"Menschen unter Gejohle aus dem Haus gezerrt"

Erinnerungen an den 9./10.11.1938 in Ludwigshafen, von Heinz Kronauer

 

Kurz vor seinem Tod im Jahr 2002 überreichte Werner Köhler dem Gesprächskreis
Juden und Christen in Ludwigshafen zwei Glasfragmente. Sie stammen aus dem jüdischen
Fabrikantenhaushalt, in dem seine Mutter damals angestellt war.
Doch damals ging mehr zu Bruch als nur Glas!

 

Der pensionierte Oberkirchenrat, Herrn Pfarrer i.R. Heinz Kronauer (Speyer), der in Ludwigshafen die Reichspogromnacht miterlebt hat, wurde 1998 um einen Zeitzeugenbericht gebeten, den er im Rahmen eines in Rheingönheim vorstellte.

„Ich erinnere mich nicht mehr, an welchem Wochentag im November 1938 ich Augenzeuge des Judenpogroms in meiner Heimatstadt Ludwigshafen geworden bin. Am Abend des 9. November hatte Goebbels in Berlin zur massiven Vergeltung der tödlichen Schüsse, die der siebzehnjährige Jude Herschel Grynspan in Paris auf den deutschen Legationsrat Ernst von Rath abgegeben hatte, aufgerufen. In der Nacht vom 9. zum 10. November, vom Mittwoch zum Donnerstag, kam es im ganzen Reichsgebiet zu Plünderungen, körperlichen Misshandlungen bis zu Ermordungen und zu Brandstiftungen, deren Opfer Juden waren.

Ich nehme an, dass es Donnerstagmorgen war, als ich Zeuge einer solchen Greueltat in Ludwigshafen wurde, in Süd, dort wo die Lisztstraße, wo mein Vaterhaus stand, in die Schützenstraße einmündet, an der Straßenbahnhaltestelle am Schützenplatz. Ich sah, wie aus einer Etagenwohnung im zweiten oder dritten Stockwerk Möbelstücke auf die Straße geworfen und Menschen unter Gejohle aus dem Haus gezerrt wurden, Juden zweifellos.
Ich weiß nicht mehr, ob die Peiniger SA-Uniform trugen, ich weiß auch nicht mehr, ob ich selbst Wehrmachtsuniform trug. Seit kurzem war ich Rekrut bei dem auf seinen Tradition stolzen Grenadierregiment 115 in Darmstadt.
Deutlich erinnere ich mich an die Abscheu, die ich angesichts der schlimmen Szene empfand, aber ich dachte nicht daran, sie öffentlich zu bekunden, ich wandte mich schweigend ab und beschwichtigte mein Gewissen damit, dass ich doch nichts hätte ausreichten können und dass es eben auch üble Entgleisungen im Zug einer großen Bewegung geben könne.

Mein Vater war Inhaber des Baugeschäfts Stauch in der Rottstraße. Anfang der dreißiger Jahre hatte das Geschäft bedeutende jüdische Kunden. So hatte es für Herrn Rothschild, dem Vorgänger des großen Textilgeschäfts Tietz, in Mannheim eine Villa gebaut. Baumwollspinner ist ein anderer Name, der haften geblieben ist. Ich erinnere mich nicht, dass dann in meinem Elternhaus über das Schicksal der Juden gesprochen worden wäre. Von meinen Lehrern am Humanistischen Gymnasium in Ludwigshafen ist Herr Professor Rothenberg, ein ausgezeichneter Mathematiker, wohl schon 1934 als Jude aus dem Staatsdienst „entfernt“ worden. Herr Professor Hecht, der kein Jude, aber mit einer Jüdin verheiratet war und eine Scheidung ablehnte, erst 1938. Beide Lehrer waren nicht nur geachtet, sie genossen auch meine Sympathie, ebenso wie die vieler Mitschüler. Aber was konnten wir machen gegen den Zug der Zeit und seine üblen Begleiterscheinungen?

Dass der Zug selbst das Übel war, dafür gingen mir erst später die Augen auf, nicht zuletzt, als ich in kanadischer Kriegsgefangenschaft die Filmdokumentation der Judenmorde in den Konzentrationslagern sah“.

Quelle:
Gemeindebrief der Prot. Kirchengemeinde Ludwigshafen-Rheingönheim, Herbst 1998, S. 44f.

Bild: F.M. Hofmann

Weitere Links zur Reichpogronacht

Die Bedrängnisse Bad Dürkheimer Juden in der Nazizeit und die Ereignisse in der „Kristallnacht“ 1938, von Georg Feldmann
Der Pogrom vom November 1938 in Homburg, von Dieter Blinn
Die 'Reichskristallnacht' in Landau, von Otto Brunner
Die Reichspogromnacht in Schifferstadt, von Heinz Berkel
Die Reichspogromnacht in Ingenheim, aus einem Vernehmungsprotokoll
Der Abriss der Kaiserslauterer Synagoge, von Roland Paul
Die Reichspogromnacht in Kaiserslautern: Maria Herbig

Die Nacht, in der die Mutterstadter Synagoge brannte. Der 10.11.1938 aus Sicht des Ernest Loeb
Brief von Dr. Willy Katz in (Dahn) an seinen Bruder, von O. Weber
Weitere Zeitzeugenberichte aus Dahn, von O. Weber
Reichspogromnacht - Reichskristallnacht, zusammenfassende Darstellung von Sven Siener
"Sie verbrennen Dein Heiligtum", von Stefan Meißner
Der 9. November aus der Sicht einer Jüdin, von Schoschana Maitek-Drzevitzky

Links zum Kirchenkampf in der Pfalz:

Der Kirchenkampf in der Protestantisch-evangelisch-christlichen Landeskirche der Pfalz, 1933-1945, von Rolf-Ulrich Kunze

Die Pfälzische Landeskirche in der Zeit des Nationalsozialismus, von Pfarrer Paul Werron