Der Landauer Rabbiner Elias Grünebaum (1807– 1893) und der
deutschjüdische Aufbruch im 19. Jahrhundert.
Vortrag von Jobst Paul
Gehalten Landau, 22. September 2011, auf Einladung der
Gesellschaft für christl.-jüdische Zusammenarbeit
Elias Grünebaums Sittenlehre des Judenthums
erschien in der vom DISS und dem Steinheim-Institut für deutsch-jüdische
Geschichte (Essen) gemeinsam herausgegebenen Edition Deutsch-jüdische
Autoren des 19. Jahrhunderts. Schriften zu Staat, Nation, Gesellschaft.
Der Autor wirkt als Koordinator der Gesamtedition. Nachfolgend finden
Sie den Wortlaut des Vortrags.
Sehr geehrte Damen und Herren,
im Dezember 2007, zum 200. Geburtstag von Rabbiner Grünebaum, referierte
Prof. Wilke hier in Landau zu Grünebaums großem Werk, der Sittenlehre.
Die Schrift konnte im Jahr 2010 im Rahmen unserer Edition Deutsch-jüdische
Autoren des 19. Jahrhunderts: Schriften zu Staat, Nation, Gesellschaft
völlig neu erscheinen, wobei Herr Wilke sein Landauer Referat zur
Grundlage der umfangreichen Bandeinführung machte.
Vor 120 Jahren, am 25. September 1893, ist Rabbiner Grünebaum gestorben,
und heute soll Gelegenheit sein, ihn und sein Werk in einen größeren
Rahmen einzuordnen. In meiner Skizze soll von innerjüdischen Kämpfen
um Judentum die Rede sein – dafür steht das Stichwort Glauben.
Dann auch vom Kampf gegen Judenfeindschaft und Zurücksetzung –
dafür steht das Stichwort Wahrheit. Schließlich von einem deutsch-jüdischen
Aufbruch, für den ich das Stichwort Wissen gewählt habe, denn
es soll nur am Rand vom bürgerlichen Aufbruch die Rede sein.
Zunächst aber herzliche Grüße von Herrn Prof. Brocke
und Herrn Prof. Jäger, mit denen zusammen ich die Edition betreue.
Ich danke Ihnen, Herr Dr. Pauly, der Gesellschaft für christlich-jüdische
Zusammenarbeit, und dem Kulturzentrum sehr herzlich für die freundliche
Einladung zu Ihnen und in diese wundervolle Landauer Altstadt –
die mich bei der Vorbereitung übrigens sehr beschäftigt hat.
Gilt als Altstadt das Rechteck zwischen König– und Waffenstraße
oder der Bereich innerhalb der Ringstraßen, die den Verlauf der
alten Festung andeuten? Dort entstand eine repräsentative bürgerliche
Architektur, aber die neue Raumordnung ermöglichte ja auch erst –
an der Ecke Reiterstraße – den Bau der großen Synagoge,
die am 5. September 1884, nicht zuletzt durch Grünebaums Energie,
eingeweiht werden konnte – übrigens auf einem von der Stadt
kostenlos überlassenen Bauplatz. Am Ende des 19. und zu Beginn des
20. Jahrhunderts unter Rabbiner Einstein blühte das jüdische
Gemeindeleben weiter auf, bis die Entrechtung begann. Im Dezember 1932
feierte Einstein noch seinen 70. Geburtstag. Die Feier wurde von der Elias-Grünebaum-Loge,
einem 1926 gegründeten Landauer Sozialverein, ausgerichtet. Wenige
Monate nach der Feier wurde der Verein schon per Polizeidekret aufgelöst.
Alteingesessene jüdische Familien haben hier in der Mitte der Altstadt
gewohnt. Rabbiner Grünebaum mit seiner Familie soll – so die
Auskunft von Herrn Dr. Martin – zuletzt in der Langstraße
11 gewohnt haben – und das später dort eröffnete Gasthaus
soll es noch heute geben. Von der Langstraße waren es für Grünebaum
nur wenige hundert Meter zur Königstraße 23, der städtischen
Höheren Töchterschule, wo er 'israelitische’ Religion
unterrichtete, wie auch an der Königlichen Studienanstalt in der
Waffenstraße. Noch 1886, bei seinem 50jährigem Dienstjubiläum
(da war er 79) schenkten ihm Schülerinnen der Töchteranstalt
einen Rauchtisch und Schüler der Studienanstalt die Kulturgeschichte
der neuesten Zeit des Kulturhistorikers Honegger.
Übrigens: Zwei Jahre später, im Jahr 1888, zog die Töchterschule
an den Ort des heutigen Slevogt-Gymnasiums. Die Königliche Studienanstalt
hieß ihrerseits bis 1872 Königlich Bayerische Lateinische Schule
und stand Ecke Königstraße/Martin Luther-Straße. Sie
wurde zum heutigen Eduard Spranger Gymnasium (auch für diese Informationen
herzlichen Dank an Herrn Dr. Martin).
Grünebaum war ein Kind der Pfalz und er blieb es. Geboren 1806 in
Reipoltskirchen, zieht er mit der verwittweten Mutter 1815 nach Münchweiler
an der Alsenz, wo sich diese ein zweites Mal, nun mit Isaak Felsenthal,
einem Eisenhändler, vermählt. Offenbar wird Felsenthal zur wirklichen
Bezugsperson Grünebaums, denn 1838, nach Antritt seines Landauer
Rabbinats, wird Grünebaum ihn öffentlich als „geliebten
Vater“ ansprechen. Mainz, Mannheim, Frankfurt, Speyer sind schnell
aufeinander folgende schulische Stationen einer Doppelausbildung: Elias
absolviert gleichzeitig ein Talmudstudium und die gängige Gymnasialausbildung.
1831 folgt der Sprung hinaus, zuerst an die Universität Bonn mit
den Fächern Philosophie und Arabisch, nach 2 Semestern aber schon
an die neu eröffnete Modeuniversität in München, mit Friedrich
Wilhelm Schelling als Magnet. Viele junge, jüdische Gelehrte zieht
es nach der Juli-Revolution 1830 in Paris, die so viele Hoffnungen weckt,
dorthin. Aber viel Zerstreuung gibt es für Grünebaum nicht –
nach nur vier weiteren Semestern, im August 1834, macht er schon den Abschluss
– in Bayreuth – und zwar als Rabbiner! Geprüft wird er
– in den 'weltlichen Fächern’ – von einem protestantischen
Pfarrer und einem Gymnasialprofessor und im jüdischen Teil vom bekannten
Bayreuther Rabbiner Joseph Aub. Unter den 16 Kandidaten sind übrigens
einige der später bekanntesten deutschen Rabbiner, Bernhard Wechsler,
Leopold Stein und David Einhorn – doch Grünebaum sticht alle
aus. Er schließt als Primus ab.
Damit ist der Ausflug schon zu Ende – Grünebaum kehrt 1835
in die Pfalz zurück und wird mit 28 Jahren Rabbiner in Birkenfeld:
Schon 10 Monate später, im Juni 1836, tritt er seine Stelle in Landau
an.
Meine Damen und Herren,
gewiss könnte ich auch die weitere Lebensgeschichte Grünebaums
in dieser episodischen Form entfalten. Am Schluss würden gewiss noch
einmal die Festlichkeiten zu Grünebaums 50stem Dienstjubiläum
im Jahr 1888 stehen, als ihn – nachdem er schwer krank gewesen war
— eine lange Schlange von Repräsentanten mit Geschenken überhäuften.
Er erhielt sogar den bayerischen Michaelsorden zweiter Klasse!
Ich möchte jedoch eine Frage einschieben: Zeigen diese Episoden
nicht, dass das jüdische Leben ganz mitten im Geschehen der Region
angesiedelt war? Und galt der bürgerliche Aufbruch, die Erfolgsgeschichte
des jüdischen Bürgertums, das bürgerliche Miteinander nicht
für die große Mehrheit der deutschen städtischen Gesellschaften?
War also die deutsch-jüdische Geschichte und die 'Geschichte der
Deutschen’ nicht eine Einheit? War die Shoah also nicht doch ein
plötzlicher Kulturbruch?
Angesichts der Brutalität, mit der Menschen mit dem Beginn des Nazi-Terrors
plötzlich vor den Augen aller anderen und durch Behörden behandelt
werden konnten, die ja die gleichen wie zuvor waren, kann man das schwer
glauben. Hinzu kommt: Unzählige deutsch-jüdische Autoren haben
während des gesamten 19. Jahrhunderts in ihren Schriften dokumentiert,
was sie an Fremdheit, Herablassung, Hass und Feindschaft zu bewältigen
hatten.
Sie schildern seit der Aufklärung den verletzenden Kleinkrieg ständischer,
obrigkeitlicher und christlicher Vertreter gegen die jüdische Existenz
letztlich auf allen Ebenen und dies trotz aller, offiziell 'korrekter’
Gesten. Denken wir an den Zwang zur Konversion aus beruflichen Gründen,
an die vielerorts politisch unterstützte Judenmission, an die schikanösen
Beschränkungen in fast allen deutschen Staaten, an die Tragödie
der 'Mischehen’-Debatten.
Auch Elias Grünebaum kennt das alles. Unter dem Titel Zustände
und Kämpfe der Juden mit besonderer Beziehung auf die bayrische Rheinpfalz
veröffentlichte er 1843 eine Abrechnung:
„Da treten Sie zusammen, bilden ein geschlossenes Kaffee–
und Bierhaus, das Sie Casino nennen, nehmen keine Juden auf, und bilden
sich dann in ihrer hohlen, faulen Phantasterei nicht wenig auf ihren Patriotismus
ein, der dadurch Gewaltiges geleistet habe – für die deutsche
Einheit. Da faseln sie von ihrer, alle Völker der Erde in Schatten
stellenden Sittlichkeit, und scheuen sich nicht, durch den moralischen,
bürgerlichen Tod, den sie leichtfertig über einen Juden aussprechen,
zu Mördern des einzelnen, sowie Verrätern des menschheitlichen
Seelenadels zu werden. O, über diese erbärmliche Selbsttäuschung
der Deutschen, über deren tollhäuslerische Narrheit man lachen
müsste, wenn nicht Tausende von Menschen unter den rohen Händen
ihres Wahnwitzes grausam verbluten müssten.“
Für Grünebaum — wie für viele andere jüdische
Beobachter — sind die lokalen und regionalen Details der anti-jüdischen
Mentalität aber nur Auslöser einer allgemeinen Diagnose: Wo
steckt der Kern der Judenfeindschaft und was richtet sie an? Die Antworten
sind einmütig: Die christlich-fundamentalistische und/oder völkische
Mehrheit in Deutschland erweist sich stets als bestimmend. Gut –
man mag Juden zumal in den Städten als Bürger anerkennen. Zwischen
1837 bis 1843 erklären sich viele Bürgerschaften – wie
im Rheinland — mit ihren jüdischen Minderheiten solidarisch.
In der Landauer Bürgerwehr sind im Jahr 1849 393 Mitglieder und davon
26 jüdisch. Ab 1859, im Deutschen Nationalverein, spielt die 'Konfession’
ohnehin keine Rolle mehr, und für viele Juden folgt bis zur Reichsgründung
ein beispielloser bürgerlicher – und teilweise auch wissenschaftlicher
– Aufstieg – aber eben nicht als Juden. Die jüdische
Identität, das Judentum selbst wird in Deutschland verdrängt,
tabuisiert oder blind bekämpft – man weiß davon nichts
und möchte nichts wissen – so die Klage der deutsch-jüdischen
Autoren uni sono.
Die jüdische Identität selbst erschöpft sich freilich
nicht im Widerstand gegen Judenfeindschaft. Das Stichwort 'Wahrheit’
steht nicht nur für Abwehr, sondern auch für Bekenntnis, für
den sozialethischen Aufbruch innerhalb des deutschen Judentums. Dafür
soll das Stichwort 'Wissen’ an der dritten, wichtigsten Stelle stehen.
Doch zuvor noch eine kurze Skizze zum innerjüdischen Ringen um die
richtige religiöse Praxis, dem Stichwort Glauben.
Es kann nur erstaunen, wie es den kleinen jüdischen Gemeinden in
Mittel– und Osteuropa möglich war, nicht nur ihre religiösen
Traditionen, sondern ihre an Thora und Talmud geschulte Sprach–
und Wissenschaftskultur über die Jahrhunderte zu retten. Die Gemeinden
hielten ja auch an basisdemokratischer Unabhängigkeit fest und bezahlten
ihre Rabbiner und Kantoren überwiegend selbst – eine religiöse
'Organisation’ lehnte man ab – bis weit ins 19. Jahrhundert.
Natürlich ist auch der Umkehrschluss sinnvoll: Es war gerade diese
Bildung und Kultur, die über die Katastrophen, Vertreibungen, Pogrome
und Entrechtungen hinweg half.
Einer der ersten deutschen Juden, der diese Bildung aus dem Dessauer
Ghetto heraus trug und zu einem Motor der deutschen Aufklärung wurde,
war Moses Mendelssohn. Man muss nur heute auf die Landauer Altstadt innerhalb
des Festungsrings schauen – Berlin hatte die gleiche Festung und
war 1742 ganz genau so groß, als der mittellose Mendelssohn an einem
der Berliner Stadttore Einlass begehrte, um zu seinem Lehrer zu kommen.
Der wußte zwar von nichts, nahm ihn aber dennoch auf. Mendelssohn
wird danach fast vier Jahrzehnte hart arbeiten, um das Judentum 'auf deutschsprachige
Beine’ zu stellen und um zuerst in Berlin, dann in Frankreich und
Deutschland eine religionsphilosophische Debatte über das Judentum
als moderne Religion auszulösen.
Und nicht nur Lessing fand über Mendelssohn Zugang zur universalistischen
Botschaft des Judentums. Für einen anderen, fünf Jahre älteren,
ebenfalls protestantischen Gelehrten wurde Mendelssohn sogar zum Anlass,
die europäische Philosophie von einigen antiken Zöpfen zu befreien
und, wie in der Tora über die Gottebenbildlichkeit vorgezeichnet,
die menschliche Gleichheit und Würde mit einem revolutionären
Federstrich einfach zu postulieren. Dieser Gelehrte wurde daher nicht
nur zur geliebten Autorität des deutschen Judentums, sondern der
nach 1945 einzig noch mögliche Orientierungspunkt für das Grundgesetz
– es ist Immanuel Kant.
Zu den Versprechungen der Aufklärung kamen freilich die Taten der
Französischen Revolution – die Landauer Juden z.B. erhielten
sogar unmittelbar ihre rechtliche Gleichstellung – und waren daher
stets besser dran als die Juden in anderen deutschen Staaten. Man war
scheinbar in einem Vaterland angekommen und viele junge Juden wollten
– endlich – dazugehören, unter anderem – nach Mendelssohns
Beispiel – mit publizistischen Interventionen in großer Vielfalt.
Doch der Optimismus hatte eine schwache Grundlage, denn die Jahrhunderte
christlich kultivierter Judenfeindschaft blieben in die Gesellschaft eingebrannt.
Viele der Modernisierer suchten einen Ausweg, indem sie sich an den Protestantismus
anlehnten: Um 1800 tun sich in dieser Hinsicht erstaunliche Dinge: Rabbiner
ziehen sich Pfarrerstrachten über, bald führt man in der Synagoge
die Predigt ein, aus der Bar-Mizwa, bzw. Bat-Mizwa wird die Konfirmation,
und in viele Synagogen zieht die Orgel ein. Manche wollen gar den Sabbath
auf den Sonntag legen oder die Beschneidung abschaffen.
Dass die orthodoxen Fraktionen diese Entwicklung bekämpften, liegt
auf der Hand. Aber auch sie versuchten eine Anpassung, die gelegentlich
durchaus fragwürdig war: Sie setzten auf die Schutzfunktion der Obrigkeiten,
die man sogar anrief, um gegen liberale Reformer vorzugehen. Doch diese
hauptsächlich christlichen Obrigkeiten waren ja selbst in innerchristliche
Machtkämpfe verstrickt. Da war die Politik der jüdischen Minderheit
und ihren Fraktionen gegenüber ein willkommener Spielball. Fast für
alle jüdischen Gemeinden blieb nur, dass man sich Ergebenheitsadressen
und Huldigungsgedichte auferlegte, zu buchstäblich jedem fürstlichen
Geburtstag oder Todesfall. Und zum Krieg 1870/71 steuerte selbstverständlich
auch Grünebaum wie viele andere Rabbiner patriotische Kriegspredigten
mit heute schwer erträglichem Pathos bei.
Als er als Reform-Vertreter 1836 seine Landauer Stelle antrat, hatte
die 'protestantische’ Welle bereits feste Resultate im Kultus gezeitigt:
Grünebaums erste Druckschrift als Landauer Rabbiner von 1838 heißt:
Confirmanden-Unterricht für Israeliten, zunächst für die
Schulen des Rabbinatsbezirks Landau.
Bis 1848, oft noch viel länger, stand den Reformrabbinern aber nicht
nur der Widerstand von orthodoxer Seite gegenüber. Es gab auch die
prominenten, älteren Gemeindemitglieder, die die jungen allzu forschen
Reform-Rabbiner gern spüren ließen, dass sie abhängig
Beschäftigte waren.
Diese Konfliktlinien prägten den Alltag in allen größeren
Gemeinden in Deutschland und überhaupt der ersten Generation jener
Rabbiner, die neben einer talmudischen auch eine wissenschaftlich-universitäre,
oft auch philosophische Ausbildung durchlaufen hatten. Nicht wenige von
ihnen, wie z.B. der schon erwähnte Leopold Stein in Frankfurt, gaben
ihre Rabbinate entnervt auf, machten eigene Schulen auf oder emigrierten,
z.B. nach England oder in die USA.
Auch Grünebaum spielte wohl mit diesen Plänen – in den
USA hatte sich die väterliche Familie Felsenthal bereits etabliert.
Zwei Kartons mit Studiennotizen Grünebaums aus Bonn und München,
und sogar Manuskripte aus der Zeit zwischen 1862 und 1866 befinden sich
in der Greenebaum Collection of the Semitic Library of the University
of California. Hat Grünebaum die Unterlagen im Jahr 1866 schon 'vorausgeschickt’,
weil er weg wollte? Und entscheidet er sich danach für das Durchhalten
und schreibt die Sittenlehre?
Gründe für eine Resignation gab es genug – z.B. schlimme
persönliche Angriffe von orthodoxer Seite, weil Grünebaum z.B.
die Ehe einer seiner Töchter mit einem Nicht-Juden duldete, weil
es „die intimsten verwandtschaftlichen Beziehungen zwischen Schwiegereltern
und Schwiegersohn“ gab, „welcher letzterer auch in Landau
wohnt“, und weil Grünebaum eine konfessionslose Erziehung der
Kinder durchgesetzt habe – alles ausgebreitet in einer deutschlandweit
zu beziehenden orthodoxen Zeitschrift (1876). Und als er 1845 mit seinem
Wunsch scheiterte, als ordentliches jüdisches Mitglied in die Ortsschulkommission
berufen zu werden, quittierten orthodoxe Vertreter seine Niederlage in
der Allgemeinen Zeitung des Judentums mit Jubel und mit einem Dankschreiben
an die königliche Regierung. Grünebaum teilte freilich auch
selbst recht kräftig aus in die orthodoxe Richtung – die Rechnung
dafür kam nach Veröffentlichung der Sittenlehre von 1878 –
ein orthodoxer Rezensent überschüttete Grünebaum im orthodoxen
Organ Der Israelit mit massivem Spott – und schoss noch
einmal gegen Grünebaum und seine Familie.
Doch wahr ist auch: Die innerjüdischen Kämpfe im Verlauf des
Jahrhunderts haben niemals die allen Parteiungen gemeinsamen Grundüberzeugungen
des Judentums berührt. Im Gegenteil: Reformanhänger und Orthodoxe,
selbst als sie sich in getrennte Gemeinden aufspalteten, schufen gemeinsam
ein vielfältiges kulturell-soziales jüdisches Leben.
Das war mühsam genug. Erst im Oktober 1832 hielt Grünebaums
Vorgänger, der Landauer Bezirksrabbiner Hirz Kan, den ersten Gottesdienst
auf Deutsch. „Schade nur, — so der Eil-Bote — daß
dieselbe von Vielen nicht begriffen wurde, weil der Übergang von
der so lang gewöhnten gemischt hebräisch-deutschen Sprache zu
der rein deutschen ihnen zu grell war.“ Und noch 1840 musste sich
dann Grünebaum mit deutschen Mitteilungen an die Gemeinde behelfen,
die mit hebräischen Buchstaben geschrieben waren. Für den herkömmlichen,
unendlich langen Gottesdienst, den die Leute gewohnt waren, hatte selbst
er als Rabbiner nur deftige Worte übrig: Er töte alle Andacht
und zwinge zum bloßen 'Lippendienst’.
Immerhin war es schon unter dem Vorgänger Hirz Kan gelungen, letztlich
für alle Kinder der jüdischen Familien im Bezirk eigenen Grundschul–
und Religionsunterricht zu organisieren, eine ganz erstaunliche Leistung.
Grünebaum spricht 1843 von 50 Schulen und lobt seine Vorgänger
und die jüdische Bevölkerung der Pfalz! Die Inspektion dieser
Schulen, aber auch der jüdischen Grundschule in Landau selbst –
zunächst im Erdgeschoß der alten Synagoge, dann in der Gerbergasse,
— dürfte Grünebaum stark beschäftigt haben.
Mit dem Namen des orthodoxen Rabbiners Hirz Kan klingt übrigens
eine ganz fatale Seite der innerjüdischen Kämpfe an: Nach der
Amtsübernahme Kans im Jahr 1823, als es um seine Bezahlung ging,
richteten sich die reformorientierten jüdischen Gemeinden in Niederhochstadt,
Nieder– und Oberlustadt und Rülzheim gegen ihn: Dort wollte
sich der Junglehrer Abraham Fränkel, offenbar der aus Fürth
zugezogene Begründer der Familie Frank in Landau, kurzerhand zum
Rabbiner erklären lassen, was allerdings misslang. Und zum Schluss
des Rabbinats Kans nutzten einige Trittbrettfahrer die innerjüdischen
Konflikte zu judenfeindlicher Agitation von außen – Kan wurde
das Opfer dieser schrecklichen Mischung, durch lang anhaltende, in der
Presse geführte Kampagnen.
Die innerjüdischen Kämpfe (das Stichwort Glaube) und der Kampf
gegen judenfeindliche Kampagnen hängen aber noch auf eine andere
Weise zusammen: Nichts hat die jüdischen Gemeinden derart hin–
und hergerissen wie die Frage, wie man diesen Kampagnen begegnen solle:
Sollte man schweigen oder antworten und aufklären?
Ich deutete schon an, dass die konservativ-orthodoxe Richtung auf den
Schutz durch die Obrigkeiten und eher auf Schweigen setzte, während
die liberalen Reformer auf Aufklärung und Abwehr, aber letztlich
auf Akkulturation setzten. Doch im Rückblick wird klar: Einen 'richtigen’
Weg konnte es gar nicht geben, angesichts des umfassenden gesellschaftlichen
Konsenses gegen das Judentum, der sich dann im Kaiserreich zusätzlich
parteipolitisch organisierte.
Den Kern aller judenfeindlichen Argumentationen haben viele deutsch-jüdische
Autoren zwischen 1780 und noch bis 1938 immer wieder beschrieben. Das
Judentum – so der christliche Ausgangspunkt – habe die Nächstenliebe
nur auf Juden bezogen, sei also egoistisch und ethisch dubios. Erst
das Christentum habe die Nächstenliebe auf alle Menschen bezogen.
Schließlich wird das Klischee der beschränkten Pharisäer,
die Jesus, den neuen Menschen, drangsalieren, hinzugefügt. Diese
judenfeindliche Argumentation, von der christlichen Theologie mit Autorität
gelehrt, zieht sich das gesamte 19. Jahrhundert in zahllosen Variationen
durch die Wissenschaften, die Medizin, die Altertums-, Geschichts-, Rechts–
und Staatswissenschaften, durch obrigkeitliche Reflexe, die Literaturkritik,
durch Publizistik und Belletristik. Die Übertrumpfungsrhetorik bestimmt
das Selbstwertgefühl der gesellschaftlichen Mitte in Deutschland
und ist die Basis der Doktrin vom 'christlichen Staat’.
Welchen Hebel konnte es dagegen geben? Mit der Begründung einer
Wissenschaft des Judentums hatte man schon zu Beginn des Jahrhunderts
versucht, eine inhaltliche Plattform für die Richtigstellung, für
die Wahrheit zu schaffen, aber erst um 1835–1837 entstand eine breitere
jüdische Publizistik durch die Gründung wirklich bedeutender
jüdischen Zeitungen und Zeitschriften.
Ganz wenige Persönlichkeiten unternahmen es darüber hinaus,
die jüdische Religionslehre umfassend zu formulieren, im Jahr 1841
Salomon Formstecher aus Offenbach mit seinem großen Werk Religion
des Geistes: Eine wissenschaftliche Darstellung des Judenthums nach seinem
Charakter, Entwicklungsgange und Berufe in der Menschheit, Samuel Hirsch
aus Trier ein Jahr später mit seinem epochalen Werk: Die Religionsphilosophie
der Juden: oder, Das Prinzip der jüdischen Religionsanschauung und
sein Verhältnis zum Heidenthum, Christenthum und zur absoluten Philosophie,
Leopold Stein mit seinem 3-bändigen Werk Schrift des Lebens.
Hinzu kommen Joseph Levin Saalschütz in Königsberg, Abraham
Geiger in Dresden und Frankfurt, Sigismund Stern in Berlin und Frankfurt,
Ludwig Philippson in Magdeburg und Bonn. Es sind weitere große Namen,
in deren Reihe eben auch Elias Grünebaum gehört mit seinem brillanten
Werk von 1867 (und 1878) Die
Sittenlehre des Judenthums, andern Bekentnissen gegenüber: nebst
dem geschichtlichen Nachweise über Entstehung und Bedeutung des Pharisaismus
und dessen Verhältniss zum Stifter der christlichen Religion.
All diese Werke heben als Ausgangspunkt das von den Propheten auf alle
Menschen bezogene Liebesgebot und dessen Übernahme ins Christentum
hervor. Der umgekehrte christliche Übertrumpfungsanspruch sei um
so mehr zu verurteilen, als stattdessen das Christentum das reine Liebesgebot
des Judentums mit Elementen des heidnischen Griechentums vermischt habe.
Die genannten großen Werke, die all das ausführen, stehen aber
nicht allein – Tausende von deutsch-jüdischen Autoren haben
sich in gleicher Weise publizistisch gewehrt. Stellvertretend die Passage
aus einer direkten Konfrontation des Bad Kissinger Rabbiners Lazarus Adler
von 1850 mit einem professoralen Gegner:
„Sie sprechen die Beschuldigung aus,
und Ihre Gesinnungsgenossen sprechen es Ihnen nach, im mosaischen Gesetze,
also in der jüdischen Religion sei nur der Jude der Nächste,
den zu lieben geboten sei. Das sprechen Sie so kalt, so gleichgültig
aus, als ob es um Erklärung einer Stelle in Horazens Oden sich
handelte, bedenken aber nicht, dass diese Beschuldigung ein Dolch sei,
gezückt nach Millionen Herzen. Was sage ich, Herzen? nach Millionen
Seelen, ein Schwert, die Ehre von Millionen Lebender und Verstorbener
zu morden. Ein solches Wort, und zumal im Munde eines Mannes, der für
eine Autorität gehalten wird, ist mehr als Wort, ist eine That
und eine folgenreiche schwer verantwortliche That.“
Dieser Ausbruch macht eines deutlich: Mit der christlichen Herabsetzung
der jüdischen Ethik ist für die Betroffenen schon immer eine
tödliche Bedrohung gegenwärtig gewesen, für sie war der
Kulturbruch schon immer im Gang. Und Adlers Empörung hilft uns auch,
eine offenbar missverständliche Beobachtung richtig zu stellen. Ich
meine das Erstaunen, das oft geäußert wird über den Kontrast
zwischen der düsteren Wirklichkeit, die Adler hier anspricht, und
der offenbar nicht zu erschütternden Zuversicht, den die meisten
deutsch-jüdischen Autoren während des 19. Jahrhunderts hinsichtlich
ihres universalistischen Menschheitstraums an den Tag legen.
Bei der Folgerung, sie seien weltfremd und naiv gewesen, übersieht
man, dass diese Beschreibungen des sozialutopischen Ziels der menschlichen
Geschichte jüdischer Gottesdienst sind. Und deshalb wird man in allen
diesen Texten die schlechte Realität meist nur kurz zwischendurch
— wie Findlinge angesprochen finden. Ganz typisch eine Stelle bei
Grünebaum 1878, in der er nur kurz die »schaudererregende,
tägliche Judenhetze« erwähnt, um dann umso nachdrücklicher
auszurufen: »Die Schranke des nationalen Israel ist niedergerissen,
die jahrtausendjährige Nacht des Kämpfens und Ringens hat ihr
Ende erreicht, der Morgen ist herangebrochen, alle Menschen sind Israel,
d. h. Gottesbekenner und Gotteskämpfer für Gerechtigkeit, Wahrheit
und Liebe« Am Ende wie am Anfang seiner Laufbahn – so Carsten
Wilke – habe Grünebaum am „Kern der messianischen Verheißungen“,
am “ ewigen Fortschritt der Menschheit zur allgemeinen Brüderlichkeit
und sittlichen Vollendung“ festgehalten.
Die Bewältigung schmerzhafter innerjüdischer Konflikte und
die Abwehr herabsetzender anti-jüdischer Kampagnen können also
in jüdischer Perspektive von zwei Seiten betrachtet werden. Man kann
die dunkle Tönung sehen, die Trauer und die Depression, man kann
aber auch die ganz helle, konstruktive Färbung sehen, als künftige
Versprechungen. Letztere erweisen sich als die Hauptsache — es ist
das Wissen darum, dass sich in der menschlichen Geschichte Gerechtigkeit
durchsetzen wird.
Hier also ist mein drittes Stichwort verankert. Die Gesamtkonzeption
der Sozialethik, die das deutsche Judentum im 19. Jahrhundert –
in Deutschland, in deutscher Sprache – schuf, war in dieser Kompaktheit
neu. Der Kampf um die Emanzipation hatte zu einer Neupositionierung des
Judentums in der Moderne, ja als Religion der Moderne geführt, wobei
wir so genannte 'theologische’ Differenzen einzelner Autoren getrost
vergessen dürfen.
Meine Damen und Herren,
ich möchte zum Schluss versuchen, zumindest den Kern dieser sozialethischen
Konzeption zu skizzieren, die im mosaischen Recht ebenso wie in Thora
und Talmud wurzelt. Auf den Kern verweist schon der nachdrückliche
Widerstand vieler Autoren, auch Grünebaums, gegen das, was insbesondere
die Scholastik des Mittelalters ins Christentum lanciert hatte: die aristotelischen
Theoreme über die menschliche Ungleichheit. Was sich hier bis in
die Neuzeit als Legitimation von Hierarchien und menschlicher Macht über
andere etabliert habe, sei unvereinbar mit der jüdischen Basis des
Christentums, mit der Lehre der menschlichen Gleichheit und der Pflicht
zur Gerechtigkeit.
In der Tat ist die anthropologische Sicht des Judentums dem hellenistischen
Dualismus zwischen Geist und Körper entgegengesetzt – mit erheblichen
ethischen Konsequenzen. Wenn das Böse keine nach außen zu verlegende
oder von außen wirkende Macht ist, sondern allein in der Verantwortung
jedes Einzelnen in seiner körperlich-seelischen Einheit liegt, dann
kann es in einer darauf aufgebauten Gesellschaft keine Sonderethiken geben,
die Vorrechte über andere legitimieren.
Mit diesem, aus dem mosaischen Rechtsverständnis entwickelten Primat
der gerechten Gesellschaft hatten Grünebaum, Philippson und andere
schon eine starke Antwort parat, als die industrielle Revolution begann
und erst recht, als sie zur sozialen Katastrophe wurde – aber diese
Antwort hatte keine Chance, gehört zu werden. Wohl gemerkt: Die erste
katholische sozialethische Enzyklika erschien erst 50 Jahre nach Beginn
der industriellen Umwälzungen und sie griff lediglich auf —
und dies nur als 'subsidiär’, nämlich als christliches
Mitleid — was einzelne mutige Kirchenleute angesichts der Not schon
von sich aus getan und geschrieben hatten. Die neuesten sozialethischen
Enzykliken gehen leider noch immer nicht weiter.
Demgegenüber vertritt Ludwig Philippson schon 1840 die These, dass
eine an individueller Verantwortung und Gerechtigkeit orientierte Gesellschaft
von vornherein im Auge hat, dass die Einzelnen keine Not leiden. Und tun
sie es doch, dann dürfen sie nicht von Mitleid abhängig sein,
dann ist Hilfe Pflicht. Nächstenliebe verpflichtet zu einer Gerechtigkeit,
die Not vermeidet, sie lässt nicht Ungerechtigkeit zu, um dann aus
Mitleid zu helfen. Damit steuert die jüdische Konzeption zwischen
den kapitalistischen und den kommunistischen Lösungswegen hindurch,
kann aber zugleich sozialistische und liberale Varianten integrieren.
Ich möchte kurz noch zwei konkrete Schauplätze des sozialethischen
Aufbruchs nennen: Zum einen hat die jüdische Frauenbewegung in der
zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts maßgeblichen Anteil daran
– und dies trotz der gegen sie agierenden antisemitische Polemik,
dass sich in Deutschland sehr hohe Maßstäbe in der öffentlichen
Wohlfahrtsarbeit durchsetzen konnten, die bis heute nachwirken.
Zum andern haben Vertreter der jüdischen Sozialethik seit der Wende
zum 20. Jahrhundert zuerst in Deutschland, dann in Palästina und
den USA, für maßgebliche Impulse für, der Gerechtigkeit
verpflichtete ökonomische Theorien gesorgt. Ein Vertreter war Franz
Oppenheimer in Frankfurt, bei dem Ludwig Erhard studierte und der indirekt
zum Vater des deutschen Konsensmodells der sozialen Marktwirtschaft wurde.
Die Kibbuz-Bewegung in Palästina versuchte, ein Modell zu realisieren,
das Basisdemokratie und ökonomische Gerechtigkeit verknüpfte.
Seit mehreren Jahren knüpfen zumeist angelsächsische Rabbiner
an der sozialethischen Tradition des deutschen Judentums des 19. Jahrhunderts
an, und damit am Erbe Grünebaums. Und wie es scheint, entdeckt auch
die neue Ethikbewegung in Israel den eigenen sozialethischen Reichtum
neu.
Gewiss, all dies sind kostbare Anknüpfungspunkte nach dem schrecklichen
Abbruch, der Shoah. Die wichtigste Öffnung steht aber wohl immer
noch weitgehend aus, nämlich jene der heutigen deutschen Gesellschaft
gegenüber dem Judentum, als Grundlage unserer Identität und
als Schritt der Aufarbeitung. Und nicht nur das: Angesichts der sich zuspitzenden
finanz-ökonomischen Weltlage kann ja vielleicht tatsächlich
die in 3 Jahrtausenden gewachsene Weisheit der jüdischen Sozialethik
den entscheidenden Fingerzeig geben.
Textquelle: http://www.disskursiv.de/2011/11/04/vortrag-elias-grunebaum-glaube-wahrheit-wissen/
Bildquelle: Stadtarchiv Landau
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Elias Grünebaum:
Die Sittenlehre des Judenthums anderen Bekenntnissen gegenüber:
Nebst dem geschichtlichen Nachweise über die Entstehung und
Bedeutung des Pharisaismus ... Edition der Ausgaben von 1867 und
1878
Neuauflage von 2010
336 Seiten
€ 39,90 |
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