Wir feierten gerade „Sukkoth“

Hanna Meyer-Moses berichtet von ihrer Deortation nach Gurs

Am Morgen des 22. Oktober 1940, ca. acht Uhr in der Früh, läutete es an unserer Wohnungstüre. Als meine Mutter öffnete, standen zwei Männer in Zivil vor ihr, die sich als Gestapo-Angehörige auswiesen und fragten, ob alle Familienangehörigen zu Hause seien. Wir feierten gerade „Sukkoth“, das Laubhüttenfest, weshalb wir Kinder Herbstferien hatten. Nachdem meine Mutter bejaht hatte, teilten ihr die Gestapo-Männer mit, es dürfe von nun an niemand mehr die Wohnung verlassen, wir sollten uns reisefertig machen, sie kämen in ca. einer Stunde wieder.

Meine Mutter weckte uns beiden Mädchen (ich war drei Wochen zuvor gerade 13 Jahre alt geworden, meine Schwester Susanne war 11), forderte uns auf, etwas Wärmeres als üblich anzuziehen und fing an zu packen. Um neun Uhr kamen die Gestapo-Leute wieder zurück und brachten einen älteren Schutzmann mit, der dann wider Erwarten meiner Mutter beim Packen zur Hand ging. Er entnahm den Vorräten des Küchenschrankes u. a. Mehl, Zucker und auch ein oder zwei Gläser Honig und packte alles in einen unserer Rucksäcke. Die Gläser gingen auf der Fahrt kaputt und der Honig hatte den restlichen Rucksackinhalt ganz verklebt. Wenn ich heute Honig sehe, habe ich diese klebrige Scherbenmasse vor Augen. Während meine Mutter packte, schickte mich einer der Gestapo-Männer mit allen uns noch verbliebenen Rationierungsmarken zum Milchhändler, dieser solle mir dafür Butter und Käse bis zum Monatsende geben, „ein Gestapo-Beamter habe es befohlen“, wie ich ausrichten musste. Unser Hausbesitzer führte eine Bäckerei im gleichen Hause und vor dem Weggehen brachte ihm meine Mutter noch einen Topf mit eingemachten Gurken. Sie befürchtete, die Gurken könnten während unserer Abwesenheit gären – dass es zu einer Rückkehr nicht mehr kommen würde, lag damals noch außerhalb des Vorstellungsvermögens meiner Eltern und gewiss auch vieler anderer Leidensgenossen. Der Bäckermeister gab uns dafür zwei oder drei große frische Brote, über die wir auf der Reise sehr froh waren. (….)

Die Karlsruher Juden wurden nicht auf dem Personenbahnhof versammelt, sondern im „Fürstenbahnhof“, einem tunnelartigen Durchgang, von wo aus die Bahnsteige erreicht werden konnten. Als wir dort ankamen, fanden wir schon viele unserer Bekannten und Mitschüler vor, die auf ihren Gepäckstücken saßen und warteten. Plötzlich erblickte ich Julius Hirsch, den Vater meiner Klassenkameradin Esther, die eine „arische“ Mutter hatte. Hirsch war ohne Frau und Kinder gekommen und erzählte uns, er könne wieder nach Hause zurück. Er verabschiedete sich und schritt zügig mit seinem Rucksack von dannen.

Im Laufe des Nachmittags wurden wir auf die Züge verteilt und die Fahrt ging los Richtung Süden. Wir fuhren in Personenwagen, nicht in Viehwaggons, wie bei den späteren Deportationen. Pro Wagen wurde ein Wagenchef ernannt; in unserem Abteil war dies Rechtsanwalt Dr. Alfred Kahn , ein Kollege meines Vaters und entfernter Verwandter meiner Mutter. Dieser hatte für Ordnung zu sorgen und hatte auch schon bald zu tun, denn pro Person durfte man nur RM 100.- mitnehmen, das übrige Geld sollte den Gestapo-Männern übergeben werden, die die Züge begleiteten. Da manche Leute mehr, andere wiederum weniger bei sich hatten, wurde schnell überschüssiges Geld an diejenigen verteilt, die zu wenig hatten. Dr. Kahn hatte dann später, nach der Kontrolle durch die Gestapo, dafür zu sorgen, dass die neuen Besitzer es behalten konnten!

Das Drama begann schon im Zug, besonders auch für die Alten und Kranken. Ich erinnere mich noch an einen älteren beleibten Mann, der vermutlich blasenkrank war und fast alle Viertelstunde an uns vorbei kam, um zum „Abort“ zu gelangen. In der Hand hielt er eine dunkelgrüne Flasche, die mich so beeindruckte, dass ich auch den Menschen, der sie hielt, bis heute nicht vergessen habe. Den ersten Halt machte der Zug im Bahnhof des elsässischen Mülhausen gegen sieben Uhr abends, wo vermutlich noch andere Leidensgenossen zu uns stießen. Gleich bei der Ankunft gellte ein Lautsprecher die folgenden Worte über uns hinweg: „Wer den Zug verlässt, wird erschossen!“ Langsam war klar geworden, dass wir in Richtung Frankreich fuhren. Unser Zug wurde u. a. auch von deutschen Rotkreuz-Schwestern begleitet und von Zeit zu Zeit erhielten wir etwas Verpflegung, solange sie dabei waren. Nach Erreichen der Demarkationslinie bei Chalôn-sur-Saone, die das nördliche besetzte Frankreich vom südlichen unbesetzten Teil trennte, erhielten wir nichts mehr, denn die französischen Behörden waren auf unsere Ankunft überhaupt nicht vorbereitet.

Kurz vor der Übergabe, von der wir allerdings nichts mitbekamen, wurden wir durch die deutsche Begleitmannschaft aufgefordert, die Zugfenster zu schließen, die Sonnenrollos herunterzulassen und uns nicht zu rühren. Der Zug hielt dann eine längere Zeit auf freiem Gelände. Es war merkwürdig still und auch als der Zug weiter fuhr, blieb es noch lange ruhig. Endlich erfassten wir, dass die Deutschen allesamt abgezogen waren und der Zug nun ohne Bewachung durch Frankreich fuhr.

Quelle: Hanna Meyer-Moses: Reise in die Vergangenheit. Eine Überlebende des Lager Gurs erinnert sich an die Verfolgung der NS-Diktatur, Ubstadt-Weiher 2009