Jüdisches Paris

von Manfred Backhausen


Eifelturm bei Nacht, (C) PixelQuelle.de

Egal wo – irgendwie muß ich eine geheime Antenne für das „Jüdische“ haben. Ob in Venedig (mittelalterliches Getto), Rhodos-Stadt (versteckte Prachtsynagoge), Krakau (in keinem Reiseführer erwähnte sehr schöne Synagoge), Ratingen (Gedenktafel, welche verschämt in einem Winkel hängt) oder in Leipzig (Stellen wo früher die Mesuse hing an verschiedenen Häusern) – ich stoße auf eine uralte Synagoge, ich stehe plötzlich auf einem uralten jüdischen Waldfriedhof, finde Gedenksteine oder zu Wohnhäusern umfunktionierte Bethäuser. Aenne Heymann aus Stommeln, die Haifa lebt, pflegte bei solchen Berichten von mir auf Kölsch zu fragen: „Bes do secher, dat bei dinge Vorfahre nit doch irjenswo ne kleine Jüd wor (Hochdeutsch: Bist du sicher, das bei deinen Vorfahren nicht doch ein kleiner Jude war)“.

Warum sollte es mir also in Paris anders ergehen? Bereits eine Stunde nach Ankunft im Hotel, bei einem Kaffee in einem Bistro sitzend, fällt mir der junge Kellner mit dem großen Magen David am Halse auf. Meine Frage, ob er Jude sei, bejaht er und findet sie im übrigen ganz normal. In Deutschland lauten solche „normalen“ Fragen ja zumeist „Sind sie jüdischer Konfession?“ oder „Sind sie jüdischer Abstammung bzw. Herkunft“ oder „Sind sie jüdischer Mitbürger?“ Und ähnlichen Unsinn. Hat man schon einmal jemanden fragt gehört „Sind sie katholischer Abstammung bzw. Herkunft?“ oder „Sind sie evangelischer Mitbürger?“ In Paris jedenfalls können sie völlig ungeniert fragen „Sind sie Jude?“

Als nächstes „stolpere“ ich über eine geschlossene Metzgerei. „Kacher“ steht darüber und sagt mir nichts. Bis ich in Hebräisch auf der anderen Seite „Koscher“ lese. Aha, eine koschere Metzgerei unter der Aufsicht des orthodoxen Rabbiners Rottmann, wie ich weiter lese. Mitten unter anderen Geschäften: auffällig unauffällig!


Jüdisches Geschäft in Paris (Quelle: Wikimedia-Commons)

Am nächsten Tag fallen mir einige orthodoxe Juden mit Kaftan und Streimel auf und ich sehe an weiteren Geschäften hebräische Inschriften und erneut das „Kacher-Koscher“. Sollte ich im jüdischen Viertel gelandet sein? Aber das soll sich doch laut Reiseführer im Marais befinden. Also nichts wie dorthin. Was ich aber, von ganz wenigen jüdischen Zeugnissen, finde sind Luxusgeschäfte über Luxusgeschäfte. Paris poliert seine alten und typischen Viertel auf – und verliert dabei an seinem Reiz.

Also wieder zurück in „mein“ Viertel. Plötzlich erblicke ich das Schild „Addass Daim“, den Davidsstern und den Hinweis auf eine Synagoge. Sie dürfte orthodox sein, ist aber leider geschlossen. Immer wieder finde ich an Geschäften den Hinweis, das diese unter Kontrolle gerade dieser Gemeinde bzw. deren Rabbiner stehen. Wenige Meter neben dieser recht kleinen Synagoge befindet sich die Zentrale und das Museum der größten französischen Freimaurerloge „Grande Orient de France“. Jeder Neonazi und Antisemit, jeder Anhänger der Verschwörungstheorie würde jetzt sofort erkennen „Juden und Freimaurer – Haus an Haus“. Nur gut, das sich in dieses Viertel kaum ein Tourist verläuft und selbst wenn, würden sie beides wahrscheinlich gar nicht wahrnehmen.

Orthodoxe und Chassidim begegnen mir immer wieder in ganz Paris, nicht nur im Viertel. Ebenso Männer und Jungen mit Kipa. Sie bewegen sich völlig ungezwungen und niemand schenkt ihnen besondere Beachtung. Sie gehören zu Paris wie der Tour de Eiffel oder Notre Dame. So muß es wohl auch in deutschen Großstädten vor 1933 einmal gewesen sein, denke ich.

Wieder einige Tage später stoße ich am Sabbat auf eine große und schöne Synagoge, über der Tür steht „Beth-ha-Knesset“ in latainischen Buchstaben, das Dach ist mit den Gesetzestafeln geschmückt – ich weiß noch nicht einmal in welcher Straße ich mich gerade befinde, aber ich habe einen Hut auf. Also betrete ich den Vorraum und niemand kümmert sich um mich. Der G“ttesdienst hatte gerade begonnen, einige Nachzügler holten sich aus kleinen hölzernen Schränken ihren Tallit. Ich sehe keinen Mann oder Jugendlichen ohne Talles. Als ich in die eigentliche Synagoge schaue, bin ich erschrocken und erschüttert zugleich. Nein, nicht von der Pracht dieses Beth-ha-Knesset, auch nicht das Alter ist es. Es könnte, von der Größe abgesehen, die Stommelner Synagoge sein. Als dort noch gebetet wurde. So wie ich sie aus den Erzählungen Hermann Jacobsohns kenne: Die Bimah in der Mitte, darum die Gemeinde versammelt. Ich verzichte auf ein Foto – manche Bilder sind im Kopf besser aufgehoben!

Weiter geht es in „meinem“ jüdischen und zugleich auch multikulti Viertel. Fast jedes Geschäft verweist auf den Rabbiner oder die Gemeinde, welche sie kontrollieren. Neben dem jüdischen Haushaltswarengeschäft befindet sich ein algerischer Früchtehändler. Neben dem Restaurant Bagdad, es gehört einem irakischen Juden, ist das
Restaurant Beyrout einer christlichen libanesischen Familie. Als ich plötzlich Heißhunger auf eine Pizza bekomme, lande ich in der original italienischen Pizzeria eines koptischen Christen aus Kairo. Nein, nicht der totale Wahnsinn – die normale Unnormalität vielleicht? Ich weiß es nicht. Ich staune nur und genieße.


Die Kirche Notre Dammes auf der Ile de la Cité

In der Kathedrale Notre Dame de Paris sehe ich rechts am Altar einen großen blauen eingelassenen Mosaik-Davidsstern. Wie kommt er dorthin? Welche Bedeutung hat er in einer katholischen Kirche. Erzbischof Jean-Marie Lustiger dürfte als Verursacher ausfallen, dazu ist er zu jung. Ich finde keine Erklärung und stoße in mehreren anderen Kirchen auf das christliche Symbol des „Auge G“ttes“, darin befindet sich in Hebräisch der unaussprechliche Name des Höchsten. Auch in Deutschland und Italien gibt es dies, aber ich habe es noch nie so oft wie in Pariser Kirchen gesehen. An Wunder will ich nicht so recht glauben, aber an was?

Es ist der vorletzte Abend. Nach einer langen Stadtwanderung nähere ich mich der alten Oper. Musik weht zu mir herüber, ich kann Akkordeontöne erkennen. Aber es ist nicht eine Hommage an Edith Piaf. Woher kenne ich bloß diese Musik? Aus Israel! Aber es ist keine israelische Musik. Was haben wir denn für ein Datum? Oh, heute könnte Chanuka sein. Plötzlich fällt der Groschen, pardon, der Centimes! Chassidische Musik. Ich renne fast zum Opernvorplatz. Auf einer schwebenden Hebebühne zwei junge Chassiden mit Videokameras. Der ganze Platz ist voller Menschen. Die meisten sind Chassiden, aber nicht alle. In der Mitte tanzen Männer, die Stimmung ist fast ausgelassen. An einigen kleinen Ständen gibt es Süßspeisen und Literatur. Immer neue Menschen überqueren die Straßen und kommen in die Mitte. Ein großes Schild und ein Chanuka-Leuchter deuten auf das Fest hin. Rundherum pulsiert der Verkehr und diese Menschen feiern fröhlich und unbeschwert Chanuka. Was für eine Stadt?

Am letzten Nachmittag will ich unbedingt zum Friedhof Monmartre. Der Wächter übergibt mir eine Gräberliste und ich beginne mit der Suche. Also hin zu Heinrich Heine, dem getauften Juden aus Düsseldorf, der am Schluß seines Lebens wieder bewußter Jude war. Nichts auf seinem Grabstein deutet auf irgendeine Religion hin. Nur seine Büste und die beiden Inschriften „Heinrich Heine“ und „Frau Heine“ sind zu sehen. Also weiter: Wenn ich als Kölner schon einen Düsseldorfer besuche, muß ich natürlich auch zum Kölner Jaques (Jacob) Offenbach. Jahrelang bin ich täglich an seinem Geburtshaus vorbeigegangen. Auch von ihm sehe ich die Büste mit der typischen Darstellung. Aber was ist das? Unter der Büste befindet sich ein stilisiertes Kreuz. Ist Offenbach, dessen Vater in Köln ein bekannter Kantor und Buchautor war, in Paris konvertiert? Auch zurück in Düsseldorf finde ich in meiner Bibliothek keinen Hinweis.

Langsam also wieder zum Ausgang zurück. Ich sehe mehrere Grabsteine mit dem Davidsstern und dem „S.l.e.i.D.“, bei anderen lassen nur die Namen auf Juden schließen. Plötzlich traue ich meinen Augen nicht: Ein typischer jüdischer Grabstein eines Ehepaares von Form und Inschrift her. Ich sehe den Magen David, ich sehe das S.l.e.i.D.! Und dann sehe ich hinter dem Namen der Frau eindeutig ein christliches Kreuz. Ich habe schon auf manchen Guten Orten, insbesondere in Dresden und Breslau/Wroclaw, Grabsteine und Symbole gesehen, die alles andere als jüdisch waren, einschließlich des „Ruhe in Frieden“. Aber ein Kreuz? Gut, der Friedhof Monmartre ist kein eigentlicher jüdischer Friedhof, aber dennoch: Ein Kreuz! Normal – unnormales Paris, mehr ist dazu nicht zu sagen. Vorbei am pompösen Grabmal der Sängerin Dalida fällt mein Blick auf ein typisch südländisches Grab: weißer Marmor, künstliche Blumen, das Bild des toten jungen Mannes in Porzellan. Nun gut, so sehen halt christliche Gräber in Griechenland, Spanien, Südfrankreich usw. aus. Aber über dem Grabstein befindet sich eindeutig ein Davidsstern und ich finde auch das S.l.e.i.D.! Paris! Mit diesen Eindrücken verlasse ich die französische Hauptstadt. So ist das also in einer „normalen“ Stadt. Natürlich weiß ich, das es auch in Paris Antisemiten, Rassisten und Fremdenhasser gibt. Ich will auch bestimmt nichts beschönigen, aber ich bleibe dabei: So muß es in einer normalen Stadt sein. Ob wir in Deutschland auch einmal wieder normale Verhältnisse bekommen?