Isaak Luria – Die Aktualität der jüdischen Mystikvon Wolfgang Pauly |
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Religionen und Philosophien erheben den Anspruch, unterschiedliche Antworten auf zentrale Fragen des Menschen zu geben. Diese Antworten wirken oft fremd und aufgesetzt. Meist sind sie allerdings einfach auch unbekannt und selbst wenn sie bekannt werden, bleiben sie doch meist unverstanden. Ein wichtiger Grund für dieses Missverhältnis zwischen Frage und Antwort kann darin gesehen werden, dass oft Antworten gegeben werden, ohne die vorausgehende Frage überhaupt zu kennen. Dies gilt auch für die mystischen Traditionen in vielen Kulturen. „Mystisch“ bedeutet dann für Außenstehende meist soviel wie „unverständlich“ oder eine nicht nachvollziehbare Geheimlehre, die nur wenigen Eingeweihten offen steht. Die Fragen und Antworten sind dabei so vielfältig wie die Menschen selbst. Nie kann ungeschichtlich und eindimensional von „der“ Frage und einer einzigen darauf passenden Antwort gesprochen werden. Allerdings scheint es eine Grunderfahrung zu geben, die viele Menschen ob jung oder alt, ob Frau oder Mann, ob arm oder reich bewegt. Sie artikuliert sich in vielen Formen. Ihre Konkretion ist abhängig von Kultur, Sprache und Geschichte. Der am 8. Juli 1885 in Ludwigshafen geborene und am 4. August 1977 in Tübingen gestorbene Philosoph Ernst Bloch hat diese Grunderfahrung expressionistisch kurz formuliert: „Ich bin. Aber ich habe mich nicht. Darum werden wir erst“ (Bloch 1977, S. 13). Diese Formulierung der Grunderfahrung ist allerdings auch ihrerseits klärungsbedürftig. „Ich bin“: Der Mensch ist da, er ist körperlich vorhanden. Er nimmt unterschiedliche Funktionen in Familie und Gesellschaft wahr, spielt seine Rolle im Beruf und in der Freizeit. Doch dieses Vorhandensein scheint ihn nicht zu befriedigen. Zumindest in Phasen der geplanten oder ungeplanten Ruhe wie beispielsweise im Urlaub oder bei Krankheit überfällt ihn ein Gefühl des Ungenügens und der Leere: „Aber ich habe mich nicht“. Er ist weder ganz bei sich noch ganz beim andern. Vorgefertigte Lebensschablonen und Denk- und Deutekategorien helfen nicht wirklich weiter. Erfüllung und Gelingen stehen noch aus: „Darum werden wir erst“. Interessant ist bei Bloch der zweifache Wechsel von „ich bin“ zum „werden wir erst“. Das statische Dasein des „ich bin“ geht zunächst über in einen dynamischen Entwicklungsprozess: vom Sein zum Werden. Darüber hinaus verlässt der Autor die Rückschau auf ein einzelnes Ich zugunsten der Sozialdimension: wir werden erst. Ein dynamisches Leben, offen für Weiterentwicklung und Veränderung, bereit zum Wagnis des Neuen und das alles nur zusammen mit anderen: dies scheint der Horizont, auf den Ernst Bloch mit seiner Deutung der menschlichen Grunderfahrung verweist. Genau da setzt auch die Mystik ein. Myo – „die Augen schließen“
lautet die sprachliche griechische Wurzel. Die Augen schließen,
um wach zu werden für das, was hinter / unter / jenseits des vordergründigen
Eindrucks liegt. Die Augen schließen, um dadurch den Blick für
Wesentliches zu öffnen. Die griechische Tragödie kennt die Figur
des „blinden Sehers“ Teiresias, der mehr sieht als diejenigen,
die offenen Auges in die Katestrophe laufen. So gibt sich Mystik auch
nicht mit tradierten Antworten aus Religion und Gesellschaft zufrieden,
nicht mit dem, was sozusagen „augenscheinlich“ da ist. Es
geht ihr vielmehr um eine Tiefendimension des Lebens, an die Katechismuswahrheiten
nicht heranreichen. So kann Mystik zur revolutionären Gegenbewegung
werden gegenüber Vergegenständlichung, Verobjektivierung und
Rationalisierung in Religionen und Theologien. Die insbesondere von Frauen
gelebte und gelehrte Mystik des Mittelalters ist ein Protest gegen die
Rationalisierung der männlich dominierten Scholastik der christlichen
Theologie. Der Sufismus kann verstanden werden als Gegenbewegung gegenüber
dem Gelehrtenstreit verschiedener muslimischer Denk- und Lebensschulen
wie der Sunniten und Schiiten. Die jüdische Mystik wehrt sich gegen
die Vergegenständlichung und Rationalisierung der rabbinischen Theologie.
Nicht zuletzt ist ihre Rezeption ein Gegenpol zur Haskala, der jüdischen
Aufklärung. Die Balance zwischen Kopf und Herz, zwischen Verstand
und Gefühl zu halten, war dabei nicht immer leicht. Die Kritik an
der Verkopfung der Religion konnte ihrerseits zu Irrationalität und
Undurchschaubarkeit führen. Die jüdische Mystik verdankt sich stark spätbiblischer apokalyptischer
Traditionen (vgl. Schäfer 2011, S. 15 – 162). Sie entfaltet
sich in Spanien und in der Provence ab dem 12. Jahrhundert in geographischer
und gedanklicher Nachbarschaft zu den christlichen Reformbewegungen der
Katharer und Albigenser. Verschriftet werden die in sich sehr unterschiedlichen
Traditionen im Sohar, dessen ältester Teil etwa 1275 entsteht (vgl.
Scholem 1988, S.171 – 223). Ähnlich wie der rabbinische Talmud
erfährt der Sohar zahlreiche redaktionellen Bearbeitungen. Als „Werk
im Prozess“ umfasst er schließlich fünf Bände. Als
1492 die Juden zusammen mit den letzten Muslimen von Isabella von Kastilien
und Ferdinand von Aragon, den Katholischen, aus Spanien vertrieben werden,
nehmen sie den Sohar mit in die Diaspora. 1558 bzw. 1560 erfolgen die
ersten Druckausgaben in Mantua bzw. in Cremona. Im Exil, in der Fremde
suchen sie in ihm nach Antworten: „Wie konnte dies geschehen?“
Das Exil selbst wird zur Metapher der existentiellen Grunderfahrung: „Ich
bin. Aber ich habe mich nicht“. Diese Erfahrung ist so unabgeschlossen
wie ihre jeweilige kultur- und geschichtsabhängige Deutung. Die „Kabbala“
sammelt die verschrifteten Erfahrungen und deren auf dem Sohar basierende
Deutungen. Um die eigene Identität in der Fremde zu wahren, schließt
man sich ab und verbleibt bei eigenen Traditionen: „Kabbala gilt
im doppelten Sinn als Geheimlehre: Zum einen behandelt sie die Grundfragen
und tiefsten Geheimnisse des menschlichen Dasein, der himmlischen Welt
und der Schöpfung, zum anderen wurde sie innerhalb eines ausgewählten
Kreise von Eingeweihten tradiert“ (Necker 2008, S.11). Eine der bedeutendsten Gestalten der jüdischen Mystik ist Isaak Luria. 1534 wird er in Jerusalem als Sohn des Salomo Luria Aschkenasi und einer aus dem sephardischen Judentum stammenden Mutter geboren. Östliches und westliches Judentum treffen sich somit in seiner Familie. Nach dem frühen Tod ihres Mannes zieht die Mutter zu ihrem Bruder nach Kairo. Hier wird Isaak später eine Cousine heiraten. Den Lebensunterhalt erwirbt er zeitlebens durch seine Tätigkeit als Kaufmann – noch drei Tage vor seinem Tod ordnet er seine Geschäftsbücher (vgl. Necker 2008 S.84). Vergleichbar den großen Propheten und Religionsstiftern zieht er sich dabei immer wieder in die Einsamkeit zurück, hier insbesondere auf die Nilinsel Djazirat al-Rawda. Sein Interesse gilt der tradierten Kabbala, insbesondere aber dem Sohar. Nach 1569/70 zieht er sich in das galiläische Sefad zurück, jenes wichtige Zentrum jüdischer Mystik, „in dem die neue religiöse Bewegung sich am großartigsten kristallisierte und von der aus sie ihren Siegeszug durch die jüdischen Gemeinden aller Länder der Diaspora angetreten hat“ (Scholem 1988, S.275f). Isaak Luria nimmt hier Unterricht bei den angesehenen Rabbinern David ben Shlomo ibn Zimra und bei Bezalel Ashkenasi. Schnell bildet sich um ihn ein Schülerkreis. Insbesondere Chajim Vital und Josef ibn Tabal sammeln die Worte ihres Lehrers und beanspruchen dabei für ihre durchaus unterschiedlichen Aufzeichnungen und deren Interpretationen die Autorität Isaak Lurias. Dieser selbst – auch dies ein bei großen Gestalten der Religionsgeschichte bekanntes Phänomen – hat selbst keine größeren schriftlichen Aufzeichnungen hinterlassen. „Er hatte die Gabe der Feder nicht. Als einmal einer seiner Schüler, die in ihm ein Wunder Gottes verehrt zu haben scheinen, ihn fragte, warum er kein Buch über seine Lehre verfasse, in dem er alles systematisch darstelle, antwortete er: ´Das ist nicht möglich, weil alles miteinander verbunden ist. Kaum öffne ich meinen Mund, um die Dinge zu sagen, so ist es mir, als öffneten sch die Dämme des Meeres und überfluteten alles. Wie soll ich also das sagen, was meine Seele empfangen hat, und wie soll ich es gar in einem Buch niederschreiben?´“ (Scholem 1088, S.278). Später wird auch der bekannte litauische Gelehrte Salomon Maimon (1754 – 1800) sagen: „Von Rabbi Isaak Luria selbst hat man einige unzusammenhängende Schriften. Sein Schüler aber, Rabbi Chaim Witall, hat ein großes Werk unter dem Titel „Ez Chaiim“ („der Baum des Lebens“) geschrieben“ (Necker 2008, S. 30). Ohne seine Schüler wäre Luria heute vielleicht weitgehend vergessen. Allerdings unternehmen eben diese Schüler auch viele Systematisierungen seiner Gedanken, die möglicherweise in Lurias Denken so gar nicht angelegt ist. Zudem tragen Schüler – bewusst oder unbewusst – zur Legendenbildung bei der Darstellung ihres Lehrers bei. Auch legen sie ihrem Lehrer deutende Hoheitstitel zu, wie dies auch in der christlichen Tradition mit der Zuschreibung des Messiastitels für Jesus von Nazareth oder durch seine Nennung als Sohn-Gottes bekannt ist. Luria wird so zum „Ari“, zum Löwen, wenn dies auch nicht als Selbstbezeichnung überliefert ist. So tragen die beiden Sammelbände mit Sprüchen Lurias folgerichtig die Titel „Toldot ha-Ari“ („Geschichte bzw. Sprüche des Löwen“) und „Shivhe ha-Ari“ (Lobpreisungen des Löwen“. Auch ohne sich die Versuche der Systematisierung und dadurch auch die Verobjektivierung durch den Schülerkreis zu eigen zu machen, kann man dem Urteil des großen Kenners der jüdischen Mystik, Gershom Scholem (1897 – 1982), zustimmen, der von Isaak Lurias Denken sagt: „eine der erstaunlichsten und weitest reichenden mystischen Ideen, die in der Kabbala je gedacht worden sind“ (Scholem 1957, S.285). Lurias Gedanken kreisen um die Begriffe Gott, Schöpfung, Mensch und Versöhnung. Dabei sind seine Gedanken nie abstrakt, sondern sie sind von praktischer Lebenserfahrung gesättigt. Wir finden bei ihm gerade keine lehr- und lernbaren Katechismuswahrheiten, sondern ausgesprochen wird in ihnen die „Dialektik der menschlichen Grunderfahrungen“ (Necker 2008, S.77).
Zentrale GrundgedankenSchöpfung Die klassische Antwort auf diese Fragen bietet im Christentum die Lehre von einer „creatio ex nihilo“, der Lehre von einer Schöpfung aus dem Nichts. Der Grund und das Material der Schöpfung liegen ausschließlich in und bei Gott. Außer Gott gab es zunächst nichts. Alles, was ist, verdankt sich ausschließlich seinem Schaffen. Die katholische Kirche erhebt diese Schöpfungsvorstellung zum offiziellen Ausdruck ihrer Lehre: „Wir glauben, dass Gott zum Erschaffen nichts schon vorher Existierendes und keinerlei Hilfe benötigt. Die Schöpfung ist auch nicht zwangsläufig aus der göttlichen Substanz ausgeflossen. Gott erschafft in Freiheit ´aus nichts´“ (Katechismus der katholischen Kirche, 1993, S. 109, Nr. 296). Die vielfältigen Ausgestaltungen dieser Antwort prägen auch heute noch die Vorstellung vieler Menschen über die Entstehung von Kosmos und Mensch: alles muss einen Anfang gehabt haben, von nichts kommt nichts. Wenn allerdings die katholische Kirche lehrt: „Der Glaube an die Schöpfung ´aus nichts´ wird in der Schrift als eine verheißungs- und hoffnungsvolle Wahrheit bezeugt“ (Katechismus der Katholischen Kirche 1996, S.109, Nr. 297), dann irrt sie. Im ganzen Kontext der Bibel wird lediglich ein einziges Mal der Ausdruck von einer „Schöpfung aus dem Nichts“ erwähnt und zwar im zweiten Buch der Makkabäer (2 Makk 7,28). Und selbst in diesem eher randständigen und in griechischer Sprache geschriebenen Spätwerk der hebräischen Bibel hat dieser Ausdruck eine andere Funktion und Bedeutung, als die Entstehung der Welt zu klären. In dem Text wird erzählt, dass in den Kämpfen Israels um seine staatliche und kulturelle Identität im zweiten vorchristlichen Jahrhundert viele Menschen gestorben sind. Ein junger Mann fragt nach dem Tod seiner Brüder in diesem Freiheitskampf seine Mutter, ob auch er sich der Aufstandsbewegung der Makkabäer anschließen soll, selbst wenn auch ihm der Tod drohe. Die Mutter tröstet ihren Jüngsten und sagt: „Ich bitte dich, mein Kind, schau dir den Himmel und die Erde an; sieh alles, was es da gibt, und erkenne: Gott hat das aus dem Nichts erschaffen“ (2 Makk 7, 28ff). Die Rede der Mutter von einer „Schöpfung aus dem Nichts“ möchte hier keine Weltentstehungsformel geben. Sie will vielmehr Trost und Hoffnung vermitteln: siehe, Gott kann dort, wo keine Hoffnung besteht, wo alles als nichts und als sinnlos erscheint, neues Leben schenken. Dass diese biblische Erzählung gerade nicht als Ausgangspunkt einer theologischen Schöpfungslehre im Sinne einer „creatio ex nihilo“ verwendet werden kann, zeigt allein schon die Tatsache, dass eine solche Lehre in den ersten 1200 Jahren der christlichen Theologiegeschichte kaum ausgebildet wurde. Erst im 13. Jahrhundert formuliert das 4. Laterankonzil 1215 diese Lehre als für den christlichen Glauben verbindlich. Dies ist wiederum zeitgeschichtlich nur durch den Kampf Roms gegen die Bewegungen der Katharer und Albigenser zu verstehen, die zwei mehr oder weniger gleich mächtige Ursprungsgewalten von Gut und Böse, von Gott und dem Teufel postulierten. Hier gilt die kirchliche Lehrmeinung: Gott ist einer und als solche ist er der Ursprung von allem. Außer ihm gab es nichts, und aus diesem „Nichts“ hat er folgerichtig alles erschaffen (vgl. Pauly 2008, S.41–71). Isaak Luria setzt in seinen Gedanken andere Akzente. Vor der eigentlichen Schöpfung bedurfte es nach ihm einer besonderen Vorbereitung. Ganz konsequent das Bild zu Ende gedacht von einem Gott, der alles in allem ist und folgerichtig auch alles ausfüllt, stellt sich die Frage, wo denn überhaupt Platz für eine Schöpfung sein könnte. Lurias Schüler und Interpret Samuel Vital beschreibt dies so: „Bevor irgendeine Emanation hervorkam, gab es nur das einfache göttliche Licht, es erfüllte die ganze Wirklichkeit, kein Platz war frei, nirgendwo ein leerer Raum, sondern alles erfüllt von diesem einfachen des En – Sof. Es gab weder Anfang noch Ende, alles war vielmehr ein einziges undifferenziertes Licht. Dieses Licht heißt En – Sof“ (Necker 2008, S.80). En – Sof als Ausdruck für eine Gottheit, die alles in allem ist, reine Ununterschiedenheit. Mit naturwissenschaftlichen Begriffen verdeutlicht: Energie ohne Form, oder plastisch ausgedrückt: „Ursuppe“ ohne Differenz. Der erste Akt der Schöpfung musste folglich darin bestehen, erst einmal Raum für die zukünftige Schöpfung zu schaffen. Wenn die Gottheit aber bereits überall ist, gibt es keinen Freiraum, in den sie sich zurückziehen und so Platz für die Schöpfung schaffen könnte – außer dass er sich in sich selbst zurückzieht. Genau dieser Gedanke des „Zimzum“, des Zurückziehens auf sich selbst, wird zur Vorbedingung der lurianischen Schöpfungserzählung. Selbst-Rückzug, Selbst-Verschränkung und schließlich Selbst-Beschränkung beschreiben die Details: „Der erste aller Akte ist also kein Akt der Offenbarung, sondern ein Akt der Verhüllung und Einschränkung. Erst im zweiten Akt tritt nun Gott mit einem Strahl seiner Wesenheit aus sich hinaus und beginnt seine Offenbarung oder seine Entfaltung als Schöpfergott in jenem Urraum, den er sich selbst geschaffen“ (Scholem 1988, S. 287). „Zimzum“ aber ist mehr als die mythologische Umschreibung der Vorgeschichte der Schöpfung. Sie ist Ausdruck einer Lebenswirklichkeit: in ihr spiegelt sich das Selbstverständnis Lurias von dem Leben der Juden in der Diaspora wider, ein Judentum, das nach der Vertreibung aus Spanien 1492 wie so oft in früheren Zeiten und auch später leben muss in einer Welt, aus der sich Gott zurückgezogen hat. „Zimzum“ hat aber auch Konsequenzen für das Verständnis Gottes selbst: war er im Weltbild des Mittelalters für alles zuständig und füllte so gleichsam alles aus, so zieht er sich am Beginn der Neuzeit gleichsam zurück. Er schafft Frei-Raum für die Schöpfung, nicht zuletzt für den Menschen. Jetzt entsteht die Möglichkeit des Werdens, der Entwicklung, der Geschichte, während bisher alles geordnet und scheinbar unveränderlich beim Alten blieb. Der Mensch steht nicht im ungeteilten Licht der Gottheit. Sein Platz ist in der Zweideutigkeit, der Ambivalenz. Er hat durch den Rückzug Gottes die Freiheit der Entscheidung – ist aber gleichzeitig zu eben dieser Freiheit und zu verantwortungsvollem Handeln verurteilt. Insofern spricht sich bereits hier in Lurias Gedanken der Bruch zwischen mittelalterlichem und modernem Weltbild aus. Warum aber konnte oder musste es gar zur Schöpfung kommen? Die Lichtmetapher Lurias zeigt den Weg. Wenn bisher die Gottheit ununterscheidbares Licht war, dann stellt sich die Frage, was denn Licht sein könnte oder einen Gegenstand, ohne Materie, in dem sich das Licht brechen und spiegeln könnte. Licht ohne Widerschein ist nicht erkennbar, es ist nichts. Insofern kann hier eine Rede von einer Schöpfung aus Nichts eine sinnvolle und nachvollziehbare Interpretation erfahren: nicht nur die Schöpfung, auch Gott selbst ist an sich „Nichts“. Erst die Begegnung von Gott und Schöpfung, ihre Relation, verschafft beiden Existenz und Erfahrbarkeit. Die Gottheit braucht die Schöpfung und den Menschen, um zu sein, die Schöpfung und der Mensch brauchen die Gottheit, um sinnvoll und erfüllt zu sein. Luria konkretisiert dies in dem Bild vom „Adam Kadmon“ (vgl. auch die ähnliche Licht -Metapher in der islamischen Mystik des Sufismus, Schimmel 1995, S. 281f).
Der im Menschen eingeschlossene göttliche Funke führt dabei keineswegs zu einer Weltabwendung und zur Verachtung des Leibes und der Materie. Der in der lurianischen Mystik auftauchende Gedanke einer Seelenwanderung besagt, dass ein Mensch ohne Leib und Welt gerade kein Mensch ist: „Der schlimmste Zustand für die Seele ist ihr Ausschluss aus dieser Welt, wenn sie unerlöst und nackt in der Welt des Tohu umherirren muss, wenn ihre Sünden so groß waren, dass ihr eine Wiederverkörperung nicht erlaubt ist“ (Necker 2008, S.148). Die Verbindung von lichtvoller Seele und materiellem Leib ist somit gerade keine Bestrafung, kein Zustand, aus dem man Erlösung erhofft. Gelingen, Heil, Himmel gibt es nur in Verbindung von Geist und Materie, von göttlichem Licht und irdischer Materie. Die Christen beschreiben diese Abwehr eines leibfeindlichen Dualismus mit dem Bild von einer leiblichen Auferstehung der Toten.
Die Folgen dieses Bruches beschreibt Necker anschaulich anhand lurianischer Texte: „An den Bruchstücken (ha-shvarim“ bleib ein Teil des Lichts wie Tropfen oder Funken (nizozot) zurück. Das gleicht einem Gefäß, das voller Öl war, und zerbrach. Das Öl wurde verschüttet, aber an den Bruchstücken blieb etwas Flüssigkeit des Öls zurück, sie glichen Tropfen oder Funken. Als jene Bruchstücke auf den Boden der Welt der Herstellung (asija) hinabfielen, entstanden aus ihnen die vier Elemente – Feuer, Luft, Wasser und Erde – aus denen sich die vier Ebenen der mineralischen, pflanzlichen, tierischen und menschlichen Formen entwickelten. Als alle Dinge Gestalt angenommen hatten, blieben einige der Tropfen in diesen vier Bereichen verborgen“ (Necker 2008, S.126; vgl. zur Metaphorik der Lichtfunken auch Ariel 1993, S. 228 – 260). Alles ist somit von der Ambivalenz von Licht und Dunkel, von Heil und Unheil betroffen: Öl und Scherben, Licht und Materie sind miteinander verwoben. Vielfältige Beispiele können dieses Bild als Ausdruck menschlicher Grunderfahrungen aufzeigen: Das Messer kann für einen Menschen ein Hilfsmittel oder ein Mordinstrument sein. Selbst ein menschlicher Kuss kann einerseits der Ausdruck einer tiefen persönlichen Beziehung zwischen Mensche nsein, er kann aber wie der Kuss des Judas im Ölberggarten zum Zeichen des Verrates an dem Freund Jesus werden. Die Gebrochenheit des Lebens ist grundsätzlich. Der Bruch ist total, er umfasst auch die Schöpfung, die nach Paulus nach Erlösung seufzt (vgl. Röm 8,22 ff). Es ist wenig sinnvoll, den letzten Grund für diese den gesamten Lebensvollzug des Menschen prägenden Zweideutigkeit erfragen zu wollen: „Immer blieb natürlich an diesem Versuch, die Entstehung des Bösen oder, besser, dessen Mythos rational zu erklären, irgend etwas Unbefriedigendes zurück, ein unauflöslicher Rest, wie bei allen Versuchen, die Frage unde malum? zu beantworten“ (Scholem 1988, S.294). Alle existentiellen Fragen des Menschen lassen sich nicht rational beantworten. Deswegen werden diese auch dem Bereich des Transzendentalen, des Jenseits zugezählt. Transzendent, jenseits aber hier gerade nicht verstanden im Sinne einer spekulativen Theologie oder Metaphysik, sondern eben im ganz konkreten Sinne eines jenseits des Berechenbaren oder instrumentell-technisch Machbaren. Insofern bewahrheitet sich auch hier die häufig bei unvorhergesehenen Sterbefällen ausgesprochene Wahrheit jenseits ihrer mythologischen Sprache: „Gottes Wille kennt kein warum“. Begründetes Fragen versagt, trotz seiner unbestrittenen Leistung im Bereich der Technik und Weltbeherrschung, wenn es um existentielle Fragen nach Heil oder Unheil, nach Gelingen oder Misslingen menschlichen Lebens geht. Der Mensch existiert im Zustand der „Vermischung“ von Licht und Dunkelheit, von Geist und Geistlosigkeit, von Heil und Unheil. Auch die religiöse Welt- und Lebensdeutung vollzieht sich zusammen mit jeder religiös deutbaren Praxis mitten in dieser Ambivalenz inmitten dieser Welt, an dieser Welt und mit dieser Welt. Isaak Lurias Bild vom „Bruch der Gefäße“ bietet somit ein anschauliches Bild dieser existentiellen Wahrheit. Das von ihm am eigenen Leib erfahrene Exil wird so zur Metapher menschlichen Daseins. Sehr anschaulich dargestellt hat diese Grunderfahrung der Maler Anselm Kiefer in seinem Bild „Shebirat Ha Kelim“ von 1990. Der Arbeitskittel des Malers versammelt in den Taschen die zahlreichen (Glas- und Spiegel-) Splitter des zerbrochenen En – Sof. Der Alltag, die Arbeit und ganz besonders die Kunst sind Orte, wo sich Elemente des ursprünglichen, himmlischen Zustandes finden lassen (vgl. Kiefer 2011; zu den zahlreichen Bezügen von Kiefers Werk auf die jüdische Mystik vergleiche auch seine Dankesrede zur Verleihung des Friedenspreises des deutsches Buchhandels S. 134 - 143).
So können auch scheinbar banale Alltagserfahrungen zum „Tikkun“ beitragen. Isaak Luria erwähnt beispielsweise das Essen: „ Bei allem, was der Mensch tut, erreicht er einen Tikkun, sogar beim Essen. Der Mensch soll nicht denken, dass der Heilige, er sei gepriesen, will, dass der Menschen in dieser Welt nur zu seinem körperlichen Vergnügen isst, nur um seinen Bauch zu füllen. Vielmehr soll er einen Tikkun erreichen“ (Luria nach Necker 2008, S. 159). Wenn Essen mehr ist als Kalorienzufuhr, wenn menschliches Essen wirklich ein Grundvollzug des Lebens ist und er sich gerade darin vom Fressen der Tiere unterscheidet, dann leistet er auch hier einen wichtigen Beitrag zum „Tikkun“, zur Erfahrung paradiesischen Lebens unter irdischen Bedingungen. Gerade in der jüdisch - christlichen Tradition finden sich zahlreiche Beispiele für ein Essen, das zum Gottesdienst werden kann (vgl. zum Beispiel die Gemeinschaftsmähler der Essener, die Familienliturgie des Seder-Abends oder im Christentum das eucharistische Mahl). Es bleibt die Frage, ob „Tikkun“ wirklich „Wiederherstellung“ bedeutet. „Wiederherstellen des Urzustandes“, alles „auf Null“ bringen, heißt letztlich das Auslöschen von Geschichte: so tun, als ob es den Bruch, die Ambivalenz nie gegeben hätte. Menschliches Handeln wäre dann nur Mittel zum Zweck der Re-Formation. Ein an der Aufklärung orientiertes dialektisches Denken könnte hier eine Alternative zur „Wiederherstellung“ des Urzustandes bieten: im Dreischritt von These – Antithese – Synthese könnte dies bedeuteten: Dem Urzustand des ununterscheidbaren En – Sof folgt die Ambivalenz der Schebirath ha-Kelim. Aufgabe des Menschen wäre demnach gerade nicht die Wiederherstellung des ungebrochenen Lichts. Er soll vielmehr inmitten der Gebrochenheit die zerstreuten Lichtfunken bergen und sammeln. „Tikkun“ wird zu vermittelnden Synthese: Leben inmitten von Tod, Ewigkeit inmitten der empirischen Zeit, und inmitten der geschichtlich und gesellschaftlich verfassten Wirklichkeit des Menschen die Möglichkeit „himmlisch“ guter Erfahrungen. Bei dieser Dialektik bleibt die Bewegung, die Geschichte, ja das Leben selbst jeweils als Eigenwert erhalten. In dieser Deutung ist Raum für Neues, es bleibt nicht bei einer Wiederherstellung des Alten. Ein diesem dialektischen Ansatz verpflichtendes Lebens wäre nicht gleichzusetzen mit der Tat eines „homo faber“, der gleichsam sein Leben als machbare und leistbare Größe versteht. Es entspricht vielmehr einem Suchen der Funken, die auch trotz Gebrochenheit und Ambivalenz leuchten und sich finden lassen. Gershom Scholem deutet eine solche Interpretation des lurianischen „Tikkun“ an, wenn er fragt, welche Aufgabe denn dem Messias bleibt, wenn dieser am Ende der menschlichen Geschichte und nach dem Handeln aller Menschen am Ende der Zeiten kommt: „Das Erscheinen des Messias ist daher für Luria nicht anderes als das Siegel, das auf den Abschluss dieses Prozesses der Wiederherstellung, Tikkun, gesetzt wird“ (Scholem 1988, S. 300f). Statt „Wiederherstellung“ wäre es insofern besser, das Neue der Synthese von Geschichte und Unvergänglichkeit, von ewigem, zeitlosem Leben mitten in der vom vielfältigen Tod bedrohten Lebenswirklichkeit zu benennen. Das menschliche Leben selbst bekäme so nicht nur eine im wahren Sinn des Wortes die Welt verändernde Bedeutung. Es erhielte – wie das Siegel des Messias zeigt – selbst göttliche Qualität. Der Blick zurück auf das En – Sof würde so zum „Wunschtraum des Endes“ (Bloch, 4. Aufl. 1977, Bd. III, S. 14599. Diesen Wunschtraum praktisch zu leben in der Gegenwart und in ihm gleichzeitig einen wandernden und Orientierung verheißenden Horizont zu erkennen, ist dann bleibende Aufgabe des Menschen (vgl. Pauly 2013).
Text mit freundlicher Erlaubnis des Autors Bild: Wikipedia Commons (gemeinfrei)
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Necker: Einführung in die lurianische Kabbala Weiterführende Literatur Ariel, David S.: Die Mystik des Judentums. Eine Einführung. München
1993
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