Jugendliche aus Israel und Palästina

von Annette Kliewer


Jerusalem, Israel/Palästina

 

"Ich hoffe auf Frieden und dass ich eines Tages Kinder in einer Welt bekomme, in der ich ihnen nichts beibringen muss über Krieg und Anschläge." (Shahar aus Yavne)

Was denken Jugendliche aus Israel und Palästina über ihr Leben, über ihre Zukunft, ihre Hoffnungen und Ängste, ihre Alltagssorgen und Träume? Im Kontext einer Reihe zu "Auf der richtigen Seite? Der Nahost-Konflikt im Alltag von Jugendlichen ", die PD Dr. Annette Kliewer für den Religions- und Ethikunterricht der 9./10. Klasse entwickelt hat, wurden einerseits 19 Antworten von israelischen Jugendlichen der Ginsburg Ha'Oren-High School in Yavne und andererseits fünf Antworten palästinensischer Jugendlicher von der christlichen Schule "Talitha Kumi" in Beit Jala gesammelt. Beiden Gruppen wurde im Februar 2015 folgender Fragebogen vorgelegt:

  1. Stelle dich und deine Familie kurz vor.
  2. Wie verbringst du deine Freizeit?
  3. Was möchtest du nach der Schule machen?
  4. Wie schätzt du die aktuelle Situation in Israel ein? Was muss geschehen, dass es besser wird?
  5. Möchtest du später eine eigene Familie haben? Könntest du dir vorstellen, dann einen jüdischen Mann/eine israelische Frau (einen palästinensischen Mann/ eine palästinensische Frau) zu heiraten? Warum/ Warum nicht?
  6. Was sind deine Wünsche und Hoffnungen?
  7. Was sind deine Ängste?
  8. Ist Religion wichtig für deinen Alltag? Erkläre warum/ warum nicht.
  9. Stell dir vor, dass deutsche Jugendliche diese Antworten lesen. Was würdest du ihnen noch gerne mitteilen?
  10. Stell dir vor, dass israelische/ palästinensische Jugendliche diese Antworten lesen. Was würdest du ihnen noch gerne mitteilen?

Auffällig ist, dass die israelischen Jugendlichen bis auf eine Ausnahme sich eher als Atheisten bezeichnen, für die palästinensischen Jugendlichen umgekehrt bis auf eine Ausnahme die Religion wichtig ist. Es findet sich in keiner der Antworten religiöser Extremismus. Die Jugendlichen zeigen sich alle mehr oder weniger besorgt über die Lage in Israel, kommen aber zu keiner Schuldzuschreibung. Dies kann vielleicht dadurch erklärt werden, dass die Briefe an einen Adressaten in einem anderen Land gerichtet ist, man also selbst als friedfertig auftreten möchte. Zu berücksichtigen ist die Auswahl der Jugendlichen: Die palästinensischen Jugendlichen aus Beit Jala sind zwar Muslime, gehen aber in die christliche Schule Talitha Kumi, haben also sicher eine Erziehung zur Toleranz hinter sich. Die Jugendlichen aus Yavne kommen alle aus der gebildeten, aufgeklärten Mittelschicht. Die wichtigste Frage in diesem Kontext ist die nach der Möglichkeit, eine Frau/einen Mann "von der anderen Seite" zu heiraten: Hier kommen doch die meisten Jugendlichen zu einer ablehnenden Haltung: Man kennt sich nicht, die Familien würden die Beziehungen ablehnen, es gäbe Probleme mit der Religion.
Es zeigt sich, dass alle Jugendlichen in ihrer Freizeit ähnliche Interessen haben (Computerspiele, soziale Netzwerke im Internet, Musik machen, Sport). Der entscheidende Unterschied ist aber, dass deutsche Jugendliche in Sicherheit aufwachsen, was nicht für die Jugendlichen in Israel gegeben ist. Nicht nur die palästinensischen Jugendlichen erleben, dass ein Konflikt in der Luft liegt, der nur bis zu einem gewissen Punkt von der Gesellschaft ausgeblendet werden kann. Aufgabe des Religions- oder Ethikunterrichts wäre, deutschen Schülern die Hintergründe für die Antworten zu erklären. Die Stellungnahmen der israelischen und palästinensischen Jugendlichen wurden eingeholt als Teil einer Unterrichtsreihe, die im Juni 2015 im Stark-Verlag veröffentlicht wurde.

Die Reihe versucht, ausgehend von dem Ansatz des „doppelten Narrativs“ den Konflikt darzustellen, ohne für die eine oder andere Seite Partei zu ergreifen. Wie die Forschergruppe PRIME (Peace Research Institute in the Middle East) um den israelischen Psychologen Dan Bar On (Universität Beer Sheva) und den palästinensischen Erziehungswissenschaftler Sami Adwan (Universität Bethlehem) seit 2002 festgestellt hat, ist Frieden in der Region so lange nicht zu erlangen, so lange jeder Konfliktpartner eine unterschiedliche Sicht auf die Geschichte und ihre Konsequenzen für die Gegenwart hat und so Kommunikation gar nicht möglich ist. Eine Gruppe von Lehrer und Wissenschaftlern verfasste ein Schulbuch, in dem wichtige Etappen der konfliktreichen israelisch-palästinensischen Geschichte des 20. Jahrhunderts aus beiden Perspektiven dargestellt werden. Auch in der Unterrichtsreihe soll – soweit möglich – versucht werden, den doppelten Blick auf die Realität aufzunehmen.
Ausgangspunkt der Beschäftigung mit dem Nahost-Konflikt sind Auszüge aus dem Jugendroman „Auf der richtigen Seite“ (engl. "The Wall") von William Sutcliffe. In seinem ersten Jugendbuch antwortet er auf Fragen, die sich ihm als Jude bei seinen Besuchen in Israel gestellt haben: Sutcliffe schreibt aus der Perspektive von Joshua, dessen Vater als Soldat ums Leben gekommen ist, und der nun mit seiner Mutter und seinem Stiefvater Liev in Amarias lebt, einer fiktiven Siedlung im Westjordanland. Er fühlt sich dort nicht wohl, hat auch Konflikte mit Liev, der von ihm verlangt, dass er sich mehr an die jüdische Religion hält und verliert dadurch die Beziehung zu seiner Mutter, die sich für ihren zweiten Mann und gegen ihren Sohn Joshua entschieden hat. Joshua kommt das Leben in Amarias künstlich vor, umso mehr, nachdem er eines Tages beim Spiel mit einem Freund einen Fußball in einem zerstörten Haus verliert. Auf der Suche nach dem Fußball entdeckt er einen unterirdischen Tunnel, dem er folgt. (Hier stimmt der Roman natürlich nicht mit der geographischen Realität überein, die meisten Tunnel befinden sich an der Grenze nach Gaza, dort gibt es aber keine jüdischen Siedler.) „Auf der anderen Seite“, wie man in Amarias die besetzten Gebiete nennt, trifft er auf Leila, die ihm gegen eine Gang von palästinensischen Jugendlichen hilft, als diese ihn entdecken. Um sich zu bedanken, kehrt er zu ihrer Familie zurück, bepackt mit Lebensmitteln. Umso erstaunter ist er, als die Familie ihn nicht freundlich empfängt, sondern ihn schnell wieder loswerden will. Leilas Vater begleitet ihn zurück zum Tunnel und wird von den Jugendlichen zur Strafe für diesen Loyalitätsbruch zusammengeschlagen. Joshua fühlt sich nun umso mehr verpflichtet, sich bei ihm zu bedanken, indem er zu dem Olivenhain der Familie geht, um die Bäume dort zu gießen, die Leilas Vater nur einmal im Monat pflegen darf. Joshua kümmert sich mehr und mehr um die Pflanzen, flieht aus seiner konfliktreichen Familie zu dem Olivenhain und wartet auf Leilas Vater. Dort entdeckt ihn aber sein Stiefvater, der nun dafür sorgt, dass die Bäume zerstört werden und Joshua bedroht, er müsse unbedingt den Tunnel an die Soldaten melden. Der Tunnel wird – ohne Joshuas Zutun – entdeckt und zerstört. Dies führt bei Joshua zu einer Trotzreaktion: In der Nacht möchte er auf „die andere Seite“ fliehen und Leilas Vater das von ihm erbetene Aspirin bringen, wird dabei aber am Checkpoint angeschossen und schwer verletzt. Er kann nie mehr laufen, sondern ist nun auf den Rollstuhl angewiesen. Immerhin trennt sich seine Mutter von Liev und zieht mit ihm zurück in das Dorf seiner Kindheit an das Meer. Aber auch hier fühlt er sich nicht mehr zu Hause, sondern möchte zurückkehren zu Leila.

Sutcliffes Roman nimmt indirekt über die Figur von Joshua eine Identifikationsfigur in den Blick, die zwischen den Fronten steht: Joshua ist zwar selbst Jude, sympathisiert aber mit Palästinensern. Dabei wird aber auch die palästinensische Position kritisch dargestellt, die palästinensischen Terroristen, die „seinen“ Tunnel erbaut haben und die sowohl ihn wie auch die Familie der „Verräter“ um Leila verfolgen, werden ebenso kritisch dargestellt wie die israelischen Besatzer. Der Roman bietet über die Entwicklung von Joshua vom naiven Kind, das ein Abenteuer sucht, hin zu einem bewussten Jugendlichen, der sich von seiner Familie lossagt, eine Art von Coming out, mit dem sich auch deutsch Jugendliche identifizieren können.
Eine Schwäche des Romans ist sicher die zu einseitige Negativzeichnung von Liev. Natürlich muss die Gruppe der Siedler im israelisch-palästinensischen Konflikt auch in der Realität als „Trouble maker“ bezeichnet werden. Würden sie sich nicht in den palästinensischen Gebieten niederlassen und den Schutz der israelischen Armee fordern, könnte eine Zwei-Staatenlösung mit einer wirklich autonomen Palästinenserregierung angestrebt werden. In der Fiktion des Romans ist die übertrieben negative Zeichnung des Siedlers, der auch Joshua und seiner Mutter gegenüber menschenverachtend auftritt, auf jeden Fall aber zu diabolisch, vor allem wenn ihr gegenüber die friedlich-passive Gegenfigur von Leilas Vater bzw. die heldisch überhöhte Figur von Joshuas totem Vater aufgebaut wird.

Es ist nicht im Sinne der Klärung, wenn einseitig Stellung genommen wird. Die Situation der palästinensischen Jugendlichen (40 % aller Bewohner der besetzten Gebiete sind unter 15 Jahre alt) ist durch hohe Arbeitslosigkeit und Perspektivlosigkeit gekennzeichnet, die – so der Soziologe Gunnar Heinsohn in "Söhne und Weltmacht" (2006) - dazu führt, dass eine Anfälligkeit für extremistische Ideologien unter ihnen von den palästinensischen Führern missbraucht wird. Solange sich die Situation nicht ändert und allein Israel der Feind ist, können die erwachsenen Palästinenser von der erhöhten Gewaltbereitschaft vor allem unter männlichen Jugendlichen auch noch profitieren. Diese Situation wird bei Sutcliffe ansatzweise am Beispiel der palästinensischen Jugendgang gezeigt. Insgesamt schein Sutcliffe aber den richtigen Ton getroffen zu haben, der beide Seiten zu ihrem Recht kommen lässt.

Da von den Schüler im Religions- oder Ethik-Unterricht nicht erwartet werden kann, dass sie den Roman vollständig lesen, findet sich zunächst eine Hinführung zu den Figuren des Romans und ihren Konflikten, dann in einem zweiten Teil einige Auszüge, die parallel zu weiteren Materialien einführen in das Leben von Jugendlichen in Israel heute. Besonders herausgegriffen werden dabei die folgenden Schlüsselmotive des Romans, die in ihrer Bedeutung für die Gesellschaft in Israel beleuchtet werden: Die Mauer, die Olivenhaine, die Tunnel, die Siedlungen. In einem dritten Teil werden israelische und palästinensische Jugendliche selbst zu Wort kommen, zunächst in dem Film „Hass und Hoffnung“, der sieben Jugendliche aus den unterschiedlichen Milieus (Orthodoxe Juden, Siedler, säkulare Juden, aber auch Palästinenser aus Ostjerusalem und aus einem Flüchtlingslager bei Bethlehem) interviewt. Dieser Film eignet sich in besonderer Weise für den Unterricht, zumindest in Auszügen. Die Schüler sollen beide Sichtwesen respektieren und differenziert argumentieren: Dies wird anschließend an Beispiel von Auszügen aus dem Film "Wir weigern uns, Feinde zu sein" von Stefanie Landgraf und Johannes Gulde aus dem Jahr 2011 geübt, der in Deutschland kontrovers diskutiert wurde. Die Reihe endet mit einigen Beispielen für Friedensinitiativen in der Region, um deutschen Jugendlichen Mut zu machen, ihnen zeigen, dass es Menschen gibt, die nicht nur passiv auf die Situation reagieren, sondern bereit sind, gewaltfrei zu agieren.

Die Beschäftigung mit dem Thema kann natürlich noch intensiviert werden, wenn der gesamte Roman im Deutschunterricht oder in der englischen Fassung im Englischunterricht gelesen wird. Ein fächerübergreifender Ansatz wird auf jeden Fall die literarische Gestaltung intensiver in den Blick nehmen können. Weitere fächerübergreifende Arbeitsmöglichkeiten ergeben sich im Geschichtsunterricht in der Aufarbeitung der historischen Hintergründe für die aktuelle Situation, diese werden nur in der 4. Stunde extrem kurz zusammengefasst. Auch der Erdkunde-Unterricht könnte den Zugang zum Thema bereichern: Besonders die Fragen der Siedlungspolitik, die Frage der Wasserverteilung, des Umgangs mit den Ressourcen der Region oder der geopolitischen Bedeutung des Konflikts für den gesamten Nahen Osten könnten hier von Interesse sein. Dieser letzte Aspekt könnte auch im Sozialkunde-Unterricht vertieft werden. Schließlich ist es natürlich möglich, die gesamte Reihe auch im Religionsunterricht durchzuführen, insbesondere in der 5. Stunde werden Ansatzpunkte für eine theologische Deutung des Konflikts angedeutet, hier am Beispiel des religiös bedeutsamen Motivs des Olivenhains.

Die folgenden Zitate der Jugendlichen können aber auch unabhängig von der Reihe aus dem Stark-Verlag eingesetzt werden. Es empfiehlt sich, dass der Fragebogen (bis auf die Fragen 5, 9 und 10) den deutschen Jugendlichen zunächst einmal vorgelegt wird, so können sie ihre eigenen Antworten mit denen der Israelis und Palästinenser vergleichen.

Text: Annette Kliewer
Bild: Stefan Meißner