Die neue Synagoge Bet Schalom in Speyer
Von den Anfängen bis ins Mittelalter
In diesem Jahr feiern wir vielerorts „1700 Jahre
Judentum in Deutschland“. Anlass dieses Jubiläums ist ein Dekret
Kaiser Konstantins aus dem Jahre 321, das im Codex Theodosianus überliefert
ist. In ihm heißt es: „Allen Stadträten gestatten Wir
durch allgemeines Gesetz, Juden in die Kurie zu berufen.“ Dass jemand
in ein öffentliches Amt berufen wurde, dafür war im Römischen
Reich nicht nur Grundbesitz und ein gewisses Ansehen der Person Voraussetzung.
Man musste auch noch dem Kaiser und den Staatsgöttern Opfern bringen.
Weil für Juden dies jedoch nicht in Frage kam, konnten sie solche
Ämter bis dahin nicht begleiten. Das änderte sich nun durch
dieses Dekret, das als frühester Beleg für die Existenz einer
jüdischen Gemeinde nicht nur in Deutschland, sondern überhaupt
nördlich der Alpen, gilt. Eine kontinuierliche Besiedlung lässt
sich aber erst in ottonischer Zeit, also nach der Jahrtausendwende, nachweisen.
Die ersten jüdischen Gemeinden bildeten sich entlang des Rheins.
Neben Köln und Trier waren es v.a. die sog. Schum-Städte Mainz,
Worms und Speyer, in denen sich dauerhaft jüdische Leben nachweisen
lässt.
Im Hochmittelalter erlebte das Judentum in Deutschland dann eine erste
Blütezeit. Durch die Einwanderung jüdischer Kaufleute aus Italien
und Südfrankreich wuchs die Zahl der Juden in nur einem Jahrhundert
von 5.000 auf 20.000. In den Städten entstanden Judenviertel, in
denen die Juden ihre eigenen Angelegenheiten wie Steuern, Kultus oder
Schule selbst verwalten durften. Diese Situation änderte sich mit
dem Ersten Kreuzzug (ab 1096) unter Papst Urban II., wo es erstmals zu
Pogromen gegen jüdische Gemeinden mit ca. 2000 Toten kam. Als „Kammerknechte“
waren Juden fortan nur noch geduldet, wenn sie der Obrigkeit einen entsprechenden
Obulus entrichteten, die sog. „Reichsjudensteuer“.
Bis Mitte des 12. Jahrhunderts waren Übergriffe gegen Juden eher
die Ausnahme, danach aber nahmen sie zu. Die meisten Opfer gab es mit
Abstand bei den Pestpogromen im 14. Jhd., von denen reichsweit mindestens
400 Gemeinden betroffen waren. Ab dem 4. Laterankonzil (1215) mussten
Juden einen gelben Fleck auf ihrer Kleidung tragen. Viele berufliche Tätigkeiten
waren ihnen verwehrt, so wichen sie auf Geldverleih und Handel aus. Seitdem
galten sie als Ausbeuter und Wucherer. Neben diesen sozialen Ressentiments
warf man ihnen auch vor, Hostien zu schänden und so den Mord an Jesus
symbolisch noch einmal zu verüben. Wenn irgendwo Kinder verschwanden
und später dann tot aufgefunden wurden, wurde auch das gerne den
Juden in die Schuhe geschoben. Besonders an Pessach - so der Vorwurf -
sei es zu solchen „Ritualmorden“ gekommen, bei denen das Blut
christlicher Kinder für magische Zwecke missbraucht wurde. In dieser
Zeit gab es auch immer wieder Zwangsdisputationen, an deren Ende die Alternative
stand: Tod oder Taufe. Viele Juden kamen dem zuvor durch Selbsttötung
oder durch Flucht, meist in Richtung Osteuropa. Dort entstanden im Spätmittelalter
jüdische Gemeinden, die in sprachlicher und religiöser Sicht
das Erbe des aschkenasischen Judentums bewahrten.
Der Beginn der Neuzeit
Während die Zahlen um 1300 auf ca. 100.000 Juden
im Reich gestiegen waren, gingen sie bis zum Beginn des 15. Jahrhunderts
wieder zurück auf etwa 40.000. So gab es zu Beginn der Neuzeit jüdische
Gemeinden nur noch in ganz wenigen Städten. Dem urbanen Bürgertum
gelang es zunehmend, auch ohne die jüdischen Geldgeber zu prosperieren.
Mit Hilfe der Obrigkeit entledigte man sich gerne der unerwünschten
Konkurrenz. Es lassen sich aber zu Beginn der Neuzeit auch gegenläufige
Tendenzen erkennen: So gab es durch die zunehmende Zahl von städtischen,
später dann auch landesfürstlichen Judenordnungen einen gewissen
„Zuwachs an Rechtssicherheit“.
In religiöser Hinsicht waren wir zu Beginn der Neuzeit aber noch
immer weit entfernt von dem, was wir später Toleranz nennen. Das
zeigt beispielsweise der sog. Pfefferkorn-Streit Anfang des 16. Jahrhunderts,
benannt nach dem getauften Juden Johannes Pfefferkorn, bei dem die Kölner
Dominikaner eine Verbrennung des Talmuds und anderer rabbinischer Schriften
forderten. Sie lagen damit ganz auf der Linie des Reformators Martin Luther,
der in seinen Spätschriften nicht nur eine Verbrennung der Schriften,
sondern auch der Häuser und Synagogen der Juden forderte. Im Pfefferkorn-Streit
bezog Luther freilich noch Stellung gegen die Bücherverbrennungen.
Zwar hielt er auch damals schon die Juden für Gotteslästerer,
aber er war überzeugt, Gott werde ihre Ablehnung Christi „von
innen“ überwinden. Als sich diese Hoffnungen auf eine Bekehrung
der Juden nicht erfüllten, schlug seine Stimmung in Hass um. Immerhin
gab es eine Reihe von Humanisten, die sich in diesem Streit gegen die
Dominikaner positionierten und sich für das Recht einer freien wissenschaftlichen
Diskussion einsetzten. Zu ihnen gehörte Johannes Reuchlin, der über
erstaunliche Kenntnisse des Hebräischen und des jüdischen Schrifttums
verfügte. Obwohl der Pfefferkorn-Streit vordergründig zu Ungunsten
der Juden ausging, trug er doch zu einer zunehmenden Sensibilisierung
der Öffentlichkeit bei, die den Boden ebnete für das, was wir
später Aufklärung nennen.
Vom Ghetto in die bürgerliche Gesellschaft
Der Weg der Juden „aus dem Ghetto in die bürgerlich
Gesellschaft“, die wir heute auch als Judenemanzipation bezeichnen,
ist ein langer Prozess, den wir unmöglich in allen Details darstellen
können. Eine wichtige Etappe auf diesem schmerzhaften Weg ist mit
dem Namen Moses Mendelssohn verbunden, den wir vielleicht noch aus dem
Deutschunterricht kennen. Der jüdische Aufklärer stammte ursprünglich
aus Dessau, wurde aber aufgrund seiner Gelehrsamkeit auch einer breiteren
Öffentlichkeit bekannt, nachdem er nach Berlin kam. Mendelsohn setzte
auf Bildung, um die Juden aus ihrer Paria-Rolle zu befreien. Er initiierte
jüdische Schulen und übersetzte zum ersten Mal das Alte Testament
ins Deutsche. „Da alle Menschen von ihrem Schöpfer zur ewigen
Glückseligkeit bestimmt sein müssen,“ davon war Mendelsohn
überzeugt, „so kann eine ausschließliche Religion nicht
die wahre sein.“ Diese Anfänge eines religiösen Pluralismus
schlagen sich dann später nieder in G.E. Lessings „Nathan der
Weise“, mit dem der jüdische Gelehrten ein literarisches Denkmal
gesetzt bekam, das bis heute in den Schulen gelesen wird. Der Preis für
die Emanzipation der Juden aber war oft ihre Anpassung, nicht nur kulturell,
sondern auch religiös. So traten die Kinder Mendelssohns, mit Ausnahme
seines ältesten Sohnes, alle zum Christentum über.
Weil für viele Juden diese Erwartungshaltung indiskutabel war, setzte
sich die Aufklärung anfangs nur bei einem kleinen Teil der jüdischen
Bevölkerung durch. Gerade in kleinen Landgemeinden fand die Haskala
- so nannte man diese Strömung damals – fast gar keine Resonanz.
Allerdings entstand in den Städten eine neue Elite, die es in Sachen
Bildung durchaus mit dem traditionellen Rabbinat aufnehmen konnte. In
der sog. „Wissenschaft des Judentums“, einer der einflussreichsten
intellektuellen Strömungen des 19. Jahrhunderts, begann man sich
zu öffnen für die Idee einer historisch-kritischen Erforschung
der jüdischen Quellen. Eine Tendenz, der sich auch orthodoxe Kreise
auf Dauer nicht entziehen konnten. Die innerjüdische Reformbewegung
hinterließ ihre Spuren nicht nur bei der Schriftauslegung, sondern
auch bei der Gestaltung der Gottesdienste. So wurde neben dem Hebräischen
auch die Landessprache in der Liturgie zugelassen, ebenso waren Musikinstrumente
nicht länger verpönt.
Obwohl große Teile des deutschen Bürgertums die Ideen der Aufklärung
verinnerlicht hatten, ließ die rechtliche Gleichstellung der Juden
noch viele Jahrzehnte auf sich warten. Ein entscheidender Impuls kam von
außen: Die Französische Nationalversammlung räumte 1791
erstmals den Juden gleiche Rechte ein. Der Code Napoleon (1804) wurde
in Deutschland von den mit Frankreich paktierenden Rheinbundstaaten übernommen.
So kamen auch Juden in der Pfalz in den Genuss dieser Gleichstellung.
1812 schloss sich auch Preußen an, wenngleich mit vielen Einschränkungen.
Vom Kaiserreich bis zur Shoa
Traditionell wird man in das Judentum hineingeboren.
Es ist also nicht nur eine Glaubensgemeinschaft, sondern auch eine ethnische
Größe. Diese Entkoppelung von Judentum und Religion hat freilich
auch ihre Schattenseite, ist sie doch zugleich eine der Voraussetzungen
für den modernen Rasseantisemitismus, der im 19. Jahrhundert seine
erste Blüte erlebt. Unter dem Einfluss des Darwinismus wurde die
Biologie damals zur Leitwissenschaft, was sich auch auf die Argumentation
der Judenfeinde auswirkte: Um ihren Ressentiments einen möglichst
wissenschaftlichen Anstrich zu geben, beklagten sich diese nun nicht mehr
in erster Linie über das Judentum als Religion. Vorgeworfen wird
seinen Angehörigen nun die Zugehörigkeit zur angeblich minderwertigen
Rasse der Semiten. Ganz neu war diese Argumentation übrigens nicht:
Schon Luther hatte abfällige Äußerungen über das
Blut der Juden parat und im Spanien der Reconquista gab es Blutreinheitsgesetze
(„Limpieza de sangre“), durch die sich die christliche Mehrheit
von den konvertierten Juden, den Marranen, abgrenzte.
Mit der sich verschärfenden sozialen Frage wird im 19 Jahrhundert
ein weiteres Motiv der Judenfeindschaft wiederbelebt, das wir schon aus
dem Mittelalter kennen und das weder religiös noch rassisch begründet
ist: Der Vorwurf der jüdischen Geldgier. Weil viele Juden - bei weitem
nicht alle, vielleicht nicht einmal die Mehrheit - im Handel tätig
waren, galten sie pauschal als „Kapitalisten“. In einer seiner
Frühschriften schrieb K. Marx, der wie wir wissen selber Jude war,
„der weltliche Kultus des Juden“ (sei) der Schacher …
sein weltlicher Gott das Geld“.
An beide Klischees konnten die Nationalsozialisten dann anknüpfen:
Sie kämpften einerseits für die Reinerhaltung der arischen Rasse,
andererseits instrumentalisierten sie die Wut der während der Weltwirtschaftskrise
verarmten Menschen gegen die vermeintlich Schuldigen an diesem Desaster:
die angeblich geldgierigen Juden.
Das Dritte Reich
Schon zwei Jahre nach der Machtergreifung Hitlers (1933)
traten die Nürnberger Rassegesetze in Kraft, die vielen Juden ihren
Job kosteten und auch sonst ihr soziales Leben erheblich einschränkte.
Der Besuch von Kinos, Schwimmbädern und anderen öffentlichen
Einrichtungen wurde mehr und mehr unmöglich. In der Reichpogromnacht
1938 wurden Synagogen zerstört, aber auch jüdische Familien
wie die von Lore Metzger in Landau drangsaliert durch plündernde
Nazi-Horden. Der 10. November begann für sie damit, dass die Hausangestellte
sie frühmorgens aus dem Schlaf riss und sagte: „Wenn du die
Synagoge noch einmal sehen willst, eil' dich, denn die Synagoge brennt
lichterloh!“ Zitternd und ohne Mantel lief sie in Richtung der Synagoge,
wo sie fassungslos mit ansehen musste, wie das jüdische Gotteshaus
ein Opfer der Flammen wurde. Als sie nach Hause kam, um alles ihren Eltern
zu erzählen, wurde die 17-Jährige Zeuge, wie ihr Vater verhaftet
und die ganze elterliche Wohnung verwüstet wurde. Weil die Auswanderung,
nach anfänglichem Zögern, bereits vor der Pogromnacht in die
Wege geleitet wurde, gelang der Familie dann auch recht schnell die Flucht
in die USA. Ihnen blieb erspart, was für so viele Pfälzer Juden
dann kam: Die Deportation im Oktober 1940 in das südfranzösische
Lager Gurs am Rande der Pyrenäen, später dann nach Auschwitz
oder andere Lager im Osten. Auf der Wannseekonferenz 1942 wurde klar,
worauf die Politik Hitlers hinaus lief: Die Juden sollten nicht nur vertrieben,
sie sollten durch Vernichtungslager flächendeckend ausgelöscht
werden. Das ist gemeint, wenn man heute von Holocaust (lat.: holocaustum
= Ganzopfer) spricht.
Fast wäre Hitler sein Vorhaben auch gelungen: Nach 1945 gab es nur
noch eine Handvoll Juden in der Pfalz, fast niemand hatte den Völkermord
überlebt. Was Deutschland dadurch vermutlich bleibend verloren hat,
dämmert einem erst, wenn wir uns an klar machen, welchen Anteil Jüdinnen
und Juden am deutschen Kulturleben hatten: Jeder kennt heute noch Schriftsteller
wie Elke Lasker-Schüler, Franz Werfel oder Alfred Döblin. Unter
den Komponisten machten sich Alfred Schönberg, Hans Eisler und Kurt
Weil einen Namen. Und was wäre die deutsche Geistesgeschichte ohne
Leute wie Walter Benjamin, Ernst Bloch oder Sigmund Freud? Fast noch auffälliger
war der Erfolg jüdischer Naturwissenschaftler: Von den neun Nobelpreisen,
die zwischen 1918 und 1933 deutsche Forscher erhielten, gingen fünf
an Juden. Der erste von ihnen war 1921 der Entdecker der Relativitätstheorie:
Albert Einstein.
Vom Holocaust bis in die 90er-Jahre
Von der halben Million deutscher Jüdinnen und Juden
überlebten in Deutschland nur etwa 17.000. Die mit Abstand meisten
von ihnen ließ man in Ruhe, nämlich 15.000, weil sie mit einem
Nichtjuden bzw. einer Nichtjüdin verheiratet waren, nur 2.000 konnten
sich vor den Nazis verstecken. Fünf Jahre später, also um 1950
stieg die Zahl der Juden in Deutschland in nur kurzer Zeit auf 37.000
an. Der Grund dafür waren die sog. „Displaced persons“,
die aus Ost-Europa zuwanderten. Sie kamen, weil ihre Häuser in den
ehemaligen Ghettos zerstört waren und sie dort keine Bleibe mehr
hatten. Außerdem waren alle ihre Freunde und Verwandten tot oder
vermisst. Warum sollten sie also bleiben? Außerdem könnte man
als jüdische DP bestimmte Privilegien erwarten, insbesondere in der
amerikanischen Besatzungszone. Schließlich herrschte in den ersten
Nachkriegsjahren in Osteuropa eine schreckliche antisemitische Atmosphäre,
insbesondere in Polen.
Eigentlich war Deutschland als Land der Mörder für Jüdinnen
und Juden keine Option, dauerhaft zu bleiben. Daher wollten die meisten
„Vertriebenen“ so schnell wie möglich nach Palästina
auswandern. Doch war dieser Plan nicht so einfach zu verwirklichen, da
Palästina bis 1948 das Territorium des britischen Empire war und
die Engländer verfolgten bereits während des Krieges eine sehr
restriktive Einwanderungspolitik, da die Konflikte zwischen Juden und
Palästinensern zunahmen. Zwischen 1945 und 1950 lebten in Deutschland
bis zu 200.000 jüdische DPs, eine unglaubliche Zahl. Ihre Lebensbedingungen
waren sehr schwierig: Sie mussten zumindest anfangs in Lagern leben, wo
sie hinter Stacheldraht und auch sonst unter erbärmlichen Verhältnissen
leben mussten. Nach der Staatsgründung Israel (1948) machten sich
dann viele auf den Weg ins das Land der Väter, aber immerhin rund
12.000 jüdische DPs wollten in Deutschland bleiben. Diese Zahl war
nicht überwältigend, aber ihre demografischen Merkmale waren
ideal für den Beginn eines neuen Lebens: Es handelte sich hauptsächlich
um junge Männer mit einem niedrigen Durchschnittsalter. Diese heirateten
zehnmal häufiger als andere Deutsche und bekamen viermal mehr Babys.
Allerdings gab es im Zusammenleben mit den schon immer hier lebenden Jüdinnen
und Juden immer wieder Spannungen: Beide Gruppen unterschieden sich in
ihrer Kultur, Sprache, Mentalität und Biographie. Die bereits schon
länger hier Lebenden waren größtenteils assimiliert und
oft mit Nichtjuden affiliiert. Die Juden aus Osteuropa hingegen, die Vertriebenen,
kamen oft aus einem traditionellen jüdischen Milieu, sprachen teil
jiddisch und hatten in ihren Synagogen eine andere Liturgie als die Deutschen.
Obwohl sich die meisten Juden in Deutschland also nicht unbedingt als
deutsche Juden fühlten und viele immer noch über Auswanderung
nachdachten, bestand ein wachsendes Bedürfnis. Sich landesweit zu
organisieren. Dies führte zur Gründung des „Zentralrats
der Juden in Deutschland“ (1950). Die Politik der Versöhnung
mit dem Staat Israel, die Bundeskanzler Konrad Adenauer vorantrieb und
die 1952 in ein Reparationsabkommen mündete, führte auch zu
einer Normalisierung des jüdischen Lebens in Deutschland. Jüdinnen
und Juden saßen nicht mehr „auf gepackten Koffern“.
Diese Entwicklung führte in den 1950er und 60er Jahren sogar zu einer
gewissen Rückwanderung. Ein nicht unbedeutender Teil von ihnen hatte
einen sozialistischen Hintergrund und wollte in der DDR beim Wiederaufbau
eines neuen Deutschlands helfen. Die jüdische Gemeinde in Westdeutschland
hingegen war von den 1950er bis 1970er Jahren eher geprägt durch
einen gewissen Konservatismus. Auch hängte man aus Vorsicht seine
Religionszugehörigkeit nicht unbedingt an die große Glocke.
In den 1980er Jahren hatten die jüdischen Gemeinden etwa 30.000 registrierte
Mitglieder, während die Gesamtzahl der Juden auf 40.000 bis 50.000
geschätzt wurde.
Doch im Laufe der Zeit ließ diese Zurückhaltung nach. Die im
Land geborene oder aufgewachsene Nachkriegsgeneration akklimatisierte
sich immer mehr. Man gründete eigene gemeinnützige Organisationen
wie Krankenhäuser, Pflege- oder Altersheime. Jüdische Schulen
und Universitäten gab es anfangs noch wenige. Eine Ausnahme war das
„Zentrum für Jüdische Studien Heidelberg“, die 1979
vom Zentralrat der Juden gegründet wurde. Da diese Institution anfangs
zwar Religionslehrer, aber noch keine Rabbiner ausbildete, mussten diese
aus den USA, aus Israel oder aus Osteuropa „importiert“ werden.
Was in den Nachkriegsjahren im deutsch-jüdischen Leben auch fehlte,
war die innere Vielfalt früherer Generationen. Jahrzehntelang gab
es in Deutschland nur „Einheitsgemeinden“, in die jede(r)
ging, egal wie fromm jemand war. Dass sich das Judentum ausdifferenzierte
zwischen Liberalen und Orthodoxen, wie das vor der Nazizeit üblich
war, dazu gab es lange Zeit nicht genug Jüdinnen und Juden in Deutschland.
Außerdem hätte eine solche Aufspaltung als Verlust der Solidarität
interpretieren können - etwas, was niemand wirklich wollte nach all
dem, was passiert war.
Von den 90er-Jahren bis heute
Die Zahl der Juden blieb viele Jahre lang mehr oder weniger
gleich. Erst in den 1990er-Jahren, als M. Gorbatschow den „Eisernen
Vorhang“ öffnete, kam Bewegung in die Szene: Zwar gingen die
meisten Juden aus der ehemaligen Sowjetunion nach Israel, aber immerhin
rund 60.000 kamen auch nach Deutschland. Durch diese sog. „Kontingentflüchtlinge“
leben heute wieder schätzungsweise 140.000 Jüdinnen und Juden
in unserem Land. Damit hat Deutschland nach Frankreich und Großbritannien
die drittgrößte jüdische Gemeinde in Westeuropa.
Zwar stellte die Integration der Neuankömmlinge die jüdischen
Gemeinden vor große Herausforderungen. Viele von ihnen kamen mit
leeren Händen und ohne solide Kenntnisse der deutschen Sprache, was
die Kommunikation mit den Alteingesessenen erschwerte. Auch war es um
das Wissen „der Russen“ über die eigene Religion eher
schlecht bestellt. Denn ein jüdisches Leben zu führen war in
der ehemaligen Sowjetunion, einem atheistischen Regime, nicht unbedingt
gerne gesehen. Doch aus dem Rückblick überwiegt die Freude über
diese Entwicklung, führte sie doch zu einer spürbaren Renaissance
des jüdischen Lebens in Deutschland. In vielen Großstädten
gibt es wieder eine interessante jüdische Kultur mit koscheren Geschäften,
Cafés und Theatern. Mittlerweile gibt es auch Hochschulen in Deutschland,
wo Rabbiner ausgebildet werden.
Ein Stück deutsch-jüdische Normalität kehrt zurück
- mehr fast 80 Jahre nach dem Holocaust. Die zunehmende Zahl jüdischer
Menschen hat das Leben der Gemeinden verjüngt und auch vielfältiger
gemacht. Es gibt neben den Einheitsgemeinden wieder liberale und orthodoxe
Kongregationen, stellenweise auch wieder konservative.
Auch hier in der Pfalz gibt es wieder eine rührige jüdische
Kultusgemeinde, deren Gottesdienste auch Nichtjuden - aus Sicherheitsgründen
leider nur mit Voranmeldung - besuchen dürfen. Sie verfügen
über einen Betraum in Kaiserslautern und in Speyer seit 2011 sogar
über eine neue Synagoge: Beith Schalom (= Haus des Friedens). Hier
kann man gelebtem Judentum begegnen, mit Menschen ins Gespräch kommen.
„Das jüdische Volk lebt“ - trotz allem! Das ist vermutlich
die wichtigste Botschaft am Ende dieses Überblicks über die
Geschichte des deutschen Judentums: Hitler hat nicht gesiegt. Es gibt
auch heute jüdisches Leben in unserer Mitte. Gott sei Dank!
Links zum Thema
F.M.
Hofmann: Zwei Miniaturen zum Gedenkjahr 1700 Jahre jüdisches Leben
in Deutschland
Bildquelle:
Stefan Meißner
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