Der Kirchenkampf in der Protestantisch-evangelisch-christlichen Landeskirche der Pfalz, 1933-1945

von Rolf-Ulrich Kunze

 


Landesbischof Ludwig Diehl
(Gemälde im Großen Sitzungsaal im Landeskirchenrat)

 

,Kreuz und Hakenkreuz’ in der Pfalz: Voraussetzungen

Die Entwicklung der Pfälzischen Landeskirche in der NS-Zeit weist Besonderheiten auf.[1] Sicherlich war die positive Einschätzung des Nationalsozialismus in der Pfälzischen Landeskirche stark beeinflußt durch die in der Grenzlandlage besonders spürbaren außenpolitischen und wirtschaftlichen Rahmenbedingungen, jedenfalls stärker und langanhaltender als in anderen deutschen Landeskirchen. Eine mentalitätsprägende Rolle spielte ferner der auf Konsens zwischen den theologiepolitischen Richtungen basierende Unionscharakter der Landeskirche,[2] die sich offiziell als „protestantisch-evangelisch-christliche“ bezeichnete. Unter Gauleiter Josef Bürckel (1894-1944),[3] der selbst Katholik war und zumal in Fragen der Saarpolitik die loyale Kooperation der traditionell ,reichstreuen’ Protestanten in seinem Herrschaftsbereich zu schätzen wußte, war die nationalsozialistische Politik gegenüber der Landeskirche der Pfalz tendenziell, wenn auch nicht strukturell moderater als in anderen Gebieten; so wurden z.B. von 1933 bis 1945 vergleichsweise wenige evangelische Pfarrer verhaftet. Hinzu kam die traditionell scharfe, kirchenpolitisch und politisch überformte konfessionelle Polarisierung.[4]

Die Wahlergebnisse der Pfalz zeigen, daß seit 1928 im protestantischen Volksteil eine politische Wanderung von der DNVP zur NSDAP stattfand, während ein namhafter Zustrom von Katholiken erst nach Abschluß des Reichskonkordates im Juli 1933 einsetzte. Die NSDAP in der Pfalz einschließlich der Führungskader mit Ausnahme des Gauleiters war anfangs überwiegend evangelisch geprägt gewesen, ebenso wie die frühen NSDAP-Mitglieder, in der je nach vorherrschender Konfession unterschiedlichen Dichte des Ortsgruppennetzes der Partei kann ein zusätzlicher Hinweis gesehen werden. Schon vor 1933 erzielte die NSDAP in den überwiegend protestantischen Teilen der Pfalz überdurchschnittlich gute Wahlergebnisse.[5] Auch wenn sich der konfessionsgeschichtliche Flickenteppich der Pfalz mit seinen ausgeprägten konfessionellen Abgrenzungsmentalitäten im Verhältnis zur NSDAP abbildete, kann aus dem konfessionell markant verschiedenen Wahlverhalten – dies übrigens eine Gemeinsamkeit zwischen der Pfalz und anderen vorwiegend katholischen Bereichen Deutschlands im Westen und Süden – nicht ohne weiteres auf strukturelle Widerständigkeit oder generelle Systemträgerschaft nach 1933 geschlossen werden. Gleichwohl lagen die Anschauungen vieler evangelischer Theologen der Pfalz schon lange vor 1933 auf der Linie eines protestantischen ,Normal-Nationalismus.’[6] Auf diesen gründend, vertraten allerdings nur einige randständige Extremisten ein ,arisch-artgemäßes’ Christentum, eine ,heldische’, neuheidnische Religiosität ohne das Alte Testament. Eher konsensfähig schien demgegenüber die ,hermeneutische’ Einstellung, im Nationalsozialismus die Vollendung der lutherischen Reformation zu sehen – aber auch das war keineswegs genuin ,pfälzisch.’ Einen Einblick in diese Mentalitäten vermittelt eine von Oberkirchenrat D. Bergmann 1960 in Speyer herausgegebene dreibändige Dokumentensammlung.[7]

Geleitet wurde die Vereinigte protestantisch-evangelische-christliche Kirche der Pfalz als Konsensusunion seit dem 1. Juli 1930 von Kirchenpräsident Reichsgerichtsrat D. Dr. Jakob Keßler. Politisch gehörte die Pfalz als ,Bayern links des Rheins’ zum Freistaat. 1925 war ein Kirchenvertrag zwischen der Bayerischen Landeskirche ,rechts des Rheins’ und der Pfälzer Landeskirche abgeschlossen worden, für die seit 1920 eine neue Kirchenverfassung galt. Von den 312 Pfarrstellen waren aufgrund des Versailler Vertrages 14 an das Saargebiet gefallen, blieben aber in der Obhut des Pfälzer Landeskirchenrats[8] Antibolschewismus, ,nationale Gesinnung’ und stark ausgeprägter Antikatholizismus waren die Normalität bei evangelischen Pfarrern auch in der Pfalz. Im November 1930 fand in Ludwigshafen die erste kirchliche ,Hitler-Trauung’ statt. Ein Artikel der sozialdemokratischen ,Pfälzischen Post’ vom 10. November 1930 hat diese frühe Demonstration evangelisch-nationalsozialistischen Einstellungsverhaltens beschrieben:

„Es war schon längst bekannt, daß in Ludwigshafen verschiedene protestantische Pfarrer stark mit der Hitlerbewegung sympathisieren. Daß es aber möglich wäre, in einer Arbeiterstadt wie Ludwigshafen die Kirche für ein hakenkreuzlerisches Theater herzugeben, das hat kein Mensch geglaubt. (...) Diese Hochzeit sollte nun zu einer Demonstration werden. Ca. 50 Hitler in vollem Wichs und mit aufgerollter Hakenkreuzfahne zogen am Samstagnachmittag vor die Apostelkirche Nord, ließen ihre militärischen Kommandos ertönen und bildeten Spalier, ganz als ob ein Hohenzollernprinz käme. Die beiden protestantischen Pfarrer Kleinmann und Knecht wurden mit Hitlergruß empfangen und erwiderten diesen Gruß. (...) In den Bänken und vor dem Altar nahmen die Hitler Platz und auf dem Chor standen Hitlerjünger Ehrenwache. Dann kam Pfarrer Knecht. (...) Er warf weder das Brautpaar noch seine uniformierten Anhänger hinaus, sondern nahm die Trauung unter der Hakenkreuzfahne sehr salbungsvoll vor. (...) [S]icher hätte Pfarrer Knecht keine Trauung unter der roten Fahne abgehalten, erst recht nicht, wenn auf dieser Fahne der Sowjetstern gewesen wäre und die Rot-Frontkämpfer in vollem Wichs erschienen wären.“[9]]

Der Schriftleiter des „Pfälzischen Pfarrerblattes“, Kirchenrat Friedrich Wilhelm Risch, hatte sich schon 1932 mit dem Bekenntnis eines jungen Pfarrers zur NSDAP kritisch auseinandergesetzt und vor Politisierung der Kirche und Rassenideologie gewarnt. Ebenfalls 1932 stellte Pfarrer Oswald Damian aus Pirmasens das Schlagwort vom positiven Christentum durch Vergleich mit anderen NS-Zitaten als das heraus, was es tatsächlich war: eine politische Leerformel zum Zweck der Integration bzw. zumindest der Nichtabschreckung kirchlich Gebundener in die ,nationale Bewegung’ und den NS-Staat ohne jeden inhaltlichen Bezug zur christlichen Botschaft oder kirchlichen Organisation. Pfarrer Damian wandte sich mutig gegen den ,Zuchtgedanken’ der Rassenideologie und gegen die Euthanasie, außerdem übte er scharfe Kritik an der Rechtfertigung des Krieges durch national eingestellte Theologen.[10]

 

Selbstgleichschaltung, Anpassung, Autonomiebehauptung

Drei theologie- und kirchenpolitische Gruppierungen beherrschten die Landessynode: der liberale Protestantenverein unter dem Synodalpräsidenten Dr. Richard Müller-Mattil, einem Juristen; die Positive Vereinigung der etwa gleichstarken kirchlich Konservativen unter dem OLG-Präsidenten Heinrich Dinger; die Deutschen Christen, seit Frühjahr 1933 unter Pfarrer Ludwig Diehl, dem späteren Landesbischof; die kleine Gruppe der Religiösen Sozialisten unter Pfarrer Georg Wambsganß, Dammheim. Aufgrund der strategischen Pattsituation von Liberalen und Positiven neigten letztere in der Pfalz vor 1933 bemerkenswerterweise zur Kooperation mit den Religiösen Sozialisten gegen die Liberalen.[11] Angesichts dieses wenig ,lagerbewußten’ Verhaltens war es nicht verwunderlich, daß die Landessynode im Juni 1932 für eine Verschiebung der anstehenden Kirchenwahlen plädierte, um eine Übertragung der politischen Polarisierung auf die kirchlichen Verhältnisse zu vermeiden. Nicht zuletzt angesichts gruppenübergreifender Sympathien für die Sache der evangelischen Nationalisten – abgesehen von den Religiösen Sozialisten – erwies sich diese Einstellung jedoch als illusionär. In der Kirchenregierung kam die erforderliche Zweidrittelmehrheit für eine Wahlverschiebung nicht zustande. Bis Ende Mai 1933 stand die noch nicht endgültig selbständig organisierte Pfälzische DC-Gruppe unter der Führung des Karlsruher OKR und Deutschen Christen Fritz Voges. Dieser setzte sich für die Ernennung des alten ,Parteigenossen’ Diehl zum Landesleiter ein, dessen positive Einstellung er schätzte und der zudem seit Anfang 1933 Vorsitzender des Pfälzer Pfarrervereins war.[12] Mitte März gab Kirchenpräsident Keßler bekannt, daß sich die Kirchenparteien, abgesehen von den Religiösen Sozialisten, auf eine Einheitsliste für die Synodalwahl geeinigt hatten. Die Religiösen Sozialisten lösten sich Ende März in der Pfalz auf.[13] Damit erübrigte sich die Wahl. In den evangelischen Kirchen wurde auch in der Pfalz der Tag von Potsdam, der 21. März 1933 und das Lutherfest 1933 begangen. In Speyer marschierten SA und SS im Umzug mit und der Festredner betonte die Einheit mit der ,nationalen Bewegung’; die Kundgebung schloß mit ,Ein feste Burg’ und einem ,Sieg Heil’ auf den ,Führer’.[14] Die Gauleitung unter Bürckel forcierte nun die Gleichschaltung der Landeskirche u.a. über die NS-Ortsgruppenleiter, wertete die DC-Organisation durch ihre Unterstützung auf und bestand auf dem deutschchristlichen Charakter der Landessynode. Kirchenpräsident Keßler zeigte sich durch die Direktheit der ,weltanschaulichen’ Intervention zunehmend irritiert, entzog sich dem Gleichschaltungsprozeß aber nicht.[15] Der liberale Protestantenverein war seit Mai 1933 kirchenpolitisch nicht mehr tätig und empfahl den Mitgliedern den Anschluß an die DC-Bewegung. Anders als in Baden kam es in der Pfalz jedoch nicht zu einer Auflösung und einem korporativen Beitritt der Liberalen zu den evangelischen Nationalsozialisten. Unter dem Eindruck des Sportpalastskandals lehnte die Mitgliederversammlung des Protestantenvereins die Selbstauflösung und das Aufgehen in den DC ab.[16]

Anders als in Baden erwies sich die Kooperation der pfälzischen Positiven mit den DC nicht als vorübergehendes Phänomen. Mitte Mai 1933 empfahl die Positive Vereinigung ihren Mitgliedern den DC-Beitritt. Bei den Kirchenwahlen vom 23. Juli 1933 gab es lediglich eine Wahlliste unter dem Namen ,Glaubensbewegung Deutsche Christen’, die mangels Konkurrenz als gewählt galten. Vom Frühjahr bis Spätsommer 1933 agitierte der ursprünglich in der Landeskirche der Pfalz beheimatete Aachener Pfarrer Friedrich Grünagel unter den pfälzischen Pfarrern für einen Anschluß ihrer Landeskirche an die rheinländische Kirchenprovinz. Während die rheinischen DC die Initiative zumindest publizistisch unterstützten, fand sie bei der pfälzischen Kirchenleitung und Pfarrerschaft kein Gehör.[17] Obwohl der Sportpalastskandal in der Pfalz eine massive Austrittswelle aus der DC-Bewegung bewirkte,[18] der zwischen Frühjahr und Herbst 1933 die Mehrheit der pfälzischen Pfarrer angehört hatte,[19] verstanden sich die pfälzischen Positiven nicht als Widerlager der in Berlin zu Tage getretenen Tendenzen. Anders als der liberale Protestantenverein löste sich die Positive Vereinigung der Pfalz – wenn auch nicht ohne Widerspruch aus den eigenen Reihen – am 17. Dezember 1933 auf. Das Vereinsvermögen erbten die DC. Die Autonomiebehauptung der theologischen und kirchlichen Milieus in der Pfalz war also, anders als in Baden, nicht von positiven, sondern liberalen Theologen getragen. Den Prozeß der Eingliederung der Pfälzer in die Reichskirche versuchte der kurz vor der Pensionierung stehende Kirchenpräsident Keßler im Frühjahr und Sommer 1934 dilatorisch zu behandeln, jedoch ohne Erfolg. Die Landessynodalen beschlossen auf einer Sitzung am 10. Juni 1934 in Kaiserslautern gegen die Stimme Pfarrer Richard Bergmanns, des zu den DC übergetretenen vormaligen Schriftführers des liberalen Protestantenvereins, die Eingliederung, auf die Rechtswalter August Jäger auch drängte. Keßler trat mit seiner ablehnenden Haltung nicht an die kirchliche Öffentlichkeit. Am 28. Juni 1934 beschloß daher die Synode erwartungsgemäß die Eingliederung und wählte Pfarrer Ludwig Diehl zum neuen Kirchenpräsidenten, der den Titel Landesbischof erhielt und sein Amt am 1. August 1934 antrat. 140 Pfarrer protestierten gegen die Eingliederung, jedoch fehlte ihnen zunächst die organisatorische Basis, die in Baden die KPV bot. Aus denjenigen, die mit der Eingliederung nicht einverstanden waren, entstand im Juli 1934 die Bekennende Kirche in der Pfalz. Pfarrer Dekan Hans Battlehner, Rockenhausen, Pfarrer Richard Bergmann und andere erklärten auf einer Versammlung in Neustadt an der Weinstraße am 5. Juli 1934 die Notwendigkeit, das Bekenntnis entschlossen zu verteidigen. Am 3. September 1934 wurde die Pfälzer Pfarrbruderschaft gegründet und ein Bruderrat aus sieben Mitgliedern bestimmt: Hans Battlehner, Karl Esselborn, Paul Kreiselmaier, Karl Miltenberger, Johannes Marx, Hans Stempel und Theodor Schaller.[20] Bereits im November 1934 forderte der Bruderrat die Ausgliederung der Pfälzer aus der Reichskirche von Landesbischof Diehl. Ende 1934 legte Diehl die DC-Landesleitung nieder und praktizierte einen weitgehend pragmatischen Kurs der Integritätsbehauptung der Pfälzer Landeskirche.[21] Eine Distanzierung vom Reichsbischof erfolgte indessen nicht. Durch die Rückgliederung des Saargebiets zum Reich kehrten auch die evangelischen Gemeinden des Saarlands zur pfälzischen Landeskirche zurück.

Kompromisse und ihre Grenzen. Die Jahre 1935 bis 1939

Die Zeit der Kirchenausschüsse[22] traf in der Pfalz auf eine bei den beiden gegnerischen kirchenpolitischen Gruppen festzustellende Bereitschaft zur Befriedung und zum pragmatischen Ausgleich der Gegensätze.[23] Landesbischof Diehl und sein Stellvertreter Ernst Leyser waren um Konfliktreduzierung bemüht.[24] Aus diesem stillschweigenden Konsens scherten vor allem die nationalkirchlich ausgerichteten DC-Radikalen aus. Unter den radikalen DC-Nationalkirchlern war Pfarrer Emil Lind, Speyer, populär. Am 7. Juli 1937 fand die konstituierende Sitzung der nationalkirchlichen Deutschen Christen in der Heilig-Geist-Kirche in Speyer statt. In einer Selbstdarstellung vom 14. Juli 1937 heißt es im Rückgriff auf nationalkirchliche ,Unions’-Argumente des 19. Jahrhunderts:

„Die nationalkirchliche Bewegung DC sieht in der Aufspaltung des deutschen Volkes in Religionsgemeinschaften, Konfessionen und Sekten eine Verleugnung Gottes, nach dessen Schöpferwillen alle Deutschen ein Volk sind. Die Konfessionskirchen und ihre überstaatlichen Bestrebungen gefährden die Einheit und die Kraft der Nation. Die nationalkirchliche Bewegung kämpft um die Überwindung der Konfessionen unter der Parole: Ein Volk – ein Glaube! Die nationalkirchliche Bewegung DC gründet sich in ihrem Kampfe um die religiöse Einigung des deutschen Volkes auf Christus. Er verkörpert uns die unlösbare Einheit von Glaube und Liebe. Deutschland ist unsere Aufgabe, Christus ist unsere Kraft! (...) Die nationalkirchliche Bewegung DC steht in bedingungsloser Gefolgschaft zu Führer und Reich. Sie bekennt sich vorbehaltlos zur nationalsozialistischen Weltanschauung und zur Totalität des deutschen Lebens, die im Nationalsozialismus gefordert wird: Dienst am Volk ist Gottesdienst! Die nationalkirchliche Bewegung DC fordert die Einordnung der Kirche in die deutsche Volksgemeinschaft. (...).“[25]

Zwei Monate später konnte Pfarrer Lind 200 Zuhörer begrüßen, als der Hauptredner die Landeskirche angriff, da sie in der Judenfrage nicht der Parteilinie folge und da sie den Eid auf den Führer nicht zwingend vorschreibe.[26] Hitler wurde als Ordnungsfaktor beschworen und die Forderung aufgestellt, widerspenstige Pfarrer auf die Parteilinie zu zwingen. Als Dekan Ludwig Wien eine Aufklärungsbroschüre gegen die nationalkirchlichen Deutschen Christen veröffentlichen wollte, schritt die Gestapo ein. Im März 1938 verbot die Gestapo die freien Theologischen Arbeitsgemeinschaften, in denen sich vor allem jüngere BK-Pfarrer organisiert hatten.[27]

Der Arierparagraph wurde in der Pfälzischen Landeskirche nicht eingeführt. Der einzige ,nichtarische’ Geistliche, Pfarrverweser Mannweiler, emigrierte 1934, nachdem Diehl ihn nicht auf eine feste Pfarrstelle hatte befördern können.[28] Gleichwohl war auch in der evangelischen Pfalz – und nicht nur bei den radikalen evangelischen Nationalsozialisten – der antijudaistisch akzentuierte, ,rassische’ überformte Antisemitismus ein cultural code, ein Teil der protestantisch-nationalistischen Durchschnittsmentalität bei Theologen und Kirchenvolk.[29]

Die Mitgliederzahlen der kirchenpolitischen Gruppen scheinen schwer einschätzbar zu sein. Die moderaten DC der ,Reichsbewegung’ zählten auch nach dem Sportpalastskandal noch Pfarrer zu ihren Mitgliedern.[30] Zu den liberalen ,Freunden der Union’ um Pfarrer Richard Bergmann sollen im Oktober 1936 mehr als einhundert Pfarrer und mehrere Tausend Laien gehört haben.[31]Die jüngeren Theologen neigten zur Pfarrbruderschaft. Für sie war Pfarrer Theo Schaller, Leiter des Predigerseminars, eine wichtige Integrationsfigur. Zu den Gegnern des Nationalsozialismus[32] zählten auch die Pfarrer Johann Jakob Hamm und Heinz Wilhelmy. Letzterer sprach im Herbst 1938 wegen der drohenden Kriegsgefahr als Mitglied einer Pfarrerbruderschaft ein Fürbittgebet und wurde daraufhin durch die Kirchenleitung vom Dienst suspendiert; eine Entscheidung, die im Oktober 1938 dann rückgängig gemacht wurde. Auch das gegen ihn angestrengte Strafverfahren wurde im Mai 1941 eingestellt: letzteres wird man allerdings nicht als Beleg für tatsächlich vorhandene große Spielräume der Meinungsäußerung werten dürfen. Zumal seit Kriegsbeginn zog die Bespitzelung der im Verdacht der Regimegegnerschaft stehenden Pfarrer deutlich an.

Pfarrer Hamm hatte 1935 eine auch gedruckt vertriebene Predigt über die Rolle des Judentums gehalten,[33] die offenbar nicht nur für den theologisch Versierten zwischen den Zeilen eine Absage an den Nationalsozialismus enthielt, denn die NSDAP verstand die Anspielungen sofort und reagierte mit publizistischen Angriffen in dem NS-Blatt ,Eisenhammer’, der Beilage zur ,Rheinfront.’[34] Die Kirchenleitung unternahm nichts zum Schutz ihres Pfarrers. Hier ein Auszug aus Hamms Predigt:

„Liebe Gemeinde! Am heutigen 10. Sonntag n. Tr. wird nach alter Anordnung in den evang. Gemeinden über die Juden gepredigt. Die Judenfrage gehört zur Zeit zu den Angelegenheiten, die unser Volk am meisten bewegen. Wie oft kann man die Worte lesen: ,Die Juden sind unser Unglück’; und an den Ausgängen vieler Dörfer und Städte ist über der Straße die Inschrift angebracht: ,Juden sind hier unerwünscht’. Wenn die Kirche zu allen Zeiten sich mit dem Schicksal der Juden beschäftigt und sogar einen besonderen Sonntag für die Behandlung der Judenfrage in der Predigt bestimmt hat, so kann sie heute erst recht nicht an dieser Frage vorbeigehen. Sie muß vom religiösen und kirchlichen Standpunkt aus ein Wort dazu sagen. Denn die Judenfrage ist nicht nur eine Frage des Volkes und der Rasse, sondern zugleich auch eine religiöse und kirchliche Frage. Wir betrachten darum die Judenfrage im Lichte des Evangeliums. Das Evangelium zeigt uns 1. die Juden unter dem Fluch; 2. die Juden unter der Verheißung; und stellt 3. unser Volk und uns selbst vor Fluch und Verheißung. (...) Wie kamen nun die Juden unter den Fluch? Auf die gleiche Weise, auf die jedes andere Volk und jeder Mensch unter den Fluch kommt: Das Volk Israel hat die Zeit nicht erkannt, da es heimgesucht wurde, und hat den, der seine weltgeschichtliche Bestimmung zur Vollendung führen sollte, Jesus Christus, verworfen. So groß die Gnade war, die ihm durch Jahrhunderte geschenkt worden war, so groß sein Vorzug vor den anderen Völkern war, so groß und schwer wurde nun der Fluch (...). Seit dem frühen Mittelalter hat sich auch im deutschen Volk der Haß gegen die Juden immer wieder in heftigen Verfolgungen Luft verschafft. Was sollen wir vom Evangelium her dazu sagen? So wenig wir dem Staate in den Arm fallen, wenn er durch einen Krieg die Belange des Volkes zu schützen sucht, so wenig wollen und dürfen wir es hier tun. (...) Aber auch hier hat die Kirche eine Aufgabe: Sie muß wie im Kriege warnen und Front machen gegen jede Mißhandlung und Schikanierung und gegen jedes Unrecht, das nicht durch den Kampf des Staates bedingt und deswegen unvermeidlich ist. Auch im Kriege muß der Christ Christ bleiben und christlich handeln, sonst fällt sein Handeln auf ihn selbst zurück. (...).“[35]

Die NS-Schrift reagierte unter der Überschrift „Religiös bemäntelte Hetze gegen den Nationalsozialismus“ auf Hamms Predigt, diese ausführlich zitierend:

„In dieser Predigt betrachtet Pfarrer Hamm ,die Judenfrage im Lichte des Evangeliums’ und verschleißt aus seiner Anschauung heraus Ansichten, die in kaum verhüllter Form den Nationalsozialismus als politische Idee und mithin auch seinen Staat ablehnen. (...) Wir haben hier aus der Weltanschauung des Herrn Hamm nur einige markante Stellen zitiert. Sie reichen aus, um Gehalt und Tendenz seiner Polemik hinreichend verständlich zu machen. Die Tendenz ist bewußt staatsfeindlich. Eine geistige Auseinandersetzung erübrigt sich in solchem Fall. Es zwingt sich nur die Frage auf, ob die weitere Tätigkeit eines solchen ,Predigers’ geduldet werden kann. Wir halten es für angebracht, daß sich berufene Stellen eingehend mit Pfarrer Hamm und seinem Agitationsblatt ,Der Diemerstein’ beschäftigen.“[36]

Auch in den pfälzischen Gemeinden war das Klima von Mißtrauen bestimmt, waren Denunziationen nicht selten, gewannen höchstpersönliche Konflikte schnell kirchenpolitische und politische Dimensionen. Besonders zerstritten waren die Gemeinden in Frankenthal, Ludwigshafen und Speyer, wo Dekan Wien sich von einem anderen Speyerer Pfarrer verspotten lassen mußte, er stehe nur noch einem Bibelkreis vor. Dieser stand der Pfarrerbruderschaft nahe, während die Pfarrer Lind und Zöller zu den nationalkirchlichen Deutschen Christen stießen und einige Popularität gewinnen konnten. Angesichts der zerstörten innerkirchlichen Einheit, ja zum Teil angesichts der nicht mehr möglich scheinenden Kommunikation, löste sich der Landeskirchenrat von nationalkirchlichen Tendenzen. Allerdings treffe es, so Debus, nicht zu, daß er bei allen Vermittlungsversuchen auf der Seite des bekenntnistreuen Teils des Kirchenvolkes gestanden und dieses die Mehrheit gebildet habe; die Situation in Speyer z.B. beweist das Gegenteil.

Die innerkirchlichen Auseinandersetzungen zwischen nationalkirchlichen DC, Bekenntnistreuen, nicht festgelegten Gemäßigten und radikal antikirchlichen Neuheiden führten ab 1936 zu Desintegrationserscheinungen in der Landeskirche, der zunehmend das Kirchenvolk abhanden kam. Nach außen zeigte sich Gauleiter Bürckel auch weiterhin um ein erträgliches Verhältnis zur Landeskirche bemüht. Unabhängig davon nahmen seit 1937 sowohl die auf Druck der Partei erfolgenden Kirchenaustritte als auch die Überwachungen der Gottesdienste und andere Repressalien des Regimes zu.[37]

Im Krieg ließen die Auseinandersetzungen innerhalb der Landeskirche ähnlich wie in anderen Teilen des Reichs aufgrund kriegsbedingter Belastungen und wegen des zunehmenden Pfarrermangels nach. Von einer geschlossenen Bekenntnisfront gegen den Nationalsozialismus konnte allerdings auch jetzt nicht die Rede sein.[38] Nach der Besetzung Frankreichs erfolgte Ende September 1940 die Eingliederung der reformierten und lutherischen Gemeinden Lothringens in die Pfälzische Landeskirche. Die Landeskirche richtete in Metz ein reformiertes, in Saargemünd ein lutherisches Dekanat ein.[39]

 

Nach dem Krieg:
Beginnende Aufarbeitung auf amerikanischen und französischen Druck

Nach Kriegsende drängte die amerikanische Besatzungsmacht [40] auf die Einrichtung einer neuen Kir-chenleitung sowie auf den Rücktritt des Landesbischofs Diehl, der zum 1. Juni 1945 erfolgte, nachdem er bereits wieder einige Zeit als Pfarrer in der Westpfalz tätig gewesen war.[41] Im Juli 1946 setzte die französische Militärregierung eine zweite, radikale Säuberung der Speyerer Kirchenleitung von allen Vertretern eines Kooperationskurses mit dem vormaligen Landesbischof durch und verhalf in diesem „Nachkirchenkampf“[42] damit den Bekenntniskräften zur Etablierung im Landeskirchenrat.[43] Die Auseinandersetzung um die Verstrickung der Landeskirche der Pfalz in den Nationalsozialismus und die nationalsozialistische Herrschaft ist bis heute aktuell: als Beispiel für die nuancen- und wider-spruchsreiche Geschichte von ,Kreuz und Hakenkreuz’ im allgemeinen und für die pfälzische Zeitgeschichte im besonderen.

 

Privatdozent Dr. Rolf-Ulrich Kunze, Geschäftsführer der Abt. III des Instituts für Geschichte der Universität Karlsruhe (TH): Forschungsstelle ,Widerstand gegen den Nationalsozialismus im deutschen Südwesten’. Veröffentlichung mit freundlicher Erlaubnis des Autores.

 

Weiterführende Literatur

Karl Heinz Debus, Die großen Kirchen unter dem Hakenkreuz. Kirchen und Religionsgemeinschaften in der Pfalz 1933-1945, in: Die Pfalz unterm Hakenkreuz. Eine deutsche Provinz während der nationalsozialistischen Herrschaft. Hg. v. Gerhard Nestler, Hannes Ziegler. Landau 1993, S. 227-272; Kurt Meier, Der Evangelische Kirchenkampf. Bd. I, Halle a.d.S./Göttingen 1976, S. 428-435; ders., Der Evang. Kirchenkampf, Bd. III, Halle a.d.S./Göttingen 1984, S. 429-434; Karl Heinz Debus, Zwischen Kreuz und Hakenkreuz – Die Rolle der christlichen Kirchen zwischen Anpassung und Widerstand am Beispiel der Pfalz, in: Die Zeit des Nationalsozialismus in Rheinland-Pfalz, Bd. 1: „Eine nationalsozialistische Revolution ist eine gründliche Angelegenheit.“, hg. v. Hans-Georg Meyer, Hans Berkessel, Mainz 2000, S. 182-207.

 

 
Fußnoten

[1] Vgl. Karl-Georg Faber, Überlegungen zu einer Geschichte der Pfälzischen Landeskirche unter dem Nationalsozialismus, in: Blätter für pfälzische Kirchengeschichte und religiöse Volkskunde 41 (1974), S. 29-45.

[2] Im Unterschied zu lutherischen oder reformierten evangelischen Kirchen sind protestantische Unionskirchen im Hinblick auf ihr protestantisches Bekenntnis nicht auf eines der beiden reformatorischen Bekenntnisse festgelegt. Sie entstanden in der Regel im 19. Jahrhundert, wenn lutherische und reformierte Bevölkerungen in einer Landeskirche zusammengefaßt wurden.

[3] Kurzbiographie in: Robert Wistrich (Hg.), Wer war wer im Dritten Reich? Ein biographisches Lexikon, Reinbek 1989 (zuerst London 1982), S. 47 f.; Hans Fenske, Josef Bürckel – Potrait eines Gauleiters, in: Die Zeit des Nationalsozialismus in Rheinland-Pfalz, Bd. 1, S. 120-138.

[4] Überblicksdarstellungen u.a.: Hermann Lübbe (Bearb.), Kirche zwischen Rhein und Saar: die Evangelische Kirche der Pfalz (Protestantische Landeskirche) in Geschichte und Gegenwart. Eine Darstellung in Wort und Bild. Speyer 1989; Gabriele Stüber u.a., Zeitbilder aus der protestantischen Kirche in der Pfalz von der Reformation bis zur Gegenwart. Speyer 1999.

[5] Vgl. Hedwig Brüchert, Demokratie ohne Demokraten – Krise und Zerstörung der Weimarer Republik und die Anfänge des Nationalsozialismus auf dem Gebiet des heutigen Rheinland-Pfalz, in: Die Zeit des Nationalsozialismus in Rheinland-Pfalz, Bd. 1, S. 17-30.

[6] Bernhard H. Bonkhoff, Geschichte der Vereinigten Protestantisch-Evangelisch-Christlichen Kirche der Pfalz 1861-1918. Speyer 1993 (Veröffentlichungen des Vereins für Pfälzische Kirchengeschichte, Bd. 17).

[7] Documenta. Unsere Pfälzische Landeskirche innerhalb der Deutschen Evangelischen Kirche in den Jahren 1930-1944. Hg. v. Oberkirchenrat D. Bergmann. Bd. 1: 1930-1934, Bd. 2: 1935-1937, Bd. 3: 1938-1944. Speyer 1960.

[8] K. Meier, Der Evang. Kirchenkampf I, S. 428 f.

[9] Abdruck in: Documenta, Bd. 1, s. Anm. 15, S. 48 f.

[10] Vgl. Karlheinz Lipp, Gegen Faschismus und Krieg: Der Pfälzer Pazifist und religiöse Sozialist Oswald Damian, in: Die Zeit des Nationalsozialismus in Rheinland-Pfalz, Bd. 1, S. 50-56.

[11] K. Meier, Der Evang. Kirchenkampf I, S. 429.

[12] Documenta, Bd. 1, S. 105, 107, 218 ff.

[13] K. Meier, Der Evang. Kirchenkampf I, S. 430.

[14] K. H. Debus, Die großen Kirchen, S. 235.

[15] Documenta, Bd. 1, S. 87.

[16] K. Meier, Der Evang. Kirchenkampf I, S. 431.

[17] Ebd., S. 432.

[18] Documenta, Bd. 1, S. 108.

[19] Ebd., S. 82.

[20] K. Meier, Der Evang. Kirchenkampf I, S. 434; zur Zusammensetzung des Bruderrats im Juli 1936 vgl. K. Meier, Der Evang. Kirchenkampf III, S. 432, Anm. 1182.

[21] K. Meier, Der Evang. Kirchenkampf I, S. 435.

[22] Nach dem Scheitern der Gleichschaltung der evangelischen Landeskirchen durch den Vertrauten Hitlers in protestantischen Fragen, Reichsbischof Ludwig Müller, wurde 1935 das Reichskirchenministerium gegründet, dessen Auftrag war, die zerstrittenen Kirchengruppen innerhalb der Landeskirchen zu befrieden. Darin steckte ein Eingeständnis des Scheiterns der NS-Kirchen- und Religionspolitik. Auch die Kirchenausschüsse scheiterten.

[23] K. Meier, Der Evang. Kirchenkampf III, S. 429; schon 1933 hatte Diehl die Entlassung des Religiösen Sozialisten Pfarrer Damian aus dem Arbeitslager erwirkt; dazu K.-G. Faber, Überlegungen zu einer Geschichte der Pfälzischen Landeskirche, S. 37.

[24] K. Meier, Der Evang. Kirchenkampf III, S. 430 f.

[25] Documenta, Bd. 2, S. 397 f.

[26] K. H. Debus, Die großen Kirchen,  S. 236.

[27] Documenta, Bd. 3, S. 116 ff.

[28] K. Meier, Der Evang. Kirchenkampf III, S. 431.

[29] Grundlegend Jochen-Christoph Kaiser, Martin Greschat (Hg.), Der Holocaust und die Protestanten. Analysen einer Verstrickung, Frankfurt am Main 1989.

[30] K. Meier, Der Evang. Kirchenkampf III, S. 432.

[31] Ebd.

[32] Vgl. Rolf-Ulrich Kunze, Widerstehen aus evangelischem Glauben, in: Peter Steinbach, Johannes Tuchel (Hg.), Widerstand gegen die nationalsozialistische Diktatur 1933-1945, Bonn 2004, S. 111-129; ders. (Hg.), Badische Theologen im Widerstand (1933-1945), Konstanz 2004.

[33] Abdruck in: Documenta, Bd. 3, S. 386-390.

[34] Ebd., S. 390-392.

[35] Documenta, Bd. 3, S. 386-388.

[36] Ebd., S. 390, 391.

[37] Ebd.

[38] Vgl. als lokale Fallstudie Eberhard Dittus, Hermann Morweiser, Ingrid Schellhammer, Niemand hatte das Herz sich zu rühren. Mutterstadt 1933-1945. Speyer o.J.

[39] K. Meier, Der Evang. Kirchenkampf III, S. 433.

[40] Vgl. Hedwig Brüchert, Stunde Null? Neubeginn und ,Vergangenheitsbewältigung’, in: Die Zeit des Nationalsozialismus in Rheinland-Pfalz, Bd. 3, S. 181-201, 181 f.

[41] Documenta, Bd. 3, S. 357 f.

[42] K. Meier, Der Evang. Kirchenkampf III, S. 434.

[43] Vgl. Verhandlungen der Vereinigten Protestantisch-Evangelisch-Christlichen Kirche der Pfalz in den Jahren 1946/1947, Grün-stadt 1957; K. Meier, Der Evang. Kirchenkampf III, S. 434.