Paulus aus jüdischer Sicht
Paradigmenwechsel in der jüdischen Paulusforschung
von Dr. Stefan Meißner
Glasfenster von William Burges (1827–1881)
Einführung: Die "Heimholung des
Ketzers"
Nach einer langen Geschichte der Ignoranz und des Misstrauens besinnen
sich heute Christen und Juden wieder verstärkt auf ihre gemeinsamen
Grundlagen. An vielen Orten kommen sie zusammen, um miteinander die hebräische
Bibel, unser Altes Testament, zu lesen. In Landau etwa, ganz in der Nähe
meines Heimatortes, gibt es den Arbeitskreis "Christen und Juden
lesen gemeinsam die Bibel". Dort trifft sich regelmäßig
ein kleiner Kreis Gleichgesinnter (fast ausschließlich Christen
übrigens), um zusammen mit einem Rabbiner die Hebräische Bibel
zu studieren. Ähnliche Gruppen haben sich in den letzten Jahren und
Jahrzehnten auch anderswo in Deutschland zusammengefunden und sie leisten
einen unschätzbaren Beitrag zum jüdisch-christlichen Dialog
in unserem Land.
Seltener schon kommt es vor, daß sich die Dialogpartner mit den
Glaubensdokumenten der jeweils anderen Seite befassen. Welcher Christ,
außer einigen wenigen Fachleuten, kennt sich schon in den klassischen
jüdischen Schriften aus, der Mischna, dem Talmud oder den Midraschim?
Unsere Verlegenheit an diesem Punkt rührt nicht nur vom gewaltigen
Umfang dieser Werke her, der einen tieferen Einblick fast unmöglich
macht. Sie liegt auch nicht allein an der assoziativen Art der Gedankenführung,
die wir dort antreffen, und die unserem modernen Hang zur Univozität,
zur Eindeutigkeit, so arg widerstrebt. Sie hat auch mit der schlichten
Machtfrage zu tun, daß die Christen als die Vertreter einer Mehrheitskultur
sich nie wirklich genötigt sahen, die Lebensäußerungen
einer kleinen Minderheit in ihrer Mitte ernst zu nehmen.
Diesen Luxus konnten sich die Juden, ob in Palästina oder im Exil,
nie leisten. Die Beschäftigung mit den christlichen Glaubensquellen
gehörte für sie von jeher zum kleinen Einmaleins des Überlebens
in einer ganz überwiegend christlichen Umwelt. So gibt es eine Fülle
von jüdischen Gelehrten, die sich mit der Person Jesu auseinandergesetzt
haben. Gösta Lindeskog hat in seinem 1938 erschienenen Buch "Die
Jesusfrage im neuzeitlichen Judentum" einen noch immer noch lesenswerten
Überblick über das jüdische Jesusbild der letzten Jahrhunderte
gegeben. Dabei hat er deutlich gemacht, daß die meisten modernen
Ausleger in ihm einen toratreuen Rabbi sehen, der eine Reihe von Anhängern
um sich sammelte, der aber weit davon entfernt war, eine Kirche oder gar
eine neue Religion gründen zu wollen. Nicht alle gingen so weit in
ihrer Hochschätzung des Nazareners wie Martin Buber, der ihn einen
"großen Bruder" genannt hat, dessen Botschaft urjüdisch
gewesen sei (Zwei Glaubensweisen, 1950, 11). Dennoch wird seine Person
von den meisten neuzeitlichen Juden als im wesentlichen unproblematisch
empfunden. Dieses Urteil stimmt freilich nur im Blick auf den historischen
Jesus, so wie ihn uns die kritische Bibelwisenschaft heute darstellt.
Es stimmt ganz und gar nicht für den Christus des kirchlichen Dogmas.
Mit ihm konnten und können sich Juden bis heute nur schwer anfreunden.
Die Scheidelinie also liegt da, wo aus dem Verkündiger der Verkündigte
gemacht wurde.
Hier nun kommt Paulus ins Spiel, denn eben dieses Werk: aus dem Verkündiger
den Verkündigten gemacht zu haben, aus dem Messias Israels einen
heidnischen Gottessohn, aus dem Menschen Jesus ein mythisches Himmelswesen
- das schrieb man bis weit in unser Jahrhundert hinein ganz allgemein
dem Apostel zu. War er es nicht auch, der Christus als das "Ende
des Gesetzes" proklamierte und damit die Grundfesten des Judentums
erschütterte? Außerdem lastete man ihm an, in seinem heilsgeschichtlichen
Denken die Kirche als das neue, geistliche Israel an die Stelle des alten
empirischen Israel gesetzt zu haben. Kein Wunder, daß der Apostel
von Juden weit weniger positiv beurteilt wurde als die Person Jesu. Man
sah in ihm weithin einen Erzapostaten und Ketzer, einen Zerstörer
der väterlichen Religion.
Das jedenfalls war die gängige Lesart der älteren jüdischen
Paulusauslegung, die in ihrer Analyse (wenn auch nicht in ihrer Bewertung!)
weithin der damaligen christlichen Exegese folgte. Es ist eine erstaunliche,
aber bisher leider wenig beachtete Tatsache, daß dieses ältere
jüdische Paulusbild in den letzten Jahren mehr und mehr revidiert
wird zugunsten einer positiveren Rezeption des Apostels. Nach der Heimholung
Jesu ins Judentum gibt es heute auch im Blick auf Paulus, nach Jahrhunderten
der Ausgrenzung aus dem Judentum, so etwas wie eine "Heimholung des
Ketzers". Diesen "Paradigmenwechsel", den ich in meiner
Dissertation an den wichtigsten thematischen Brennpunkten der paulinischen
Theologie dargestellt habe, möchte ich Ihnen im folgenden an drei
Punkten ein wenig veranschaulichen: Es ist 1. die Bekehrung, 2. die Christologie
und 3. Gesetzeslehre des Apostels, die ich näher beleuchten will.
Ich beziehe mich dabei im wesentlichen auf solche jüdische Autoren,
die wenigstens in Ansätzen mit den Methoden der historisch-kritischen
Bibelauslegung vertraut sind. Daraus ergibt sich dann automatisch auch
eine zeitliche Begrenzung auf etwa die letzten anderthalb Jahrhunderte.
Nur gelegentlich gehe ich weiter zurück, um etwas von der komplexen
Vorgeschichte unseres Problems deutlich zu machen. Es entfällt also
der ganze Bereich der belletristischen Literatur (ich nenne stellvertretend
nur Franz Werfel: Paulus unter den Juden), aber auch das umfangreiche
Werk eines Ernst Bloch oder eines Siegmund Freud, die sich verschiedentlich
auf Paulus bezogen haben.
1. Die "Bekehrung"
Etwa einhundert Jahre nach dem Tode des Paulus erscheint unter dem Namen
des römischen Bischofs Clemens eine Schrift judenchristlicher Herkunft,
die sich skeptisch im Blick auf die Bekehrungsvision des Apostels äußert
. Der Autor dieser Schrift, den sog. Pseudo-Clementinischen Homilien,
bezweifelt die Legitimität des paulinischen Apostolatsanspruchs,
habe dieser doch nie wie die anderen Apostel Umgang mit dem irdischen,
vorösterlichen Jesus gehabt. Zwar wird nicht grundsätzlich bestritten,
daß Paulus eine Vision des erhöhten Christus gehabt habe, doch
wird diese an Bedeutung der persönlichen Jüngerschaft eindeutig
untergeordnet (17,13-19). Unter dem Einfluß des neuzeitlichen Rationalismus
hat sich diese Skepsis gegenüber der Bekehrungsvision des Paulus
dann ausgeweitet auf eine prinzipielle Bestreitung der Möglichkeit
einer solchen "Sonderoffenbarung". Die Bekehrungsberichte der
Apg (sie finden sich in den Kapiteln 9, 22 und 26) und die entsprechenden
Äußerungen bei Paulus selbst (v.a. Gal 1) lehnt man auf jüdischer
Seite bis weit in unser Jahrhundert schlicht als vernunftwidrig ab. Der
Historiker Heinrich Graetz erklärte sie mit dem "nervös
krankhaften Zustand" des Völkermissionars, Josef Klausner vermutete
gar einen Fall von Epilepsie.
Auch in der neueren jüdischen Paulusauslegung sucht man nach psycho-logischen
Erklärungen für die Bekehrung, aber es fehlt dabei doch der
polemische Unterton früherer Zeiten. Wenn etwa der Amerikaner Richard
Rubenstein die Damaskusvision als eine Art von Schuldverarbeitung des
früheren Christenverfolgers Saulus darstellt, dann tut er damit nichts
anderes als viele christliche Forscher vor ihm auch. Eine ähnliche
These übrigens auch, wie diejenige, mit der jüngst der Göttinger
Neutestamentler Gerd Lüdemann für Unruhe im Kirchenvolk gesorgt
hat. Egal wie im Einzelnen das Bekehrungserlebnis erklärt wird -
fast alle jüdischen Autoren rechnen mittlerweile mit einem "Realgehalt"
(Schoeps) desselben. Leo Baeck meint lakonisch: "Über ein solches
Ereignis läßt sich nicht diskutieren" (Der Glaube des
Paulus, 9). Ähnlich wie die großen Propheten Israels habe Paulus
eine Berufung erfahren, die Offenbarung und Sendung zugleich gewesen sei.
Eine andere religionsgeschichtliche Einordnung nimmt der amerikanische
Gelehrte Alan Franklin Segal vor: Ähnlich wie andere jüdischen
Forscher vor ihm (Isaac Mayer Wise, Gershom Scholem) sieht er Parallelen
zwischen der Christusvision des Apostels und ähnlichen ekstatischen
Erlebnissen aus der sog. Merkaba-Mystik. Aus diesem Zweig der frühen
jüdischen Mystik gibt es Berichte von Offenbarungen der göttlichen
Thronsphäre, die den Paulus zuteilgewordenen Visionen nicht unähnlich
sind. Spirituell besonders begabte Menschen erhalten hier Einblick in
die Geheimnisse der himmlischen Welt, die dem Normal-Sterblichen vorenthalten
sind. Höhepunkt einer solchen Vision ist meist die Schau einer in
Lichterglanz gehüllten Figur auf dem Thron Gottes. Belege aus der
Apokalyptik (Henochliteratur), Qumran (4QShirShabb), der klassisch-rabbinischen
(bHag 14b par.), sowie der Hekhalot-Literatur zeigen die Beliebtheit solcher
esoterischer Praktiken, die später in die Kabbala einflossen. War
Paulus etwa auch einer dieser jüdischen Mystiker? Ein Hinweis in
diese Richtung gibt z.B. 2 Kor 12,1ff. Dort heißt es:
"Gerühmt muß werden; wenn es auch nichts nützt,
so will ich doch kommen auf die Erscheinungen und Offenbarungen des
Herrn. Ich kenne ei-nen Menschen in Christus; vor vierzehn Jahren -
ist er im Leib gewesen? ich weiß es nicht; oder ist er außer
dem Leib gegangen? ich weiß es auch nicht; Gott weiß es
-, da wurde derselbe entrückt bis in den dritten Himmel. Und ich
kenne denselben Menschen - ob er im Leib oder außer dem Leib gewesen
ist, weiß ich nicht; Gott weiß es -, der wurde entrückt
in das Paradies und hörte unaussprechliche Worte, die kein Mensch
sagen kann."
Diese Stelle spricht zwar nicht von der Bekehrung des Apostels (das ist
aus chronologischen Gründen ausgeschlossen), aber von einem Offenbarungserlebnis,
das der Christusvision vor Damaskus wohl nicht unähnlich war. Trotz
der andeutend, distanzierten Redeweise kann kein Zweifel darüber
sein: Paulus redet hier von sich selbst. Vielleicht ist es (wie Ben-Chorin
vermutet) die "Keuschheit des Mystikers", die ihn über
seine Erlebnisse schweigen läßt (Paulus, 23). Es könnte
aber auch eine Art Arkandisziplin sein, die die Weitergabe esoterischen
Wissens verbietet. Dann wären die "unaussprechlichen Worte"
in v.4 nicht deshalb unaussprechlich, weil sie nicht ausgesprochen werden
können, sondern weil sie nicht ausgesprochen werden dürfen.
Was Paulus damit konkret gemeint hat, können wir nur vermuten. Am
wahrscheinlichsten halte ich die Annahme, daß zu den "unaussprechlichen
Dingen" auch der Gottesname gehört, der den antiken Juden auszusprechen
verboten war, der aber in der Mystik magische Verwendung fand und Gegenstand
zahlreicher Spekulationen wurde. Wir stehen in diesen Fragen noch ganz
am Anfang, zumal viele der fraglichen jüdischen Texte erst seit wenigen
Jahren in kritischen Ausgaben zugänglich sind. Datierungsprobleme
v.a. im Blick auf die Hekhalot-Literatur lassen vorerst noch keine eindeutigen
Zuordnungen zu. Wenn sich aber wahrscheinlich machen ließe, was
schon G. Scholem vermutete, daß die wesentlichen Motive der Merkaba-Mystik
in die Gründerjahre des Christentums zurückreichen, dann wäre
damit ein wichtiger Hinweis auf das geistige Milieu gegeben, in das die
Bekehrung des Paulus einzuordnen wäre.
Sie sehen: Die Heimholung des "Ketzers" Paulus ins Judentum
ist bereits weit fortgeschritten. Ja, man wird sich fragen dürfen,
ob angesichts der Tatsache, daß sich die Damaskusvision offensichtlich
ganz aus dem jüdischen Kontext heraus erklären läßt,
überhaupt noch von einer Bekehrung gesprochen werden kann. Viele
Forscher haben daraus die Konsequenz gezogen, den Begriff ganz zu vermeiden.
Sie sprechen stattdessen von einer "Berufung" oder einer "Wende"
im Leben des Paulus. Eines jedenfalls können wir festhalten: Die
sog. "Bekehrung" des Saulus zum Paulus bedeutete keine Abwendung
vom Judentum. Es geht allenfalls - wenn wir den Begriff denn beibehalten
wollen - um eine Bekehrung innerhalb der gleichen Religion.
2. Die Christologie
Ich sagte bereits eingangs: An der Christologie scheiden sich die Geister
zwischen Christen und Juden. Christen sind quasi schon per definitionen
Leute, die die Messianität Jesu bejahen, denn das Wort "Christus"
ist bekanntlich nur das Äquivalent des hebräischen "Messias".
Umgekehrt sind Juden fast ausnahmslos solche, die die Messianität
Jesu verneinen. Eine Ausnahme stellen die wenigen "messianischen
Juden" dar, die es heute in den USA und in Israel gibt. Es ist also
naheliegend, daß diese Frage auch bei der Beschäftigung mit
der paulinischen Christologie eine zentrale Rolle spielt.
Für die ältere Forschung soll erneut J. Klausner zu Wort kommen,
der Paulus eine Vergeistigung des jüdischen Messiasbegriffs vorwirft.
Aus Angst vor den römischen Behörden habe er die politisch-nationale
Komponente der jüdischen Messiaserwartung völlig ausgeblendet
- etwas, was dem Zionisten Klausner höchst suspekt sein mußte.
Er hat immerhin an dem Punkt Recht, daß bei Paulus tatsächlich
der titulare Sinn des Messiasbegriffs fast völlig zurücktritt.
Bis auf wenige Ausnahmen (z.B. Röm 9,5) wird das griechische christos
wird fast wie Nachname gebraucht. Allerdings hat Klausner dabei übersehen,
daß eine ähnliche "Vergeistigung" auch bei anderen
jüdischen Autoren (etwa bei Philo) zu beobachten ist. Andere jüdische
Ausleger wie Baeck und Buber haben klarer gesehen, daß die jüdische
Messiaserwartung damals sehr vielgestaltig war und transzendente Erlösergstalten
ebenso einschloß wie politisch-nationale. Berücksichtigt man
das, dann erscheint Paulus stärker in Kontinuität zum jüdischen
Messiasbegriff. Daß Paulus nicht automatisch aus dem Judentum herausfällt,
indem er Jesus als Messias bezeichnet, deutet auch Hans Joachim Schoeps
an. Zurecht macht er darauf aufmerksam, daß in der jüdischen
Geschichte immer wieder einzelne Personen der Gegenwart oder der nahen
Vergangenheit diesen Würdetitel beigelegt bekamen. So sah der große
Rabbi Akiva in dem Rebellenführer Bar Kochba den Messias Israels,
der sein Volk aus der Hand der Römer erretten würde. Niemand
wäre auf die Idee gekommen dem großen Gelehrten sein Jude-Sein
abzusprechen, nur weil sich seine messianischen Erwartungen nicht erfüllten
(vgl. N.P. Levinsohn: Der Messias).
Größere Probleme als mit dem Messiastitel hatte Schoeps in
der Bezeichnung Jesu als "Sohn Gottes". Hier sah er die einzige,
aber entscheidende heidnische Prämisse im Denken des Paulus. Vor
allem der in Tarsus beheimatete Sandan-Herakles-Kult sei Pate gestanden
bei dieser angeblichen Vergottung Jesu. Doch sollte heute bekannt sein,
daß der Gottessohntitel keinesweg (wie Schoeps unterstellt) eine
metaphysische Wesensaussage macht im Sinne des späteren christologischen
Dogmas, schon gar nicht ist damit die physische Abstammung Jesu gemeint.
Er bezeichnet vielmehr ein besonders enges Verhältnis zu Gott und
wurde im antiken Judentum auf das Volk Israel, sowie auf einzelne Israeliten
wie Könige oder Wundertäter angewendet. Von einer heidnischen
Vorstellung hier kann also absolut keine Rede sein.
Es wäre eine Engführung, die Untersuchung der Christologie
nur auf die Hoheitstitel einschränken zu wollen. Interessant für
das paulinische Denken sind auch Funktionen und Attribute, die keinen
titularen Charakter haben. So haben einige Ausleger wie der amerikanische
Refomjude Samuel Sandmel auf die Logosvorstellung des jüdischen Religionsphilosophen
Philo aufmerksam gemacht. Der Logos, das ist das präexistente Wort
Gottes, mit dem Gott vor aller Zeit die Schöpfung ins Sein rief.
Doch ist diese Vor-stellung eher für das Joh-Ev. als für Paulus
interessant, denn nirgends spricht Paulus von Jesus als dem Wort Gottes.
Die für Paulus wichtigen Motive Präexistenz und Schöpfungsmittlerschaft,
die Sandmel von der Logosvorstellung herleitet, lassen sich leichter durch
die jüdische Weisheits-Spekulation erklären (vgl. v.a 1 Kor
1-4).
Die wichtigsten Funktionen und Attribute, die Paulus auf Jesus anwendet,
stammen erneut aus dem Vorstellungskreis der jüdischen Mystik. Hier
wurde transzendenten Mittlerfiguren wie Erzengeln (Michael, Metatron)
oder erhöhten Ahnvätern (Henoch, Moses) eine solche Würdestellung
eingeräumt, daß das später normativ gewordene rabbinische
Judentum den traditionellen Eingottglauben gefährdet sah. In Talmud
und Midrasch findet sich wiederholt die Warnung vor einer "zweiten
Macht im Himmel", die man sogar kultisch verehrt zu haben schien.
Auch personalisierte Eigenschaften Gottes, wie der Name oder die Herrlichkeit
Gottes haben zu dieser Kategorie gehört. Folgt man dem bereits erwähnten
A.F. Segal, dann geht ein erheblicher Teil der paulinischen Christologie
auf diese mystischen Traditionen zurück. Das gilt etwa für 2
Kor 4,6, wo das Gesicht Jesu ein Widerschein der Herrlichkeit Gottes genannt
wird. Das gilt aber auch für Sendung und Erhöhung Jesu, wie
sie in dem bekannten Christushymnus in Phil 2,6ff. besungen werden:
"Er, der in göttlicher Gestalt war, hielt es nicht für
einen Raub, Gott gleich zu sein, sondern entäußerte sich
selbst und nahm Knechtsgestalt an, ward den Menschen gleich und der
Erscheinung nach als Mensch erkannt. Er erniedrigte sich selbst bis
zum Tode; ja zum Tode am Kreuz. Darum hat ihn auch Gott erhöht
und hat ihm einen namen gegeben, der über alle Namen ist, daß
in dem Namen Jesu sich beugen sollen aller derer Knie, die im Himmel
und auf Erden und unter der Erde sind, und alle Zungen bekennen sollen,
daß Jesus Christus der Herr (kyrios) ist, zur Ehre Gottes, des
Vaters."
Daß Jesus hier zu göttlichem Rang erhoben wird, ja sogar den
Gottesnamen kyrios trägt, das griechische Äquivalent des Tetragramms
JHWH, erinnert nach Segal an die Spekulationen über Henoch bzw. Metatron.
Dieser Erzengel wird in einer mystischen Schrift (3 Hen) als "kleiner
Jahwe" bezeichnet - ein Hinweis darauf, daß es offensichtlich
nicht erst Paulus und das frühe Christentum waren, die den jüdischen
Monotheismus durch die Verehrung einer "zweiten Macht im Himmel"
weitgehend relativierten. Auch der Schweizer Judaist Clemens Thoma, den
einige von Ihnen vielleicht noch von seinem Vortrag in Landau kennen,
spricht im Blick auf das esoterische Judentum von einer "strukturalen
Christologie ohne Christus". Indem Segal u.a. jüdische Forscher
Paulus in den Kontext der jüdischen Mystik einordnen, dann holen
sie ihn damit ins Judentum heim - wenn auch in ein Judentum, das von späteren
Generationen als häretisch angesehen wurde.
3. Die Gesetzeslehre
Auch wenn längst nicht alle Juden gesetzesobservant sind oder waren:
Das Judentum ist nach jüdischem Selbstverständnis die Religion
der Tora. Sie ist das, was das Judentum nach außen sichtbar von
den anderen Völkern und Religionen unterscheidet. Deshalb hat die
Frage nach der Beurteilung des Gesetzes durch Paulus zu allen Zeiten großes
Interesse bei jüdischen Auslegern des Apostels gefunden. Gerade hier
läßt sich das in den letzten Jahren gestiegene Bemühen
erkennen, Paulus als eine Figur der jüdischen Religionsgeschichte
zu würdigen.
Das war nicht immer so. Lange Zeit galt es unter jüdischen Exegeten
als ausgemacht, daß Paulus das jüdische Gesetz aufgehoben habe.
Sie folgten dabei meist blindlings dem Urteil der christlichen Bibelwissenschaft,
die weithin im Bann einer augustinisch-lutherischen Paulusinterpretation
stand. Das zeigt sich etwa an Kaufmann Kohler, einem deutschen Reformjuden
des letzten Jahrhunderts. Dieser urteilt: "Es ist vor allem die Haltung
des Paulus zum Gesetz, die ihn in scharfen Kontrast zum Judentum plazierte.
Es mag bestritten werden, ob Paulus nach seiner Bekehrung noch irgendwelche
Sympathien für das jüdische Volk hatte, dessen Gesetz er zu
einem Fluch erklärte, von dem der gekreuzigte Christus den Glaubenden
befreien mußte." (The Origins of the Synagogue and the Church,
263).
Kohler spielt mit seiner Erwähnung des Fluches auf Gal 3,10ff.
an, nimmt aber gegenüber dem Paulustext eine folgenreiche Veränderung
vor: Während Paulus nur von einem Fluch spricht, der auf denen lastet,
die das Gesetz nicht erfüllen, unterstellt Kohler, Paulus habe das
Gesetz selbst als einen Fluch angesehen. Er kommt zu dieser negativen
Sicht durch die damals allge-mein akzeptierte Voraussetzung, kein Mensch
könne (nach Ansicht des Apostels) das Gesetz in seiner Gänze
erfüllen. Doch daß Paulus im Gal sagt, durchs Gesetz werde
niemand gerecht vor Gott (Gal 3,11) ist gut jüdisch. Auch nach jüdischem
Verständnis kann sich niemand durch gute Werke das Himmelreich verdienen.
Die christliche Polemik gegen eine angebliche jüdische Werkgerechtigkeit
geht völlig ins Leere. Auch der Jude weiß, daß seine
Toraobservanz nur Stückwerk ist und er auf die vergebende Gnade Gottes
angewiesen ist. Warum aber insistiert Paulus dann auf der Einhaltung des
ganzen Gesetzes (Gal 3,10)? Will er damit nicht doch seine Unerfüllbarkeit
demonstrieren? Das ist aus zwei Gründen unwahrscheinlich. Erstens
spricht auch die griechische Version des Dtn, auf das sich der Apostel
hier bezieht, vom ganzen Gesetz. Selbst der hebräische Text, der
in Dtn 26,27 nicht so ausschließlich formuliert, setzt doch im Kontext
ein Befolgen der ganzen Tora voraus (vgl. 28,58; 30,10). Das gleiche gilt
übrigens auch für die rabbinische schriftgelehrte Auslegung
dieser Stelle in Targum, Talmud und Midrasch (SamTg; LevR 25; 123a; pSota
21,d6). Zweitens erfordert die Situation in Galatien die Forderung nach
einer lückenlosen Gesetzesbefolgung. Dort hatten einige der dort
lebenden Heiden-christen offensichtlich angenommen, erst die Beschneidung
mache sie zu vollkommenen Gliedern des Gottesvolkes. Paulus hält
diesen Judaisierern entgegen: Wer sich beschneiden läßt, der
wird damit Jude und ist als solcher auf die ganze Tora verpflichtet. Wenn
schon Jude, dann mit allen Konsequenzen! Hier ist Paulus ganz Pharisäer
- auch als Völkermissionar! Die neuere jüdische Paulusauslegung
argumentiert ganz auf dieser Linie. Der von Christentum zum Judentum konvertierte
Lester Dean hält im Blick auf die fragliche Stelle fest: "Jeder
Jude hätte mit Leichtigkeit die selben Worte schreiben können.
Der Zweck ist es nicht, zu zeigen, wie schwierig es ist, die Tora zu halten.
Vielmehr behauptet die Passage, daß niemand die Freiheit hat, bestimmte
Gebote zu befolgen und andere zu ignorieren" (Bursting the Bonds?,
166).
Die ältere Forschung ist sogar noch weiter gegangen und behauptet,
nach Paulus könne man das Gesetz nicht nur nicht erfüllen, sondern
man solle es auch gar nicht, weil dies zu dem Versuch der Selbstrechtfertigung
durch Werke führen würde. Hören wir dazu einen jüdischen
Religionsphilosophen des 19. Jahrhunderts, Samuel Hirsch (übrigens
nicht zu verwechseln mit dem Orthodoxen Salomon Hirsch!): "Das Gesetz
ist keineswegs gegeben, den Menschen zu heiligen; es bewirkt nur Unheiligkeit,
(..) indem es den Menschen auf seine äußeren Werke stolz macht
(..). Und das Gesetz ist gege-ben, gerade diese Unheiligkeit zu bewirken;
denn dadurch wird in der Erlösung die Nichtigkeit der Unheiligkeit
umso herrlicher geoffenbart." Man hört hier zwischen den Zeilen
deutlich Luther heraus, der es als die eigentliche Aufgabe des Gesetzes
angesehen hatte, den Menschen in die Verzweiflung zu führen, um ihn
so auf den Empfang des Evangeliums vorzubereiten. Aber es mehren sich
heute die Hinweise, daß Luther zwar ein großer Theologe, aber
deshalb noch lange kein vorurteilsfreier Paulusexeget war. Er las die
paulinischen Texte vor dem Hintergrund seines inneren Ringens um einen
gnädigen Gott, das immer wieder an den Forderungen des Gesetzes scheiterte.
So kam es, daß er das Gesetz als Ursache der schlimmsten aller Sünden,
der Werkgerechtigkeit, ansah. Schlüsselstelle für ein solches
Verständnis war Röm 7 - genau die Stelle auf die Hirsch sich
mit seinem obigen Zitat bezieht. Doch selbst in den schwierigen Versen
7+8, sowie 21-23 sagt Paulus dort letztlich nichts Negatives über
das Gesetz:
"Was sollen wir denn nun sagen? Ist das Gesetz Sünde? Das
sei ferne! Aber die Sünde erkannte ich nicht außer durchs
Gesetz. Denn ich wußte nichts von der Begierde, wenn das Gesetz
nicht gesagt hätte: 'Du sollst nicht begehren!' Die Sünde
aber nahm das Gebot zum Anlaß und erregte in mir Begierden aller
Art; denn ohne das Gesetz war die Sünde tot. So finde ich nun das
Gesetz, daß mir, der ich das Gute will, das Böse anhängt.
Denn ich habe Lust an Gottes Gesetz nach dem inwendigen Menschen. Ich
sehe aber ein anderes Gesetz in meinen Gliedern, das wider-streitet
dem Gesetz in meinem Gemüt und hält mich gefangen im Gesetz
der Sünde, das in meinen Gliedern ist."
Daß die Erkenntnis der Sünde erst durch das Gesetz kommt,
spricht ebenso wenig gegen das Gesetz wie die Tatsache, daß es dem
Übertreter den Tod androht. Schuld an der Misere des Menschen ist
nicht das Gesetz, sondern die Sündenverfallenheit des Menschen. Das
Gesetz selbst hat nichts mit der Sünde zu tun. Es ist heilig, gerecht
und gut, wie er in Vers 12 ausdrücklich festhält. Erneut sieht
hier L. Dean klarer als die ältere jüdische Forschung: Ziel
dieses Kapitels sei es nicht, die zu verdammen, die die Tora zu halten
versuchen. Paulus diskutiere hier vielmehr zwei Typen von menschlichem
Leben, das eine unter der Herrschaft der Sünde, das andere unter
der Herrschaft Gottes (a.a.O., 166).
Die Rede von einer Aufhebung des Gesetzes - darin sind sich die meisten
jüdischen Gelehrten heute einig - ist viel zu pauschal. Dennoch ist
mit einem Teil der jüdischen Ausleger zuzugestehen, daß es
bei Paulus wie bei anderen Diasporajuden seiner Zeit zu einer gewissen
Spiritualisierung und Ethisierung der Toragebote gekommen ist. Zu ihnen
gehören der Österreicher Moritz Friedländer und die beiden
Amerikaner Samuel Sandmel und Daniel Boyarin. Der zuletzt genannte Talmudisten
aus Berkeley in Californien hat in seinem Buch, über das Prof. Stegemann
morgen noch referieren wird, auf interessante Analogien aufmerksam gemacht,
die es zu dem oben bereits erwähnten Philo von Alexandrien und Paulus
gibt. So z.B. wenn Paulus in Röm 2,28f. sagt: "Nicht der ist
ein Jude, der es äußerlich ist, auch ist nicht das die Beschneidung,
die äußerlich am Fleisch geschieht; sondern der ist ein Jude,
der es inwendig verborgen ist, und das ist die Beschneidung des Herzens,
die im Geist und nicht im Buchstaben geschieht“. Auch Philo bewertet
die geistige Beschneidung höher als die körperliche Beschneidung.
Das Ethos hat den Kultus im Diasporajudentum offenbar weit zurückdrängen
können - eine verständliche Entwicklung in Gemeinden, für
die das kultische Zentrum ihrer Religion, der Jerusalemer Tempel, weit
weg war. Und doch bleibt ein wichtiger Unterschied zu Paulus: Im Gegensatz
zu ihm hat es hat ihn nie völlig verdrängt. So hat denn auch
Philo nie den körperlichen Aspekt der Beschneidung ganz ausgeblendet.
So weit ging seine allegorische Lesart der Toragebote dann doch nicht.
Andere jüdische Ausleger wie etwa Salomon Schechter, einer der Ahnväter
des konservativen Judentums, sowie die schon erwähnten M. Buber und
H.J. Schoeps haben unterstellt, mit der Verwendung des griechischen Wortes
nomos als Äquivalent für das hebräische tora sei der der
Aspekt des Bundes ausgeblendet worden und die tora auf die Bedeutung "Gesetz"
reduziert worden. Doch jüngere Untersuchungen haben gezeigt, daß
nomos eine ähnlich große Bedeutungsbreite hatte wie tora. Mit
dem Sprachgebrauch des Paulus allein läßt sich seine ambivalente
Haltung zum Gesetz also noch nicht hinreichend erklären.
Eher schon dürfte eine andere Erklärung zu erwägen sein,
die Paulus mit einer jüdischen Äonentheologie in Verbindung
bringt, die mit einem Ende des Gesetzes in der messianischen Endzeit rechnet.
Bekannt wurde diese Erklärung v.a. durch A. Schweitzer, doch wurde
sie schon vielfach im letzten Jahrhundert von jüdischen Wissenschaftlern
in die Diskussion eingebracht. So ist sich einer der wenigen orthodoxen
Paulusinterpreten, der Italiener Eliahu Benamozegh mit den Liberalen Wise
und Hirsch, aber auch mit dem Konservativen Graetz darin einig: Wenn man
mit Paulus davon ausgeht, daß der Messias bereits gekommen ist,
dann ist es vom jüdischen Standpunkt nur konsequent, das Gesetz als
irrelevant zu erklären. Was dann Paulus von seinen jüdischen
Glaubensgenossen nocht trennt ist, wie Baeck sich ausgedrückt hat,
nur die quaestio facti, die Frage des Faktums, nicht aber die quaestio
iuris, die Frage des Grundsatzes. Diese These, die z.T. schon in den mittelalterlichen
Disputationen zwischen Juden und Christen eine Rolle spielt (so etwa in
der Kontroverse zwischen Paulus Christianus und Rabbi Nachmanides in Barcelona,
1263), ist (nicht nur von jüdischer Seite!) oft erneuert worden.
In der Tat eignet der messianischen Idee im Judentum ein gewisser anarchischer
Zug, der das Gesetz als zweitrangig erscheinen läßt. Dieser
anarchische Zug kam am deutlichsten zum Tragen bei den Sabbatianern -
einer messianischen Bewegung, die im 17. Jhd. zahlreiche Anhäger
hatte. Es ist allerdings umstritten, ob bereits das klassische jüdische
Schrifttum eine solche Äonentheologie kannte. Mir scheint, daß
die wenigen und zudem schwer datierbaren Belege kaum mehr als die Position
einer Minderheit im damaligen Judentum repräsentieren. Außerdem
scheint mir das Argument schlecht auf Paulus anwendbar zu sein. Denn dieser
es kann kaum davon die Rede sein, daß der Apostel das ganze Gesetz
für alle Menschen aufgehoben hat. Man führt zwar oft Röm
10,4 als Beleg dafür an, daß Christus des Gesetzes Ende sei,
doch läßt sich der Vers noch ganz anders übersetzen. Eine
immer größer werdende Zahl von Auslegern plädiert heute
dafür, von Christus als dem Ziel des Gestzes zu sprechen. Das kommt
dem von Paulus Gemeinten schon näher, wenngleich ich im Anschluß
an meinen Lehrer C. Burchard eine dritte Lösung vorschlagen möchte:
"Ziel des Gesetzes ist es, daß Christus zur Gerechtigkeit wird
allen, die glauben." Der Sinn des Verses wäre dann keine Befristung
des Gesetzes bis zum Kommen Christi, sondern eine Bezeugung der in Christus
offenbarten Glaubensgerechtigkeit durch das Gesetz.
Eine wichtige Einschränkung der üblichen Rede vom Ende des
Gestzes scheinen mir auch solche jüdischen Autoren zu machen, die
betonen, Paulus habe nur die Zeremonialvorschriften, nicht aber die ethischen
Gebote in Frage gestellt (so Klausner, Segal, Boyarin). Zwar wäre
eine prinzipielle Unterscheidung Zeremonial- und Moralvorschriften im
damaligen Judentum analogielos, das Gesetz stellt vielmehr so etwas wie
ein "Gesamtkunstwerk" dar. Doch fällt auf, daß Paulus
nirgends das Gesetz selbst kritisiert, sondern lediglich die "Werke
des Gesetzes" (erga nomou). Was damit gemeint ist, ist in der Forschung
heftig umstritten. Eine der angeboteten Lesarten sieht in den "Werken
des Gesetzes" die Toragebote, die das jüdische Volk äußerlich
sichtbar von anderen Völkern unterscheidet. Das aber sind im wesentlichen
die Zeremonialvorschriften in Bezug auf Sabbat, Beschneidung und koscheres
Essen. Es steckt also zumindest eine Teilwahrheit hinter dieser These.
Eine weitere Differenzierung nehmen solche jüdischen Autoren vor,
die meinen, die Freiheit vom Gesetz gelte nur für Heidenchristen.
Christen jüdischer Abstammung seien nach wie vor auf die Tora verwiesen,
wenn auch nicht als Heilsweg. Michael Wyschogrod, den einige von ihnen
vielleicht vom Deutschen Evangelischen Kirchentag kennen, findet einen
Hinweis dar-auf in Apg 16, wo es heißt Paulus habe Timotheus, den
Sohn einer jüdischen Mutter, beschnitten. Auch 1 Kor 7,17-19 kann
angeführt werden, wo es heißt: "Jeder soll so leben, wie
der Herr es ihm zugemessen, wie Gott jeden berufen hat. (..) Ist jemand
als Beschnittener berufen, der bleibe in der Beschneidung: Ist jemand
als Unbeschnittener berufen, der lasse sich nicht beschneiden. Beschnitten
sein ist nichts, und unbeschnitten sein ist nichts, sondern Gottes Gebote
halten." Wenn man berücksichtigt, daß die paulinischen
Gemeinden ganz überwiegend heidnischer Herkunft sind, dann legt es
sich nahe, den Apostel vor dem Hintergrund der zeitgenössischen jüdischen
Halacha für Heiden zu sehen. Also nicht, was das Gesetz von einem
Juden zu tun verlangte, sondern von einem Nichtjuden, ist dann der Maßstab,
an dem die Gesetzestheologie des Paulus dann zu messen ist. Vieles von
dem, was man dem Apostel nachsagte, aufgehoben zu haben, wurde vom Judentum
überhaupt nicht (jedenfalls nicht generell) nichtjüdischen Sympathisanten
der Synagoge abverlangt.
Insofern scheint mir die These vieler heutiger jüdischer Ausleger
plausibel, daß Paulus Teil einer universalistischen Strömungen
des Judentums war, die die Assoziierung von Heiden zur Gemeinde nicht
von der Erfüllung aller Toravorschriften, sondern nur einiger weniger
Minimalforderungen abhängig gemacht hat. Zu diesen sog. "Noachidischen
Geboten" gehörten (nach bSan 56b) das Gebot der Rechtspflege,
sowie die Verbote der Gotteslästerung, des Götzendienstes, der
Unzucht, des Blutvergießens, des Raubes und des Essens von einem
lebenden Tier. Wenn Paulus im 1 Kor und Röm die Götzenopferfleischfrage
diskutiert, dann stehen dabei die Skrupel vor dem heidnischen Götzendienst
im Hintergrund, sicher auch die Koschervorschriften. Oder wenn er in 1
Kor 6 die Christen in Korinth mahnt, Rechtshändel innergemeindlich
auszutragen, dann hat das etwas mit dem noachidischen Gebot der Rechtspflege
zu tun. Wenn er schließlich in 1 Kor 7 generell die Ehescheidung
verbietet, will er damit den geschiedenen Partner vor Unzucht bewahren,
für den Fall, daß er erneut eine Bindung eingeht. Übrigens
fußt auch das sog. Aposteldekret, nach Apg 15 eine Kompromißformel
zwischen Paulus und den Jerusalemer Aposteln, weitgehend auf den jüdischen
Vorschriften für die noachidische Menschheit. So zeigen sich auch
in der Frage der Gesetzestheologie sehr viel größere Übereinstimmungen
zwischen Paulus und seiner jüdischen Umwelt als weithin angenommen.
Paulus hat nicht, wie oft behauptet das Gesetz aufgehoben, sondern allenfalls
bestimmte Teilaspekte desselben aufgrund der heringebrochen geglaubten
Endzeit für eine bestimme Menschengruppe relativiert. Das ist ein
gewaltiger Unterschied!
4. Zusammenfassung und Ausblick
Kommen wir zum Schluß: An drei thematischen Brennpunkten habe ich
Ihnen aufzuzeigen versucht, in welchem Umfang und mit welchen Mitteln
es die neuere jüdische Paulusauslegung unternommen hat, den lange
Zeit verketzerten Apostel in das Judentum heimzuholen. Auch unter christlichen
Auslegern mehren sich heute die Stimmen, die Paulus primär im Kontext
der jüdischen Religionsgeschichte sehen (M. Barth, P. v.d. Osten-Sacken,
E. u. W. Stegemann). Ich sehe in diesen Ansätzen eine große
Chance - nicht nur für den christlich-jüdischen Dialog, sondern
auch für eine Selbstreinigung des Christentums von den antijüdischen
Ressentiments, die bis heute unser Denken prägen. Es geht mir weniger
um eine theologische Wieder-gutmachung gegenüber dem Judentum, wenn
es denn überhaupt so etwas geben kann. Worum es geht, ist ein ungetrübter
Blick auf unsere eigenen Glaubensquellen, die lange Zeit unter einem Schleier
dogmatischer und weltanschaulicher Vorurteile verborgen lagen. Die ältere
jüdische Paulusaus-legung mit ihrer Polemik gegen den Apostel führt
uns wie in einem Spiegel die Deformationen des Christentums vor Augen.
Die neuere jüdische Paulusauslegung kann uns den Weg zeigen, wie
wir diese Deformationen überwinden können: durch eine Wiederentdeckung
der jüdischen Dimension der paulinischen Theologie. Ich hoffe, mit
meinen Ausführungen Ihnen heute wenigstens ein paar Hinweise in diese
Richtung gegeben zu haben. Vielen Dank!
(Vortrag bei einer Tagung der Konrad-Adenauer-Stiftung in Bonn/Wesseling,
21.10.04)
Von gleichen Autor gibt es auch eine Monografie zum Thema:
Stefan
Meissner. Die Heimholung des Ketzers (hier bestellen!)
Studien zur jüdischen Auseinandersetzung mit Paulus
Tübingen 1996. IX, 359 Seiten.
Zusammenfassung dieser Arbeit:
Die moderne jüdische Paulusauslegung (ab Mitte 19. Jhd.) könnte
heute als ideologiekrisches Korrektiv dazu beitragen, den Christlichen
Antijudaismus zu überwinden, der sich auch in die neutestamentliche
Wissenschaft eingeschlichen hat. Eine in den letzten Jahrzehnten erkennbare
"Heimholung" dieser traditionell als Ketzer angesehenen Figur
in die jüdische Religionsgeschichte eröffnet heute die Möglichkeit,
auch Paulus in den christlich-jüdischen Dialog mit einzubeziehen.
Dieser "Paradigmenwechsel" wird zuerst in einem forschungsgeschichtlichen
Längsschnitt (1. Hauptteil) und dann in einem thematischen Querschnitt
durch wichtige Brennpunkte der jüdischen Paulusrezeption (2. Hauptteil)
dargestellt und vom Standpunkt der gegenwärtigen neutestamentlichen
Forschung kritisch beurteilt.
Bild von Hchc2009 - Eigenes
Werk, CC-BY-SA 4.0, https://commons.wikimedia.org/w/index.php?curid=43152856
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