Christen und Juden - Fremde Geschwister (I)
Historische Rückfrage
Dr. Stefan Meißner

Christentum und Judentum als Geschwisterreligionen

Man hat in der Forschung Judentum und Christentum häufig als Mutter- und Tochterreligion dargestellt. Daran ist sicher richtig, dass die Wurzeln des Judentums wesentlich weiter zurückreichen als die christlichen Anfänge. Doch dabei wird der wichtige Sachverhalt übersehen, dass wesentliche Charakteristika des heutigen Judentums erst in den ersten Jahrhunderten unserer Zeitrechnung, also parallel mit dem Christentum, entstanden sind. So kann man beides, Christentum wie Judentum, als unterschiedliche Antworten auf die gemeinsamen Herausforderungen dieser Epoche verstehen. Man spricht deshalb besser von Geschwister- oder Zwillingsreligionen als von Mutter - und Tocherreligion.

Entstehung des Diasporajudentums

Was waren die Fragestellungen dieser Epoche und wie sahen die unterschiedlichen Antworten darauf aus? Eine ernste Herausforderungen stellte die Zerstreuung der Juden über die ganze damals bekannte Welt und damit verbunden die Herausbildung eines Diasporajudentums dar. Das geschah in Ansätzen zwar schon während des babylonischen Exils im 6. Jhd.v.Chr., aber während damals kaum mehr als eine zahlenmäßig beschränkte Gruppe von Oberschichtangehörigen deportiert wurden, führten Flucht vor Kriegen und Hungersnöten, sowie Tod und Verschleppung um die Zeitenwende (Makkabäerkriege, jüd.-röm. Kriege) zu einer massiven Verschiebung der Zahlenverhältnisse zugunsten des Diasporajudentums. Dadurch änderten sich nun allmählich die religiösen Grundlagen des Judentums.

Verlust des Tempels

Neben (und später anstelle) des Jerusalemer Tempels trat als neue Institution die Synagoge, die Sakralraum, Schule und Gemeindezentrum zugleich war. Die gesellschaftlich führende Rolle der Priesterschaft wurde abgelöst durch die Rabbinen. Sie verhalfen nach 70 der pharisäischen Gesetzesauslegung zur allgemeinen Durchsetzung und schufen damit nach langer Zeit fast anarchischer Pluralität so etwas wie ein "Mainstream-Judentum". Dabei ersetzten Gebet und gute Werke nach der Zerstörung des Jerusalemer Heiligtums den Tempelkult.

Schiftliche und mündliche Tora

Neben der schriftlich fixierten Tora, den fünf Büchern Mose, trat gleichwertig die mündliche Tora. Diese schriftgelehrten Auslegungen wurden schließlich auch kodifiziert (Mischna, um 200, Talmud 600-800), wodurch das klassische Schrifttum entstand, das für fromme Juden bis heute normativ ist. Das Judentum, das aus den nationalen Katastrophen um die Zeitenwende hervorgegangen ist, ruht also auf drei Säulen: den Rabbinen, der Synagoge, und dem Talmud.

Verlust der staatlichen Unabhängigkeit

Die Neuformierung des Judentums hatte auch zur Folge, dass sich der Traum von einer politischen Selbstverwaltung der Juden für lange Zeit zerschlagen hatte. Das Gelobte Land, im AT noch wichtiger Glaubensinhalt, war verloren an fremde Mächte. Hoffnungen auf eine Rückkehr nach Zion wurden in einen eschatogischen Horizont gestellt und damit politisch entschärft.

Zurücktreten der Apokalyptik

Damit in Zusammenhang stand ein Zurücktreten apokalyptischer oder gar messianischer Strömungen, wie sie etwa die Zeloten, aber auch die Qumran-Sekte vom Toten Meer verkörperten. Niemand glaubte mehr daran, dass das Reich Gottes unmittelbar bevorstand. Zu oft waren die Erwartungen enttäuscht worden.

Misstrauen gegen alles Heidnische

Und schließlich führte der permanente Kampf gegen die Umwelt zu einem tiefsitzenden Misstrauen gegenüber allem Heidnischen. Gab es in vorchristlicher Zeit noch Versuche, das Judentum mit der griechisch-hellenistischen Kultur zu versöhnen (Philo, Josephus), so wurde nun die Besonderheit Israels inmitten der Völkerwelt herausgestellt. Dieser Partikularismus wurde oft als Arroganz missverstanden, aber wahrscheinlich war der Rückzug, oder sagen wir besser: die Konzentration auf das Eigene der einzige Weg, das Überleben des Judentums in einer feindlichen Umwelt zu gewährleisten.

Entstehung des Christentums

Das Christentum, das in der gleichen Zeit seine entscheidende Prägung erhielt, stand vor den gleichen Fragen wie seine Schwesterreligion, gab aber in mancher Hinsicht abweichende, ja entgegengesetzte Antworten darauf:

Kritik am Tempel

Auch im Christentum gehörte der Tempelkult nicht mehr konstitutiv zur religiösen Identität. Bereits vor seiner Zerstörung 70 n.Chr. formierte sich Kritik an seinen teilweise veräußerlichten Opferriten. Das beginnt bereits mit Jesu Tempelreinigung und setzt sich fort mit der Kritik des Stephanus, die ihn das Leben kostete (Apg 7). Während zu Jesu Lebzeiten noch kein konkurrierender Kultus etabliert wurde, entstand nach seinem Tod, besonders in den paulinischen Gemeinden, parallel zur Synagoge die Ekklesia, die Kirche. Der Gottesdienstablauf lehnte sich eng an das Vorbild der Synagogengottesdienste an (Schriftlesungen, Predigt, Lieder, Gebete), die ihrerseits Elemente aus dem Tempelkult weiterpflegten.

Entstehen des Neuen Testaments

Auch im Christentum wurden die alttestamentlichen Schriften neu akzentuiert und durch einen weiteren Korpus von Schriften ergänzt, den man später Neues Testament nannte.

Relativierung des Gesetzes

Anders aber als im Judentum stand im Christentum nicht die Tora im Mittelpunkt des Interesses, sondern der Messias, den man in der Person Jesu von Nazareth als bereits gekommen ansah. Dieser Glaube hatte etwas anarchisches, was über kurz oder lang alle Religionsgesetze relativieren musste: Wenn Gott durch seinen endzeitlichen Boten unmittelbar zu den Menschen spricht, wenn er ihnen seinen Geist schenkt und sie so zu Kindern Gottes macht - wozu brauchen sie dann noch Gebote und Weisungen, die im Vergleich dazu nur ein schwacher Abglanz der Herrlichkeit Gottes sein konnten? Dieser anarchische Zug macht sich vor allem dann bei Paulus bemerkbar, der auch noch in anderer Hinsicht wegweisend war.

Öffnung für die Heiden

Der Apostel war es gewesen, der zum ersten Mal Heiden gleichberechtigt in die Gemeinden aufnahm, ohne diese zur Beschneidung zu zwingen. Er setzte damit universalistische Tendenzen im (Diaspora-)Judentum fort, die aber (wie wir hörten) nach 70 gegenüber partikularistischen Bestrebungen zurücktrat. Vereinfacht kann man sagen: Während das Judentum die Mauern zwischen Juden und Nichtjuden (aus verständlichen Gründen) immer höher zog, machte sich das Christentum (ebenfalls aus nachvollziehbaren Gründen) daran, diese Mauern einzureißen. Damit war ein gravierender Wandel im Selbstverständnis gegeben: Kein Volk war man mehr, wo sich Zugehörigkeit über Abstammung definierte, sondern eine Glaubensgemeinschaft, offen für jeden, der bereit war, das Evangelium anzunehmen.

 

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