Bereschit: Im Anfang
Der erste Schöpfungsbericht
(1 Mose 1,1-2,4)
Eine Auslegung im christlich-jüdischen Kontext
von Stefan Meißner
„...was nie geschehen und was jederzeit geschieht“
Der erste Schöpfungsbericht (1. Mose 1) ist genau so wenig ein Bericht,
wie es 1. Mose 2 ist. "Bericht" vermittelt den falschen Eindruck,
als habe jemand dem lieben Gott bei der Erschaffung der Welt über
die Schulter geschaut, wie er das "damals" so angestellt hat.
Doch abgesehen davon, dass es bei der Erschaffung der Welt noch keine
Beobachter gegeben hat, die das Beobachtete dann hätten aufschreiben
können, gibt es streng genommen überhaupt kein "Damals"
- jedenfalls kein "Damals" im historischen Sinn. Es geht hier
in der "Urgeschichte" - wie oft in der Hebräischen Bibel,
unserem Alten Testament - nicht um Geschichte (history), sondern um Geschichten
(story). Die "Urgeschichte" handelt wie andere Texte der Bibel
von etwas, "was nie geschehen und was jederzeit geschieht" (Sallust,
Peri theon kai kosmou, IV,9). Mit diesen Worten definiert der römische
Schriftsteller Sallust den Begriff „Mythos“, der bei uns heute
einen so abwertenden Beigeschmack hat (im Sinne von: nur erfunden), der
aber bei Griechen und Römern als eine Möglichkeit galt, sich
narrativ der Wahrheit anzunähern.
Der Anfang aller Dinge
Es geht hier nicht um einen „Anfang“ im Sinne eines "Vorher"
und "Nachher", sondern um Grundkonstanten unserer Welt, die
allgemeingültig und deshalb zeitlos sind. Das zeigt sehr schön
ein Übersetzungsvergleich: Die lateinische Vulgata übersetzt
das hebräische „be-reschit“ nicht mit "in initio"
(„Im [zeitlich verstandenen] Anfang“), sondern mit "in
principio" („im Grundsatz“). Schon beim griechischen
"en arché" der Septuaginta klingt die große alte
philosophische Frage der Vorsokratiker an, was die "arché",
der Urgrund aller Dinge, sei. Nicht "im Anfang" (und schon gar
nicht "am Anfang"), sondern "im Grunde" müsste
man also hier übersetzen - oder sprachlich vielleicht etwas schöner:
"Als Grund(lage) von allem (weiterem) schuf Gott Himmel und Erde“.
Hier droht schon das nächste Missverständnis, als ginge die
Erschaffung von Himmel und Erde den anderen Schöpfungswerken voraus.
Das ist schon rein sprachlich unwahrscheinlich, wie der mittelalterliche
jüdische Toragelehrte Raschi treffsicher
feststellte. Er übersetzte deshalb in seinem Pentateuchkommentar:
"Am Anfang der Erschaffung von Himmel und Erde, als die Erde noch
wüst und öde und Finsternis war, da sprach Gott, es werde Licht."
Das erste Schöpfungswerk sind nicht Himmel und Erde, sondern das
Licht. Vers 1 ist nicht als Anfang des Geschehens zu verstehen, sondern
eher als Überschrift über die ganze erste Schöpfungsgeschichte.
Urelement Wasser
Dass der Geist Gottes über den Wassern schwebte (2b), zeigt, dass
auch an einem weiteren kirchlichen Dogma wenig dran ist: der Erschaffung
der Welt aus dem Nichts (creatio ex nihilo). Der Gedanke ist nachvollziehbar,
dass man Gott zum Schöpfer aller Dinge machen wollte. Da passte es
nicht ins Konzept, dass bereits einige Dinge vor der Schöpfung existierten.
Doch schaut man genau hin, war durchaus schon etwas da, bevor "es
los ging": nämlich Wasser. Das allerdings in einer Form und
einem Ausmaß, dass man von der Erde als einem "Tohuwabohu"
sprechen musste. Im Zweistromland zwischen Euphrat und Tigris, wo dieser
priesterliche "Bericht" im 6. Jhd.v.Chr. entstand, gibt es Gegenden,
wo das nasse Element so dominant ist, dass es lebensfeindlich zu werden
droht. Geordneter Ackerbau ist dort nur möglich in Zeiten, in denen
das Wasser zurückweicht und das trockene Land hervortritt. Genau
das wird dann auch in Vers 9 berichtet: „Und Gott sprach: Es sammle
sich das Wasser unter dem Himmel an besondere Orte, dass man das Trockene
sehe. Und es geschah so.“
Entzauberung der Welt
Der biblische Schöpfungsbericht verzichtet übrigens darauf,
anders etwa als der babylonische Mythos „Enuma Elisch“, das
lebensbedrohliche Wasser als konkurrierende Gottheit zu stilisieren. Kein
Chaosdrache bedroht das Leben, sondern allein ein unbelebtes Element,
auch wenn das hebräische „tehom“ vielleicht tatsächlich
als Anklang an die heidnische Göttin Tiamat verstanden werden kann.
Ebenso sind auch die Himmelskörper, die am vierten Schöpfungstag
erschaffen werden, keine Gottheiten, sondern nur „Funzeln“,
deren Aufgabe es einfach ist, hell zu machen und Orientierung zu ermöglichen.
Diese Entzauberung der Natur, die in der antiken Umwelt noch sehr weitgehend
als belebt vorgestellt wird, hat man nicht ohne Recht einer Art „Aufklärung“
im Denken der alten Hebräer zugeschrieben.
Kosmos statt Chaos
Bevor Gott Ordnung schafft, ist die Erde ein "Tohuwabohu", ein
völliges Chaos und keineswegs "wüst und leer", wie
Luther wenig treffend übersetzt hat. Das Chaos ist der eigentliche
Feind des Lebens. Leben entsteht, indem tote Materie Struktur erhält.
Gott erschafft also die Welt, indem er – salopp gesagt - erst einmal
aufräumt und so das Chaos zum "Kosmos" (griech.: Schmuck,
Schönheit, Ordnung) macht. Man könnte es auch philosophisch
ausdeuten, was da in den ersten Versen der Genesis geschieht: Der Schöpfer
stellt zunächst die Kategorien Raum (Himmel/oben - Erde/unten) und
Zeit (hell/Tag - dunkel/Nacht) zur Verfügung, quasi als Grundausstattung
dieser Welt. Erst innerhalb dieser Kategorien ist Leben vorstellbar. Das
können uns die beiden ersten Schöpfungstage vor Augen führen.
Ein solcher Denkansatz passt auffällig gut zu einer modernen Kosmologie,
die davon ausgeht, Raum und Zeit seien gleichzeitig entstanden: im Verlauf
des Urknalls nämlich. Wenn das stimmt, gibt es keine Zeit vor der
Schöpfung und die alte Frage, was Gott gemacht habe, bevor er die
Welt erschaffen hat, wird hinfällig, weil sie sich als sinnlos erweist.
Das ahnte wohl auch schon Luther - lange vor der Urknall-Theorie, - als
er auf diese Frage spöttisch antwortete: „Er hat Ruten geschnitzt
für die Leute, die so dumme Fragen stellen“.
Vergängliches Weltbild – bleibender
Wert?
Diese Affinität von Schöpfungsgeschichte und Naturwissenschaft
sollte uns allerdings nicht den Blick dafür verstellen, dass an anderer
Stelle das Weltbild dieser Texte noch meilenweit von unserem heutigen
Denken entfernt ist. Das sieht man beispielsweise an der biblischen Rede
von einer "Himmelsfeste" (lat.: firmamentum), die Gott einzieht,
um die Erde vor dem Nass von oben zu schützen. An dieser wohl als
eine Art Käseglocke gedachten Kuppel sieht man: In naturwissenschaftlicher
Hinsicht ist der Text überholt - so wie auch unser heutiges Wissen
einmal irgendwann überholt sein wird. Deshalb wäre es naiv,
zu behaupten: Genau so habe sich alles zugetragen, wie es in den Schöpfungsberichten
steht.
Der bleibende Wert dieser Texte muss an anderer Stelle liegen. Die Bibel
als Konkurrenz zu Biologie- oder Geschichtsbuch aufzubauen, wie fanatische
Frömmler beiderseits des großen Teiches das heute tun, geht
an der "Sache" vorbei. Worin besteht aber die "Sache"?
Warum liest man diese alten Texte noch, wenn doch ihr Weltbild offensichtlich
überholt ist? Worin besteht dann noch ihr bleibender Wert?
Alles war gut
Es sind die „Warum“-Fragen, die Sinnfragen, die immer noch
aktuell sind, weniger die „Wie-Fragen“. Wie die Welt entstanden
ist und alle Kreatur auf ihr - das lassen wir uns besser von einem Biologie-
oder Erdkundelehrer erklären als von einem fundamentalistischen Prediger,
der die Wahrheit der Bibel auf der falschen Ebene sucht. Aber warum das
alles so geworden ist, dass man auch heute noch - bei aller Gebrochenheit
der Schöpfung - sagen kann: „Und siehe, es war alles sehr gut“
– das vermag uns eine Naturwissenschaft, die ihre Grenzen erkennt,
nicht zu sagen. Wer oder was die innere Triebfeder dieser wunderbaren
Entwicklung ist, an der wir mitgestaltend teilhaben dürfen –
das erfahren wir aus der Bibel: Die Welt ist, was sie ist und wie sie
ist, weil Gott sie so gewollt hat. Er hat sie erschaffen und hält
sie auch heute noch „in seiner Hand“.
Nicht Gottesbeweis, aber Gotteshinweis
Diese Gewissheit gibt Halt und Orientierung in einem sonst ganz schön
unübersichtlichen Universum, in dem wir realistisch betrachtet kaum
mehr als Sternenstaub sind. Zugegeben: Diese durchaus optimistische Weltsicht
ist nicht selbstevident. Einen Gottesbeweis wird in der Schönheit
und Zweckmäßigkeit der Welt heute niemand mehr sehen können,
aber könnte es nicht wenigstens ein Hinweis dafür sein, dass
es in unserem Leben vielleicht doch „mehr als alles“ gibt?
Dass das Ganze mehr ist als die Summe seiner Teile? Die Welt ist kein
Nullsummenspiel. Das zu wissen, tut gut.
Natürlich kann man alles auch ganz anders sehen: „Kritische“
Zeitgenossen schreiben die Schönheit und Zweckmäßigkeit
der Welt mal dem Zufall, mal der Selbstorganisation der Natur zu. Doch
wer oder was ist das eigentlich: „Zufall“ oder: „Natur“?
Entlarvt sich solche scheinwissenschaftliche Redeweise nicht doch bei
genauerem Hinsehen als ein Religionsersatz, bei dem abstrakte Begriffe
fast personalen Charakter bekommen? Sie zeigt die uneingestandende Sehnsucht
des Atheismus nach Sinn und Ziel bei gleichzeitiger Unfähigkeit,
beidem einen Ort und einen Namen zu geben. So bleiben die in Natur und
Geschichte wirkenden Kräfte nichts weiter als ein unberechenbares,
gnadenloses Fatum (lat.: fatum = Schicksal, oft auch personifiziert).
Der Ruhetag als Abschluss der Schöpfung
Bevor ich mich allzu sehr in Grabenkämpfe zwischen den ganz Frommen
und den ganz Gottlosen verzettle, will ich zu unserem Text zurückkehren,
um dessen bleibende Relevanz an anderen Beispielen aufzuzeigen. Da ist
zum Beispiel die Frage nach der Krone der Schöpfung. Nimmt man den
Text ernst, muss man bezweifeln, ob wir Menschen es sind, denen dieses
Attribut zukommt. Zwar wird der Mensch als letztes Wesen geschaffen, der
Schöpfungsbericht läuft aber weniger auf den Menschen als auf
den Sabbat hinaus, der als Ruhetag Gottes die Schöpfung erst zur
Vollendung bringt. Erst im Nichts-Tun Gottes am siebten Tag vollendet
sich das Schöpfungswirken Gottes. So schöpft auch unser menschliches
Tun - das ist hier mehr vorausgesetzt als explizit gesagt – immer
wieder aus dem Nichts-Tun und bleibt darauf notwendigerweise bezogen.
Wie das Ein- und Ausatmen gliedert der stetige Rhythmus von Arbeit und
Ruhe unser Leben und erst beides zusammen macht unser Mensch-Sein aus.
Mensch und Tier
Weiterhin fällt auf, dass nicht allein der Mensch, sondern auch die
Landtiere am sechsten Tag erschaffen wurden. Was die Autoren damals noch
nicht wissen konnten: Mit ihnen teilen wir weit über 90% unserer
DNA, was uns hinsichtlich unserer Sonderstellung in der Natur ein wenig
bescheidener machen sollte. Diese Sonderstellung gibt es natürlich
– auch die Bibel konstatiert sie ausdrücklich. Aber angesichts
der Verbrechen an seinen Mitgeschöpfen, die der Mensch zu verantworten
hat, sei hier zunächst einmal ein Blick auf das Verbindende gerichtet.
Es besteht etwa darin, dass Gott auch die Tiere „segnet“ und
sie auffordert, sich zu vermehren und die Erde zu besiedeln (1,22). Ach
wenn kurz darauf davon die Rede ist, der Mensch solle über die Tiere
„herrschen“ (1,28), so schließt das doch wohl ein, dass
auch diesen Geschöpfen ein genuines Recht auf einen geschützten
Lebensraum zukommt. Schließlich sollte nicht übersehen werden,
dass in 1,29 dem Menschen ausschließlich pflanzliche Nahrung zugedacht
wird. Vom späteren Fressen und Gefressen-Werden weiß die ursprüngliche
Schöpfung Gottes noch nichts – geschweige denn von der heutigen
Massentierhaltung, die ein böser Frevel an unseren Mitgeschöpfen
darstellt.
Die Gottesebenbildlichkeit des Menschen
Wenn nun zum Schluss dann doch noch von unserer Sonderstellung gegenüber
der übrigen Schöpfung zu reden ist, dann nicht, um das bisher
Gesagte zu revidieren. In 1 Mos 1,27 wird dem Menschen etwas zugesprochen,
was nach der biblischen Überlieferung keinem anderen Geschöpf
zukommt: die Gottesebenbildlichkeit: „Und Gott schuf den Menschen
zu seinem Bilde, zum Bilde Gottes schuf er ihn.“ Das hebt zunächst
auf unser Verhältnis zu Gott ab, allerdings nicht so, wie man Jahrhunderte
lang gedacht hat: als habe Gott Menschengestalt. Auch geht es nicht darum,
dass Gott wie wir Menschen auf Kommunikation, auf ein lebendiges Gegenüber,
angelegt ist.
Menschenwürde und Menschenrechte
Wenn die modernen Ausleger Recht haben, meint der erste hebräische
Begriff, den Luther hier mit „Bild“ wieder gibt („zelem“),
eigentlich: „Kultstatue“ oder „Götterbild“.
Wir sind dann nichts weniger als Gottes Repräsentanten auf der Erde
– und zwar jeder Mensch. Das dürfte die Pointe dieser Stelle
sein, dass allen Menschen in gleicher Weise diese Würde zukommt -
und nicht nur dem König oder dem Pharao, wie das die antiken Machthaber
gerne von sich behaupteten. Aus der Gottesebenbildlichkeit hat man später
die Idee einer unverlierbaren Menschenwürde samt der aus ihr resultierenden
Rechten abgeleitet - leider nicht immer mit Unterstützung der verfassten
Kirche.
Als sei den Autoren der Genesis glühend heiß das Bilderverbot
eingefallen, schieben sie einen zweiten Begriff nach, der das doch recht
massive zelem etwas zu korrigieren scheint: Der Mensch ist nur ein Gleichnis
(„demuth") Gottes. So bleiben Gottes Geheimnis und seine Transzendenz
unangetastet, ohne dass der erste Gedanke der Repräsentation damit
entkräftet wäre. Schade, dass man in der deutschen Übersetzung
hier nur zweimal etwas von „Bild“ liest.
Als Mann und Frau...
Dass der Vers endet: „...als Mann und Frau erschuf er sie“,
kann leicht als Banalität aufgefasst und übersehen werden. Nicht
so, wenn man es als Erläuterung der vorangehenden Aussage von der
Gottesebenbildlichkeit sieht. Man hat sich gefragt: Vereint Gott etwa
die beiden Geschlechter Mann und Frau? Andere Religionen wie etwa der
Hinduismus kennen durchaus androgyne Gottheiten, die „Mann und Frau“
zugleich sind – oder eben keines von beidem. In Gott – so
könnte man folgern - sind die Polaritäten, die sonst unser Leben
kennzeichnen, aufgehoben. Ein spannender Gedanke, sofern dabei die Hierarchie
von Urbild und Abbild nicht auf den Kopf gestellt wird: Die Rede von Mann
und Frau sagt an dieser Stelle zu aller erst etwas über uns Menschen
aus: Wo eines der beiden Geschlechter ausgegrenzt oder gar unterdrückt
wird, kann nicht von Gottes guter Schöpfung die Rede sein. In der
Praxis heißt das heute zumeist: Wir Männer müssen teilen
lernen. Nur Gemeinsam sind wir Menschen Gottes Ebenbild, eben: "als
Mann und Frau".
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