Bereschit: Im Anfang

Der Brudermord (1 Mose 4)

Eine Auslegung im christlich-jüdischen Kontext
von Stefan Meißner


Luther-Bibel 1545: Das Alte Testament / Das erste Buch Mose (Genesis)


Geschwisterstreit, immer wieder
Das Alte Testament wimmelt nur so von Geschichten über ‚sex and crime‘. Vielleicht war die Bibel über Jahrhunderte gerade wegen ihres zuweilen anstößigen Charakters so erfolgreich. Im ersten Buch Mose wird die ganze Menschheitsgeschichte als Familiengeschichte erzählt und immer wieder steht die Frage zur Debatte: Welcher Bruder ist der rechtmäßige Erbe und Verheißungsträger? Das fängt an bei Kain und Abel, wiederholt sich bei Jakob und Esau und zeigt sich erneut bei Joseph und seinen Brüdern. Nicht immer endet der Streit mit dem Tod eines der Protagonisten, aber auch in anderen Kulturen, nicht nur bei Kain und Abel, findet sich das Motiv vom Brudermord: In der Gründungslegende Roms tötet Romulus seinen Zwillingsbruder Remus, im altägyptischen Osirismythos ermordet Seth Osiris. Immer ist in diesen archetypischen Erzählungen Neid im Spiel. Oft ist der jüngere Bruder der „Gute“, der ältere hingegen der „Böse“. Meist gewinnt „der Kleine“ den Streit um Anerkennung und Besitz - ganz entgegen der Gepflogenheiten der damali¬gen Gesellschaft, wo traditionell der Erstgeborene erbte. Auch in unserer Geschichte ist der jüngere Bruder der „good guy“, erben tut er hingegen nicht. Er bleibt auf Strecke, wird am Ende zum Opfer. Zum Stammvater der künftigen Menschheit wird der „bad guy“ Kain.

Nomen est omen
Wie in den Kapiteln vorher sind die Namen der Protagonisten dieser Geschichte von hohem Symbolwert: „Kain“ wird von „qaniti“ (= „Ich habe gewonnen/erworben“) hergeleitet, denn Eva jubiliert nach der Geburt ihres Sohnes: „Ich habe einen Mann gewonnen mithilfe des HERRN“ (V. 2). Was für einen Mann? Der Ehemann ist vermutlich nicht gemeint. Eher drückt Eva hier die Freude über einen männlichen Nachkommen aus. Wer weiß, wie wichtig es in der Antike war, einen Sohn zu haben, wird diese Erklärung vorziehen, auch wenn „Mann“ (hebr.: isch) ein seltsames Wort für einen Säugling ist. Auch der Name ihres zweiten Sohnes „Abel“ (hebr.: hævæl) ist symbolträchtig. Er bedeutet übersetzt „Atem bzw. (Wind-) Hauch“, womit schon auf sein späteres Schicksal hingedeutet wird: Er wird ermordet und verschwindet so aus der Geschichte. Abel aber muss danach „jenseits von Eden“ leben, an einem Ort namens „Nod“. Auch dieser Ortsname ist voller dunkler Andeutungen: das hebräische Wort nod heißt soviel wie „Unterwegs“, „Wanderschaft“. Der Ackerbauer Kain lebt hinfort unstet, ohne festen Wohnsitz. Er wird zur Lebensweise seines Opfers, des Hirten Abel, verurteilt - ein durch Gott erzwungener Perspektivwechsel.

Erste Erkenntnisse
So fängt alles an: Adam und Eva „erkennen“ (jada´) einander, will sagen: Sie schlafen miteinander „und sie ward schwanger und gebar den Kain“. Eine erste semantische Erkenntnis aus dieser Geschichte: Körperliche Liebe hat etwas mit Erkenntnisgewinn zu tun. Eine spannende Detailfrage lautet: Wann ereigneten sich eigentlich Empfängnis und Geburt? Noch im Garten Eden, vor dem Sündenfall, oder hinterher? Die meisten jüdischen Ausleger antworten wie Raschi: „Bevor er gesündigt hatte und aus dem Garten Eden verstoßen worden war.“ Sexualität gehört zum Menschsein dazu, ja dazu war er doch gerade geschaffen worden. Augustinus und andere frühe Christen vertreten letzteres: Sexualität ist Resultat und Ausdruck menschlicher Sünde, alle Nachfahren Adams tragen den Makel der Erbsünde, quasi somatisch verankert, in sich. Hier zeigen sich die leibfeindlichen Züge des Christentums, die in der Geschichte immer wieder unschön zu Tage getreten sind. Immerhin – so betont der Apostel Paulus – hat Gott uns Menschen vom Makel der Sünde wieder erlöst: „Wenn wegen der Sünde des Einen [= Adam] der Tod geherrscht hat durch den Einen, um wie viel mehr werden die, welche die Fülle der Gnade und der Gabe der Gerechtigkeit empfangen, herrschen im Leben durch den Einen, Jesus Christus.“ (Röm 5,18). Da ist sie wieder, die typologische Auslegung der hebräischen Bibel, auch hier mit dem Anspruch einer Überbietung es „Alten“ durch das „Neue Testament“.

Kain ein Sohn des Teufels?
Am Ende des ersten Verses, wo Eva über ihren ersten Sohn jubelt, lauert ein Problem: In fast allen Übersetzungen, übrigens nicht nur deutschen, liest man „mithilfe des Herrn“. Das klingt nachvollziehbar, aber eigentlich steht im Urtext etwas anderes, nämlich „den Herrn“ (hebr.: ät-adonai). Das könnte als eine erklärende Apposition von „Mann“ gemeint sein, im Sinne von: „Einen Mann habe ich erworben, [also] jhwh“. Aber das ist schwer vorstellbar, dass Gott und Mensch hier einfach parallel gesetzt und damit identifiziert werden. Das wäre ein Verstoß gegen das erste Gebot. Es gibt eine Art Light-Version dieser Übersetzung, sie findet sich beispielsweise im Targum Pseudo-Jonathan: „..und sie [Eva] sprach: ‚Ich habe zum Mann erworben den Engel des Herrn‘“. Hier wird der Gottesname, das Tetragramm, abgeschwächt zu einem anderen Vertreter der himmlischen Welt: einem Engel. Das Neue Testament kann an diese Auslegung anknüpfen, wenn es in 1 Joh 3,11ff. Kain zu einem Sohn des Teufels macht, der ja bekanntlich ein gefallener Engel ist: „Das ist die Botschaft, die ihr gehört habt von Anfang an, dass wir uns untereinander lieben sollen, nicht wie Kain, der von dem Bösen stammte und seinen Bruder umbrachte. Und warum brachte er ihn um? Weil seine Werke böse waren und die seines Bruders gerecht.“ Kain wird hier als Negativbeispiel für die von Johannes propagierte Bruderliebe angeführt. „Der Böse“ (gr.: ho ponerós) in Vers 12 ist nach christlicher Tradition kein anderer als der, der schon Adam und Eva zur Sünde verführte: der Teufel: Das ist plausibel, nicht nur weil in Vers 10 ausdrücklich der Teufel (gr.: diábolos) genannt wird. Auch in der jüdischen Tradition gibt es Stellen, wo Samael, der in der rabbinischen Literatur mit dem Teufel identifiziert wird, als Vater Kains angesehen wird.

Kulturkampf: Ackerbauer gegen Hirte
Beide Söhne wachsen heran und erlernen unterschiedliche Berufe: Abel wird Schäfer, Kain aber ein Ackermann. Das muss nichts bedeuten, haben Geschwister doch öfter unterschiedliche Interessen und Veranlagungen. Doch könnten die Berufe den tragischen Fortgang der Geschichte erklären, der mit den zwei Opfern zu tun hat. Der amerikanische Schriftsteller Bruce Chatwin hat in seinem Roman „Traumpfade“ die entscheidende Szene als eine Art Kulturkonflikt inszeniert: Der nomadische Hirte gegen den sesshaften Ackerbauern: „Kain ist ein fleißiger Mann, gebeugt vom ständigen Graben. Der Tag ist heiß und wolkenlos. Adler schweben hoch oben im Blau. Die letzte Schneeschmelze stürzt noch in Kaskaden talwärts, doch die Berghänge sind schon braun und verdorrt. Fliegen kleben in seinen Augenwinkeln. Er wischt sich den Schweiß von der Stirn und nimmt seine Arbeit wieder auf Seine Hacke hat einen hölzernen Stiel, an dem ein Steinblatt befestigt ist. Irgendwo weiter oben am Hang ruht sich Abel in der Kühle eines Felsens aus. Er trillert auf seiner Flöte: immer wieder dasselbe eindringliche Trillern. Kain hält inne, um zu lauschen. Schwerfällig richtet er sich auf. Dann hebt er die Hand gegen das grelle Licht und blickt auf seine Felder längs des Flusses. Die Schafe haben die Arbeit eines Morgens zertrampelt. Er hat keine Zeit, nachzudenken, und beginnt zu laufen...“ Was danach kommt, der Leser ahnt es.

Ein Opfer ohne Herzblut?
Der Mord muss irgendetwas mit dem Opfer der beiden zu tun haben. Was genau, das ist umstritten. Auf vielen Bildern sieht man, dass bei Abels Opfer der Rauch schön senkrecht in den Himmel steigt, bei Kain aber verweht der Qualm eher horizontal. Ein klares Indiz, dass Gott das eine Opfer angenommen, das andere aber abgelehnt hat. Im Bibeltext steht freilich nichts näheres darüber. Die jüdische Religionswissenschaftlerin Ruth Lapide hat das zu der Vermutung verführt: „Der Kain sieht es nur so! Und das ist die Sünde, das ist das Vergehen. Niemand hat gesagt: ‚Pfui, Kain! Dein Opfer ist nicht schön.‘ Niemand hat das gesagt. Nur er selbst sieht es so“. Aber hat sich Kain das alles nur eingebildet? „Und der HERR sah gnädig an Abel und sein Opfer, aber Kain und sein Opfer sah er nicht gnädig an“ (V4f.). Das „Dass“ der Ablehnung von Kains Opfer ist also eindeutig, trotzdem stellt sich die Frage nach dem „Warum“. Was hat Gott nur gegen Feldfrüchte? Steht er mehr auf ein saftiges Steak? Wenn jemand „die Erstlinge seiner Herde“ opfert, so hat man spekuliert, dann begibt er sich ganz in Gottes Hand. Das eigens erwähnte Fett (4,4) gilt in der Antike als das Beste, was man Gott überhaupt anbieten kann. Vegetabile Opfer galten dagegen als zweitrangig. Gibt jemand etwas von seinen Feldfrüchten ab, ist das bei einer normalen Ernte kein wirkliches Opfer. War da bei Abel mehr Herzblut im Spiel als bei Kain? So könnte man auch den Hebräerbrief (11,4a) verstehen, der den entscheidenden Unterschied in der inneren Einstellung sieht, mit dem das Opfer dargebracht wurde: „Durch den Glauben hat Abel Gott ein besseres Opfer dargebracht als Kain.“ Der Midrasch meint, Kain habe nur „von dem Schlechtesten“ etwas abgegeben, „wie ein böser Gärtner, welcher die Frühfrüchte selbst isst“. Hier äußert sich das mangelnde Herzblut auch materialiter: Kain spart an seiner Gabe für Gott. Das kann nicht gut gehen.

Kain auf der Suche nach Liebe
Wie es weiter geht, hat schon früh Psychologen unterschiedlichster Schattierung auf den Plan gerufen. „Da ergrimmte Kain sehr und senkte finster seinen Blick“ (V.5b). Na, klar: Sein Frust ist groß. Er kann mit der Ablehnung seines Opfers nicht konstruktiv umgehen. Typisch Mann, sagen an dieser Stelle feministische Theologinnen, Probleme in sich rein zu fressen, bis man fast platzt. Das kann nicht gut gehen, denn Aggression ist immer die Folge einer Frustration - sagt zumindest der Behaviourismus. Und mangelnde Anerkennung ist eine der klassischen Ursachen von Frustration. Der katholische Theologe Eugen Drewermann geht noch einen Schritt weiter. Er sieht das Kernproblem darin, dass wir Menschen unseren Bruder, der von Natur aus besser ausgerüstet ist als wir „an die Wand stellen müssen auf dem Weg zur Rückgewinnung einer verlorenen Liebe. So sind die Gefängnisse der Welt voll von Mördern, die eigentlich nichts weiter wollten, als dass es jemanden gibt, der sie liebt. [..] Das Paradox [..] ist, dass wir beim Bemühen, Gottes Gunst zurückzugewinnen, zu mörderischer Konkurrenz untereinander antreten. Und wieder kommt die Moral zu spät.“ Das erinnert an ein Lied der Ärzte, die die Gewalt eines rechtsradikalen Skinheads auch als einen stummen „Schrei nach Liebe“ darstellten. Der Faschist musste in seinem Leben viele Kränkungen einstecken und dennoch bleibt er das „Arschloch“ in dem Songtext. Bei Drewermann klingt das ein wenig anders. Aus dem Titel seines Buches könnte man schließen, dass er ernsthaft über einen „Freispruch für Kain“ nachdenkt. Kann man so weit gehen? Einen Mord zu verstehen, kann nicht automatisch bedeuten, ihn zu rechtfertigen. Das sieht jedenfalls Hermann Cohen so: „Es steht in der Tat in der ganzen Menschheit Geschichte so, dass Gott die einen zu bevorzugen scheint vor den anderen. Nach diesem Scheine aber darf der Mensch nicht sein Verhältnis zu den Menschen einrichten.“ Recht hat er, auch wenn er es hätte einfacher ausdrücken können.

Der böse Trieb
Gott bemerkt rechtzeitig, was in Kain vorgeht und spricht ihn darauf an: „Wenn du fromm bist, so kannst du frei den Blick erheben. Bist du aber nicht fromm, so lauert die Sünde vor der Tür, und nach dir hat sie Verlangen; du aber herrsche über sie“ (V.7). Es ist dieser Vers das erste Mal, dass in der in der Bibel der Begriff Sünde (hier: chatat) fällt – nicht die Geschichte vom Sündenfall. Martin Buber versteht ihn als den „eigentlichste(n) Ruf eines Gotteswesens an den Menschen, sich für das ‚ Gute‘ zu entscheiden, das heißt, die Richtung auf das Göttliche anzunehmen.“ Doch der Angesprochene geht auf die Warnung gar nicht ein. Er lockt seinen Bruder auf das Feld, wo sie niemand sieht, und schlägt ihn tot. Der Midrasch deutet die Sünde, die bei Kain „vor der Tür“ lauert, als den bösen Trieb (hebr.: jezer ha-ra‘). Das ist eine negative Disposition, die nach Ansicht der Rabbinen dem Menschen schon von Geburt an mitgegeben ist. Anders aber als bei der christlichen Erbsündenlehre ist der Mensch im Judentum aus eigener Kraft in der Lage, diesen bösen Trieb zu besiegen.
Nicht nur die jüdische Tradition, auch die von Sigmund Freund begründete Psychoanalyse kennt so etwas wie einen Todestrieb im Menschen, eine Aggression, die auf das eigene ‚Ich‘, aber auch auf andere gerichtet sein kann. Freud hätte Kain vermutlich empfohlen, seinen Ärger abzureagieren statt ihn hinunterzuschlucken: „Geh erst mal joggen, bevor du dich deinem Bruder näherst. Danach geht es dir wieder besser.“ Aber Kain hätte diesen Rat sicher genau so verworfen wie den, den Gott ihm gab. Der Midrasch hat einen anderen Rat, denn er weiß, den bösen Trieb kann man am besten in den Griff bekommen, wenn man ihm rechtzeitig entgegentritt: „Anfangs ist der böse Trieb so schwach wie ein Weib, nachher aber wächst er und wird stark wie ein Mann. (..) Anfangs gleicht er dem Faden eines Spinngewebes, am Ende wird er so stark wie ein Schiffstau“.

Der Kleine nervt
Trotzdem fragt man sich: Wie konnte das passieren? Wie konnten die Gefühle in Kain so hochkochen? Der Midrasch vermutet, Kain und Abel hätten sich schon früher öfter gestritten. Er malt sich aus, wie sie sich die Welt aufgeteilt haben: „Der eine nahm das Unbewegliche [= die Felder] und der andere das Bewegliche [= die Tiere]. Der eine sagte: ‚Die Erde, worauf du stehst, ist mein‘, und der andere sagte: ‚Die Kleider, die du trägst, sind von der Wolle meiner Schafe‘“ (BerR Par. XXII. zu 1 Mose 4, 8) So ging es hin und her, bis die Lage eskalierte. Das ist denkbar, dass der Geschichte vom abgelehnten Opfer schon etwas vorausgegangen war. Vielleicht war Kain ja seines Bruders schon länger überdrüssig. Er war der ältere Bruder. Da könnte doch gut sein, dass er genervt war von dem Kleinen. So lange er denken konnte, musste er den Kopf hinhalten für den Kleinen, wenn der etwas ausfraß. Das würde jedenfalls erklären, warum Kain so gereizt reagiert, als Gott ihn fragt, wo sein Bruder Abel ist. „Soll ich meines Bruders Hüter sein?“, platzt es aus ihm heraus. Sein ganzes Leben schon musste er auf den kleinen Balg aufpassen. Er war ihn schon lange leid – und jetzt schuf ihn aus der Welt. Voila, Problem gelöst! Möglicherweise hat Kain seinen Mord sogar als Selbstverteidigung verstanden. Das hebräische Verbum „vajaqom“ (wörtl.: „er erhob sich“, „er stand auf“) kann auch „sich auflehnen“ oder „sich wehren“ bedeuten. Er kann nichts dafür. Abel war selbst schuld.

Die Schuld Gottes?
Man kann die Frage nach der Schuld noch ganz anders beantworten: Nicht Kain, sondern Gott war schuld. In diese Richtung tendiert im Midrasch kein geringerer als Rabbi Schim´on. Er vergleicht die Geschichte von Kain und Abel mit dem Kampf zweier Gladiatoren vor einem Herrscher. Der Herrscher, also Gott, könnte den Kampf jederzeit abbrechen – das tut er aber nicht. Plaut fragt zu recht: „Ist er nicht, durch sein Schweigen, an dem Mord beteiligt?“ In der Literatur der Neuzeit lässt sich zuweilen sogar eine gewisse Sympathie der Autoren mit dem rebellischen Brudermörder beobachten. So zeichnet beispielsweise der englische Romantiker Lord Byron in seinem Stück „Kain. Ein Mysterium“ (1866) ein Bild von Kain als „einen in sich zerrissenen Menschen und intellektuellen religiösen Zweifler, der kultische Rituale wie Opfer und Gebet ablehnt“. Er klagt Gott an, weil die Kinder unschuldig für das Vergehen ihrer Eltern leiden müssen. Der Mord an dem frommen Abel erfolgt nicht aus Neid, sondern im Affekt. Gott hätte ihn verhindern können. Auch bei dem portugiesischen Literaturnobelpreisträger José Saramago wirft Kain Gott vor, er sei schuld, habe er doch ohne Grund sein Opfer abgelehnt: „Diese Rede ist [..] Frevel, mag sein, aber jedenfalls nicht größer als deiner, der du zugelassen hast, dass Abel stirbt. Du hast ihn getötet“. Der Autor geht sogar noch weiter, indem er Abel als Ersatzobjekt für Kains Hass stilisiert, der eigentlich Gott selbst gegolten habe: „Ich habe Abel getötet, weil ich dich nicht töten konnte, doch meiner Absicht nach bist du tot.“ Kain wird hier zum ersten Atheisten, der wie Nietzsche über den Tod Gottes nachdenkt, auch wenn er ihn nicht in die Tat umsetzt. Jüdische Schriftsteller gingen selten so weit, doch gibt es Ausnahmen wie der israelische Lyriker Jechiel Mar, der nur wenige Jahre nach dem Holocaust und nach den Schrecken des Unabhängigkeitskriegs ganz im Stile des klagenden Hiob Gott vor die Frage stellt: „Wo warst du, großer Gott, du, der alles sieht, du, unser beider Herr inmitten des Feldes [..]. Dass du mir auf dem Feld eine Falle gestellt hast stimmt. Denn du hast mich gesehen und geschwiegen.“

Der erste Religionskrieg?
Manche der psychologischen Mechanismen aus 1 Mose 4 kennt man aus dem Jahrhunderte alten Konflikt zwischen Christentum und Judentum, den beiden Geschwisterreligionen. Kein Wunder, dass die Geschichte von Kain und Abel in beiden Religionen als Veranschaulichung des gegenseitigen Verhältnisses gedeutet wird. Das geschieht natürlich unter entgegengesetzten Vorzeichen, denn der Böse - also Kain - das ist immer der andere. Für Elie Wiesel war der erste Streit in der Menschheits¬geschichte zugleich der erste Religionskrieg. Er bezieht sich zur Begründung seiner steilen These auf einen Wortwechsel im Midrasch, bei dem jeder der beiden Brüder behauptet: „Auf meinem Gebiete wird einst der Tempel erbaut werden“. Nach 1 Mose 4,8 findet der Mord nämlich auf einem ‚Feld‘ bzw. ‚Acker‘ statt. Den Rabbinen war aufgefallen, dass hier das gleiche hebräische Wort fällt wie in Micha 3,12 (schadäh) und dort geht es um den Zion und den Tempelberg. Bis heute streiten die Religionen um den Tempelberg, vor allem Juden und Muslime, genau wie damals Kain und Abel.

Der erste Völkermord?
Aber auch die Christen beteiligen sich an diesem Streit um das väterliche Erbe: Schon die Kirchenväter sahen im Tod Abels den Märtyrertod Christi vorweg¬genommen. Indem man Kain mit den Juden identifizierte, projizierte man den Gottesmordvorwurf in alttestamentliche Zeiten zurück. Die Juden hätten Christi „Hüter“ sein sollen, aber sie haben behauptet, ihn nicht zu kennen. Kein Wunder, dass sie wie Kain eine ruhelose Existenz führen müssen, immer auf Wanderschaft. Kain präfiguriert also in patristischer Deutung bereits das Schicksal des ewig wandernden Ahasver, der im Spätmittelalter dann zum Sinnbild des von Gott geschlagenen Juden wird. Umgekehrt sahen sich viele Juden in der Geschichte als Nachfahren des Märtyrers Abel. Im 20. Jahrhundert haben sie den Judenmord im Dritten Reich im Lichte dieses Geschwisterstreites zu verstehen versucht. Eli Wiesel spricht nicht nur vom ersten Religionskrieg, sondern auch vom ersten Genozid in der Geschichte. Eine Hälfte der Menschheit schlachtet die andere Hälfte ab. Als der Holocaust-Überlebende im Jahr 2000 zum Jahrestag der Befreiung von Auschwitz vor dem Deutschen Bundestag spricht, appelliert er, es sei „höchste Zeit […], dass Kain aufhört, seinen Bruder Abel zu ermorden.“ Noch ist kein Ende in Sicht, das Morden zwischen den Weltreligionen geht weiter.

Doch noch ein Happpy End?
Kain wird bestraft für sein Handeln. Das war zu erwarten, nicht weil der Gott des Alten Testaments ein eifernder, strafender Gott ist, sondern weil es schlicht Sinn macht. Denn würde Kain straffrei ausgehen, würde das ein „Lernen am Erfolg“ ermutigen. Andere würden sich sein Tun vielleicht abschauen, wenn es keine negativen Folgen mit sich bringt. Im Mittelalter mussten die Juden ein Zeichen auf ihrer Kleidung tragen, meist ein gelber Kreis. Die Christen sahen das als ein Kainszeichen, das ihre Schuld und ihre Schmach zum Ausdruck bringen sollte. Doch mit diesem Mal will Gott Kain nicht bestrafen, sondern im Gegenteil vor Rache schützen. Wie man sich das Zeichen konkret vorstellen kann, darüber gehen die Meinungen auseinander: Rabbi Nechemia vermutet – nicht sehr schön - so etwas wie Aussatz, Rabbi Chanaja spricht weit positiver von einem „Zeichen für die Bußfertigen“. Jedenfalls durchbricht Gott mit dem Kainsmal die Gewaltspirale und vermeidet so ein „Lernen am Vorbild“. Denn wie man weiß erhöht jede Aggression die Wahrscheinlichkeit weiterer Aggression. Es gilt aber auch das umgekehrte: Man kann Gewalt auch ent-lernen. Und tatsächlich heißt es am Ende des Midrasch, Kain habe seine Tat bereut: „Ich habe Buße getan und in Folge dessen bin ich freigesprochen worden.“ (GenR zu IV, 16) Durch die Kraft der Umkehr (hebr. teschuva) hat die Geschichte doch noch ein kleines Happy End gefunden. So wird Kain selbst zu einem Zeichen (hebr.: le-kaijn `ot), das die Menschen vor dem Bösen warnt.


Artikel mit Fußnoten zum Herunterladen als pdf

Bildquelle:
http://images.zeno.org/Literatur/I/big/lb10031a.jpg

 

Links

Stefan Meißner hat sich auch mit den beiden Schöpfungsgeschichten im chr.-jüd. Kontext beschäftigt:
Hier geht es zum ersten Schöpfunsbericht (1 Mose 1,1-2,4)
Hier geht es zum zweiten Schöpfunsbericht (1 Mose 2+3)

Kain und Abel spielen auch eine Rolle in einem Vortrag über "Christen und Juden - Fremde Geschwister".

 

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Bilder: Stefan Meißner (C)