Der 9. November aus der Sicht einer Jüdin
Rede zur offiziellen Gedenkfeier der Stadt Ludwigshafen

von Schoschana Maitek-Drzevitzky

Was fällt Ihnen zum 9.November ein? Eine häufig gestellte Frage, auf die ich spontan antworte: Feuer, johlende Jugendliche, grölende Uniformierte, geschlagene, getretene Menschen, Gebetbücher und Thora-Rollen im Dreck, neugierige Zuschauer, Bürger, die betreten, beschämt oder zornig wegschauen. Man kennt diese Bilder.

Aber es fällt mir auch ein, die zweimalige Ausrufung der Republik 1918, der Hitlerputsch 1923, der Fall der Mauer 1989. Diese Ereignisse stehen in einem kausalen historischen Zusammenhang.

Aber es fällt mir auch ein – Lippenbekenntnisse bei Gedenkfeiern, Pflichtveranstaltungen, die es zu absolvieren gilt, Schülergestöhne „schon wieder dieses Thema“, Unsicherheit, ob man überhaupt diesen Gedenktag braucht, denn einerseits schwindet die Anzahl der Zeitzeugen, andererseits ist die Wiedervereinigung näher dran an unserer Erfahrungswelt.

Also muss die Frage anders gestellt werden – brauchen wir einen Gedenktag zur Reichspogromnacht?

Hierauf kann die Antwort nur lauten – ja, unbedingt. Es geht darum, ein Zeichen zu setzen, dass die Bürger nicht bereit sind wegzuschauen. Es geht darum wieder ins Bewusstsein zu rufen, dass solch eine Diktatur nie wieder Fuß fassen darf, es geht um die Stärkung der Demokratie.

Bekanntlich will und muss jede Generation ihre eigenen Fehler machen. Unsere Aufgabe sollte es sein, davor zu warnen, dass faschistisches Gedankengut wieder attraktiv wird. Je weiter die Pogromnacht in die historische Vergangenheit rückt, desto schwieriger wird es, das Fanal der brennenden Synagogen richtig einzuschätzen und einzuordnen. Was gehen uns ein paar brennende Gebäude an? Diese zynisch titulierte Kristallnacht, hat den ihr folgenden Grausamkeiten die Pseudolegitimation geliefert. Wenn Bücher brennen, Gebäude brennen, dann können auch Menschen brennen. Wenn Menschen ihrer Würde, ihrer Daseinsberechtigung beraubt werden, dann kann man sie auch aus dem kollektiven Gedächtnis löschen. Zum Glück ist das nicht gänzlich gelungen. Trotzdem ist ein Aspekt für mich nicht nachvollziehbar und er hat viel mit dem Wegschauen zu tun.Hat der Nachbar wirklich nicht bemerkt, wenn die jüdische Familie vom Stockwert drüber von einer Nacht auf die andere nicht da war? Wenn der Arbeitskollege nicht pünktlich zu Arbeit erschien, der Arzt nicht mehr praktizierte? Und von all dem, will man nichts gewusst haben? Es geht nicht darum, dass die Bevölkerung in den Städten der Pfalz und Badens nicht wissen konnte, was ihre jüdischen Nachbarn wirklich in Gurs erwartete, aber haben sie nicht gefragt, laut und öffentlich gefragt? Angst machte sich breit wie auch eine gewisse Trägheit des Herzens . Der Jud ist weg, seine Wohnung steht offen, also bedienen wir uns. Der Staat half da noch mit öffentlichen Versteigerungen nach. Alles, um Mitbürger aus dem kollektiven Bewusstsein zu löschen. Ich denke, dass man diese Frage wird nie schlüssig beantworten können.

Zum Schluss stellt sich die Frage, wie soll und kann man solche Gedenktage feiern. Vielleicht indem man nicht nur nach rückwärts schaut, sondern nach vorne, in unseren Alltag. Wachsamkeit gegenüber demokratiefeindlichen Tendenzen, keine Scheu, die Dinge beim Namen zu nennen. In den derzeitigen Zeiten der wirtschaftlichen Krise macht sich wieder ein Duckmäuserum breit und wieder werden Gruppen als Feindbild gesucht. Wir sprechen von sozialen Brennpunkten, meinen aber ein Wegschauen vor Problemen, die Angehörige anderer Kulturen mit der Integration haben. Die jüdischen Bürger in Ludwigshafen waren aber integriert, fielen nicht auf, trotzdem wurden sie aus der Mitte der Stadt, der Bevölkerung, herausgerissen und nach Gurs abtransportiert, in Viehwagons.

Es geht darum, dass die Trägheit des Herzens, das Wegschauen, die Angst nicht Teil unseres Alltags werden.

Darum sind Gedenktage wichtig, sie sollen Momente des Gedenkens, des Nachdenkens sein, sie sind dazu da, Luft zu holen, um weiter an der Demokratie zu arbeiten oder für sie zu streiten.

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Schoschana Maitek-Drzevitzky ist Oberstudienrätin in Ludwigshafen/Mannheim, Mitglied der Jüdischen Gemeinde Mannheim und des Leitungskreises des Gesprächskreises Juden-Christen in Ludwigshafen und Rhein-Pfalz Kreis -

November 2005

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