Schifferstadt, von Heinz Berkel
Die Reichspogromnacht in Ingenheim, aus einem Vernehmungsprotokoll
Der Abriss der Kaiserslauterer Synagoge, von Roland Paul
Die Reichspogromnacht in Kaiserslautern: Maria Herbig

Die Nacht, in der die Mutterstadter Synagoge brannte. Der 10.11.1938 aus Sicht des Ernest Loeb
Reichspogromnacht - Reichskristallnacht, zusammenfassende Darstellung von Sven Siener
"Sie verbrennen Dein Heiligtum", von Stefan Meißner
Der 9. November aus der Sicht einer Jüdin, von Schoschana Maitek-Drzevitzky

Links zum jüdischen Leben in Ingenheim

Spurensicherung - Lebenslauf einer Ingenheimer Jüdin im Dritten Reich
Kurzinformationen über die Synagoge in Ingenheim

Hier ewtas über Anselm Schoflich Lévi; einen Rabbiner Ingenheims (19. Jhd.)
Hier finden Sie Bilder und weitere Informationen zum jüdischen Leben in Ingenheim.
Weitere hilfreiche Materialien und Bilder auch unter http://www.alemannia-judaica.de/ingenheim_synagoge.htm (externer Link)